Die neue Krise der Städte -  Ernst Hubeli

Die neue Krise der Städte (eBook)

Zur Wohnungsfrage im 21. Jahrhundert

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
200 Seiten
Rotpunktverlag
978-3-85869-874-2 (ISBN)
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Das Wohnen ist heute in mehrfacher Hinsicht zum Problemfall geworden. Das veranschaulicht der Architekt und Stadtplaner Ernst Hubeli in dieser pointierten Streitschrift, die die Wohnungsfrage, schon von Friedrich Engels gestellt, für das 21. Jahrhundert neu verhandelt. Ein Problemfall ist das Wohnen in ästhetischer Hinsicht: Die Vielfalt unserer Lebensentwürfe passt längst nicht mehr in den Einheitsbrei von 3-Zimmer/Küche/Bad. Vor allem aber hat der Gebrauch beziehungsweise Verbrauch von Boden in den letzten zwanzig Jahren eine soziale und ökonomische Krise der Städte ausgelöst und deren Peripherien veröden lassen. In ganz Europa kauft das Großkapital Immobilien als Spekulationsobjekte auf. In Städten wie München oder Zürich, Stuttgart oder Berlin ist der Wohnungsmarkt zu einem Glücksspiel geworden, bei dem man froh sein kann, wenn am Ende ein Trostpreis winkt. Wien hat einiges besser, aber auch nicht alles richtig gemacht. Und in den USA hat der Traum vom Eigenheim auf Pump eine Schuldenkrise ausgelöst, die das globale Finanzsystem an den Kollaps geführt hat. Doch das Recht auf Wohnen ist ein Menschenrecht, für das es zu kämpfen gilt, denn es steht mehr auf dem Spiel als nur die eigenen vier Wände. In zehn griffigen Thesen beleuchtet Ernst Hubeli den Zusammenhang zwischen Wohnen und Gesellschaft, privatem und öffentlichem Raum, Urbanität und Demokratie und zeigt anhand des aktuellen Beispiels Berlin, wie eine Stadtgesellschaft ein Grundrecht auf eindrückliche Weise zurückfordern kann.

Ernst Hubeli, Architekt und Stadtplaner, war Leiter des Instituts für Städtebau an der TU Graz und Chefredakteur der Fachzeitschrift 'Werk'. Seit 1982 ist er Mitinhaber des Architekturbüros Herczog Hubeli in Zürich, das Forschungen und Publikationen zu Architektur und Städtebau verfasst hat. Diese bilden auch den theoretischen Hintergrund für zahlreiche Bauten, die das Büro realisiert hat.

Ernst Hubeli, Architekt und Stadtplaner, war Leiter des Instituts für Städtebau an der TU Graz und Chefredakteur der Fachzeitschrift "Werk". Seit 1982 ist er Mitinhaber des Architekturbüros Herczog Hubeli in Zürich, das Forschungen und Publikationen zu Architektur und Städtebau verfasst hat. Diese bilden auch den theoretischen Hintergrund für zahlreiche Bauten, die das Büro realisiert hat.

Das Wohnen spiegelt heute eine Gesellschaft, von der es sich längst abgelöst hat. Dafür gibt es zehn Belege.

1.
Es werden jene Wohnungen am meisten gebaut, welche die wenigsten Leute wünschen.


Die demografischen Umwälzungen der letzten fünfzig Jahre sind Ausdruck einer stillen Revolution im Alltagsleben. In den Städten sind die klassischen Kleinfamilienhaushalte auf 15 und weniger Prozent geschrumpft – zugunsten von Singles, Paaren, Alleinerziehenden, Wohngemeinschaften und vielem mehr. In den europäischen Agglomerationen wohnt noch ein Drittel bis die Hälfte der Menschen in kleinfamiliären Haushalten. Gerade Frauen sehen im Einfamilienhaus immer weniger das Ideal.1 Nicht nur haben sie sich von der Rolle der Hausfrau am Herd befreit; sie wollen auch dem Alltagszenario entrinnen, in einem Mutter-Kind-Ghetto unter dem Apfelbaum nochmals den neusten Paolo Coelho zu lesen. Und selbst die kleinfamiliären Haushalte haben sich gewandelt. Das Wohnen hat sich dezentralisiert. Die Bewohnerinnen und Bewohner tanzen aus der Reihe patriarchaler und hausmütterlicher Ordnung. Nun ist das »eigene Zimmer« der Wohnmittelpunkt, der ein weltweit vernetzter, privat-öffentlicher Innen-Außen-Raum ist.2

Wohnen – sofern davon im herkömmlichen Sinn noch die Rede sein kann – ist indifferent und kontingent: »etwas, was so, wie es ist, war, sein wird, auch anders möglich ist« (Niklas Luhmann). Aktuell unterscheiden Soziologen zwölf Typen von Haushalten,3 was eher untertrieben ist, da sich immer wieder neue und unbekannte Varianten bilden, insbesondere mit postpatriarchalen Perspektiven. Solche versprachen die jugendlichen Protagonisten der New Economy, die im Silicon Valley mit »flachen Hierarchien« und »kreativem Chaos« Weltkonzerne gründeten. Doch das »Ende der Väterherrschaft«, so die britische Journalistin Charlotte Higgins, findet bis anhin nicht in der Arbeitswelt statt, sondern in Familienstrukturen, deren Traditionen sich aufweichen: »In diesem Feld bewegt sich eine aufstrebende junge Frauengeneration, die Unterdrückung nicht verinnerlicht hat und versucht, Kinder außerhalb kleinfamiliärer Zwänge und Hierarchien aufziehen.«4

Es gibt demografische, emanzipatorische und lebensstilabhängige Motive für die stillen Revolutionen im Alltäglichen. Alle verlangen nach einer lebenspraktischen Anpassung, im Besonderen der Wohnformen. Doch sie findet nicht statt. Fast alles hat sich verändert, nur die »moderne Wohnung« nicht. Sie orientiert sich bis heute am fordistischen Modell der 1950er-Jahre, als die serielle Massenproduktion für den kleinfamiliären Massenkonsum angekurbelt wurde, der wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand für alle versprach: ein Kühlschrank, ein Fernseher, ein Volkswagen, zwei Kinder und ein Blick ins Grüne. Dazu passte das Schema Wohn-/Ess-/Schlaf-/Kinderzimmer/Küche/Bad. Ob klein- oder großflächig – das Schema gilt auch heute als vermeintlich »bewährtes« Wohnmodell und wird en masse produziert, obwohl es ein Minderheitsprogramm und selbst für Kleinfamilien museal geworden ist.

Wie ist es möglich, am realen Bedarf und an den Bedürfnissen vorbeizuproduzieren? Eine solche Ignoranz wäre in anderen Branchen ruinös – wieso nicht in der Wohnbauindustrie? Die Frage ist so alt wie die Ursache des Problems: Das chronische Unterangebot befreit den freien Wohnungsmarkt von der Notwendigkeit, sein Angebot der Nachfrage anzupassen. Ein Produktfehler ist an einem Smartphone folgenschwer, an einer Wohnung folgenlos. Eigentlich ist es egal, was für eine Wohnung auf den Markt geworfen wird. Wo Knappheit herrscht, ist alles begehrt.

Der freie Markt widerspricht seinem Versprechen und schafft Unfreiheit. Und selbst die Ausnahme ist eine Täuschung, denn was als Glücksfall erscheint, erweist sich als Notfall: Dort, wo Wohnungen leer stehen, will niemand wohnen, oder nur aus Not. Wahlfreiheit herrscht nur dort, wo Elendsquartiere und andere Unzumutbarkeiten entstehen oder bereits entstanden sind.5

Monetäre Potenz gilt als Voraussetzung für Wahlfreiheit auf dem Wohnungsmarkt. Doch auch hier gibt es Grenzen – besonders wenn es sich um Luxuswohnungen handelt. Sie liegen im oder nahe zum Stadtzentrum und dienen vorwiegend als »sichere Anlage«. Für deren Verwertung sind die Bodenpreissteigerungen um ein Vielfaches relevanter als die Mieteinnahmen. Die mittelfristig zu erwartende Performance ist in den Verkaufs- oder Mietpreisen bereits enthalten, was selbst das Budget wohlhabender Klientel sprengen kann. Citynahe Luxuswohnungen sind deshalb oft über Jahre unbewohnt und warten auf ihre Wertsteigerung. So geistern mitten in den Städten lichterlose Phantomhäuser, die im Abendhimmel verschwinden und den umnachteten Markt symbolisieren.6

Neben dem chronischen Unterangebot gibt es andere Gründe, wieso die Wohnbauindustrie am volkswirtschaftlichen Bedarf vorbeiproduzieren kann. Während praktisch alle anderen Waren von Konsum- beziehungsweise Verbraucherschutzstiftungen auf Mängel und Unterschiede untersucht und bewertet werden, gibt es keine Wohnungstests. Ein Vergleich unter Gleichen ergibt auch keinen Sinn. Das bedeutet nicht, dass alle Wohnungen gleich aussehen und keine Waren sind. Im Gegenteil. Sie werden produziert und gehandelt wie Waren und darüber hinaus als solche banalisiert – als das immer Gleiche, das den Gebrauch vorschreibt und zugleich einschränkt und zu teuer ist.

Mangelnde Wahl- und Vergleichsmöglichkeiten erzeugen eine kognitiv-ästhetische Blockade: Einengungen, Armseligkeiten und lebenspraktische Mängel scheinen uns selbstverständlich. Gelegenheiten, das vereinheitlichte, durchschnittliche Angebot zu individualisieren, sind selten, da sie auf erhebliche Hindernisse stoßen. Hausordnungen verbieten jegliche Veränderungen und Eingriffe, sofern solche im funktional fixierten Raumschema überhaupt möglich sind.

Sobald jedoch unverhofft Spielräume für eine Aneignung jenseits der Bevormundung entstehen, wenn zum Beispiel ein bevorstehender Abbruch eine Zwischennutzung erlaubt, werden Wohnungen ad hoc mehr oder weniger radikal umgebaut oder umfunktioniert.7 Wer sich einmal mit einer solchen Erfahrung kurieren konnte, erfreut sich am Aha-Erlebnis und neigt dazu, in der klassischen Massenwohnung einen Notfall und in der Schrott-Ästhetik à la Mad Max einen Glücksfall zu sehen.

Die gegenwärtige Wohnbauproduktion hat ihr eigenes Paradox: Räume folgen Funktionen, die die Bewohnerinnen und Bewohner nicht befolgen (wenn sie die Möglichkeit dazu haben). Die Wohnbauindustrie kümmert sich nicht um Menschenbilder, sondern sie geht davon aus, dass wir sklavisch-mechanisch nachvollziehen, was ein Plan vorgibt. So folgt auf ein eindimensionales Menschenbild dessen architektonische Banalisierung. In Wirklichkeit stehen uns Lust und Launen näher als Zwecke. Das architektonische Subjekt ist nicht der modern-rationale, sondern der reflexiv-labile Mensch. Er sucht Räume mit wechselnden Eigenschaften, um sich selbst zu begegnen, was nicht Zellen und Korridore leisten können, sondern Räume mit Dazwischen-Raum (siehe dazu das Kapitel Aneignung).

2.
Die Wohnungsnot ist nicht ungewollt. Sie gehört zum Geschäftsmodell, das sich mit dem globalisierten Boden- und Immobilienbusiness ökonomisch und politisch radikalisiert hat.


Für die chronische Wohnungsnot – egal, ob sie sich als Unterangebot oder als hochpreisig manifestiert – gibt es eine quasi betriebsökonomische Erklärung: Die Immobilie verlangt eine Großinvestition, die ein hohes Risiko birgt. Werden Immobilien nicht gebraucht oder schlecht vermietet, sind ihre Besitzer ruiniert. Der Glaube an diese Bedrohung wird marktpolitisch abgesegnet. Das geizige Angebot – beziehungsweise das Unterangebot – sei »systemisch« begründet. Wohnungsnöte seien demzufolge unvermeidbar, weil sie Immobilienbesitz vor dem Ruin schützten.

Mit dieser Rechtfertigung wird das Geschäftsmodell verschleiert und werden die wirklichen Ursachen der Not ausgeblendet. Zum einen existiert die Immobilie nie für sich allein, sondern immer nur mit dem Boden, auf dem sie steht. In städtischen Lagen beträgt der Anteil des Bodenpreises am Immobilienpreis ein Drittel bis die Hälfte, an zentralen Lagen auch deutlich mehr. Dabei gilt: Je knapper das Angebot an Wohnungen, desto höher ist der Bodenanteil an der Miete.

Zum anderen leben wir nicht mehr in der Gründerzeit, als Besitzer ihr Haus selbst bewohnten und selbst verwalteten. Heute dominieren Immobilienkonzerne und Immobilienfonds, die mit Investitionsstrategien von Aktiengesellschaften sich der Städte bemächtigen. Dazu gehören Highrisk- Immobilien, eine radikale Ökonomisierung und ein »zwanghaftes Wachstum« (Hans Christoph Binswanger), dem die Vermietungspraxis und die Vermarktung unterworfen werden. Damit wird das spekulative Risiko zwar erhöht; zugleich wird es abgefedert, da die Wertsteigerung des Bodens zuverlässiger ist als die der...

Erscheint lt. Verlag 24.2.2020
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Architektur • Berlin • Boden • Bodenreform • Frankfurt am Main • Gemeinnütziger Wohungsbau • Genossenschaft • Gerechtigkeit • Grundstückspreise • Grund und Boden • Immobilienspekulation • Mieten • Mietendeckel • Mietpreisbremse • München • Soziale Frage • Soziale Gerechtigkeit • Spekulation • Stadtentwicklung • Stadtplanung • Urbanität • Wien • Wohnen • Wohnraum • Wohnungsnot • Zürich
ISBN-10 3-85869-874-1 / 3858698741
ISBN-13 978-3-85869-874-2 / 9783858698742
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