Namen statt Nummern -  Cristina Cattaneo

Namen statt Nummern (eBook)

Auf der Suche nach den Opfern des Mittelmeers
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
220 Seiten
Rotpunktverlag
978-3-85869-875-9 (ISBN)
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Der 3. Oktober 2013 hat die jüngere europäische ­Geschichte verändert. Und das Leben von Cristina Cattaneo. An jenem Tag sank ein hoffnungslos überfülltes Boot mit über fünfhundert Menschen an Bord vor der Küste Lampedusas. Cattaneo, Forensikerin aus Mailand, die normalerweise bei der Aufklärung von Kriminalfällen behilflich ist, hat sich seitdem der Identifizierung der Opfer verschrieben. Kurz zuvor war ihr Vater verstorben, und sie, die sich jahrzehntelang beruflich mit dem Tod beschäftigt hatte, spürte plötzlich am eigenen Leib, wie sich der Verlust eines geliebten Menschen anfühlt. Sie konnte ihren Vater bestatten - doch die Angehörigen derer, die im Mittel­meer ertranken, können das nicht. Ihre Söhne, Mütter, Geschwister starben ohne Namen. Cattaneo wurde klar: Eine Gesellschaft wird nicht nur daran gemessen, wie sie sich um die Lebenden kümmert. Sondern auch um die Toten. Seit jenem Tag analysiert sie in ihrem Labor DNA, begutachtet verwaschene Dokumente, Knochensplitter, Zahnbürsten, Kinderzeichnungen. Ein Name allein mache aus einer bloßen Statistik bereits einen Menschen, sagt sie, es sei das einzige Mittel gegen die Gleichgültigkeit. Ihr Buch ist die aufrüttelnde Schilderung eines hartnäckigen, unerschrockenen Einsatzes für die Menschenwürde.

Cristina Cattaneo ist Professorin für ­forensische Medizin an der Universität Mailand und Leiterin des Instituts Laba­nof, das federführend ist bei der Identifizierung der Opfer der großen Schiffs­unglücke vor Lampedusa von 2013 und 2015. Es ist auch ihrer Hartnäckigkeit zu verdanken, dass dieses Projekt seitens der italienischen Behörden und in Kooperation mit dem IKRK ins Rollen kam. In den fünf Jahren ihrer Arbeit ist es ihr bislang gelungen, 37 Personen zu identifizieren. Ein Dokumentarfilm über Cristina Cattaneo kommt Ende 2020 in die Kinos.

Cristina Cattaneo ist Professorin für ­forensische Medizin an der Universität Mailand und Leiterin des Instituts Laba­nof, das federführend ist bei der Identifizierung der Opfer der großen Schiffs­unglücke vor Lampedusa von 2013 und 2015. Es ist auch ihrer Hartnäckigkeit zu verdanken, dass dieses Projekt seitens der italienischen Behörden und in Kooperation mit dem IKRK ins Rollen kam. In den fünf Jahren ihrer Arbeit ist es ihr bislang gelungen, 37 Personen zu identifizieren. Ein Dokumentarfilm über Cristina Cattaneo kommt Ende 2020 in die Kinos.

Es bedeutet alles


Vorwort von Sacha Batthyany


Ihren Namen hörte ich zum ersten Mal auf einem Schiff ein paar Seemeilen vor der Küste Lampedusas. »Cristina Cattaneo gibt uns unsere Würde zurück«, sagten mir ein paar Eritreer, die ich tags zuvor kennengelernt hatte. »Sie setzt sich für uns ein.« Es war ein sonniger Nachmittag Anfang Oktober 2018, leichter Wellengang. Ich war als Journalist vor Ort, um über das Schiffsunglück zu berichten, das sich hier fünf Jahre zuvor ereignet hatte und das Europa verändern sollte.

Am 3. Oktober 2013 kenterte ein alter Fischkutter achthundert Meter vor der italienischen Insel Lampedusa. Er war in der libyschen Hafenstadt Misrata losgefahren und schon seit zwei Tagen auf See, als der Motor ausfiel. Mehr als fünfhundert Männer, Frauen und Kinder waren dem Wind und der Strömung ausgesetzt, die ersten Lichter auf der Insel waren bereits erkennbar, da zündete der Kapitän ein Leintuch an, um Hilfe zu holen. Er schwang es hin und her, ein Fetzen verfing sich im Maschinenraum, das Feuer geriet außer Kontrolle. Einige sprangen ins Wasser, andere waren unter Deck eingesperrt. Fischer, die zufällig in der Nähe waren, zogen 155 Menschen aus dem Wasser, 366 Menschen ertranken.

Fünf Jahre danach legte der Bürgermeister Lampedusas einen Kranz ins Wasser, an der Stelle, an der er das Unglück vermutete. Ich stand an der Reling und sah zu, wie Angehörige der Opfer sich an den Händen hielten, sie beteten und sangen und weinten, bis wir eine Stunde später wieder an Land gingen. Am Abend fanden Straßenumzüge statt, Teelichter wurden angezündet, Gottesdienste gehalten. Und in den Gesprächen mit den Menschen, die auf Lampedusa im Gedenken an die Toten zusammenkamen, fiel immer wieder dieser eine Name: Cristina Cattaneo.

Schon vor dem Schiffsunglück vom 3. Oktober 2013 ertranken Flüchtlinge im Mittelmeer. Nie zuvor aber sah man so viele Särge auf einmal. Die Fernsehbilder über die Tragödie brachte die Flüchtlingskrise in die beheizten Stuben der Menschen Europas, denen es bis dahin so gut gelungen war, auszublenden, was draußen auf dem Wasser täglich passiert. Wegsehen war nun aber nicht mehr möglich.

Mit Cristina Cattaneo in Kontakt zu treten, der Forensikerin aus Mailand, war nicht ganz einfach, sie sei »wahnsinnig beschäftigt«, so schrieb sie es in einer E-Mail, und oft unterwegs. Ihre Assistentin sagte, sie möge es nicht, zu weit im Voraus zu planen, es könne ja immer ein Notfall eintreten, für den sie alles stehen und liegen lassen müsse. Und mit Notfällen kennt sie sich aus.

Cristina Cattaneo hat in England und Kanada studiert, hat sich früh einen Namen gemacht für die ganz schwierigen Fälle, Kindsmissbrauch, Vergewaltigungen, Folter, Mord. Sie untersucht seit Jahren anonyme Leichen, die man nicht zuordnen kann und die, falls die Suche nach ihrer Identität scheitert, namenlos begraben werden. »Jeder Fall erzählt eine andere Geschichte«, sagt sie, als wir uns in Mailand treffen, Wochen nachdem mir die Eritreer auf Lampedusa zum ersten Mal von ihr erzählt haben. »All diese Geschichten lagerten sich in mir ab wie Sedimente.« Cristina Cattaneo hat wache Augen, blonde Locken, auf ihrem Schreibtisch stapeln sich Dokumente und Bücher zu Türmen.

Das Schiffsunglück vom Oktober 2013 hat auch Cristina Cattaneo verändert, wie sie selbst sagt. Plötzlich habe sich in ihr eine Frage geformt, die sie seitdem nicht loslässt: Wie kann es sein, fragte sie sich, als sie von der Tragödie hörte, dass bei jedem Erdbeben, bei jedem Flugzeugunglück alles dafür getan wird, die Opfer zu identifizieren. Da reisen Spezialisten an und nehmen DNA-Proben, da werden Angehörige informiert und im Trauerprozess begleitet, weil es sich so gehört. Selbst in blutigen Kriegen wird oftmals ein respektvoller Umgang mit den Leichen gewahrt. Nur für die Toten im Meer scheint sich niemand zu interessieren.

Sie sterben anonym, ohne Namen, ohne Geschichte, als hätten sie nie gelebt. Sie sinken auf den Meeresboden, verkommen zu bloßen Nummern und Material für kalte Statistiken, die in Broschüren landen, die niemand lesen will: Chiffren einer der großen Tragödien unserer Zeit.

Viel ist geschehen seit dem Schiffsunglück 2013. Erst rief die italienische Regierung eine humanitäre Hilfsaktion ins Leben, die »Operation Mare Nostrum«, die das Leben Hunderttausender rettete, die auf der Reise sonst ertrunken wären. Doch der politische Wind drehte schnell. Aus »Mare Nostrum« wurde »Triton«, eine reine Grenzsicherung, weil man ja keine Anreize mehr schaffen wolle, wie es hieß, damit sich nicht noch mehr Menschen auf den Weg übers Meer machten.

Länder wie Serbien, Österreich und Ungarn begannen 2015, ihre Grenzen mit Stacheldraht zu sichern, Politiker sprachen plötzlich von »muslimischen Invasoren«, Europa wurde zur Festung. In Deutschland wurde die Antimigrationspartei AfD in manchen Regionen führende Kraft. In Italien wurde Seenotrettern, die einst als Helden gefeiert wurden, die Einfahrt in die Häfen verboten, und Matteo Salvini, der damalige Innenminister, sprach von Flüchtlingen nur noch als »Menschenfleisch«. Der Tod im Mittelmeer wird neuerdings in Kauf genommen.

Umso essenzieller ist Cattaneos Arbeit. »Eine Gesellschaft wird nicht nur daran gemessen, wie sie sich um die Lebenden kümmert. Sondern auch, wie um die Toten.« Seit 2013 tut sie alles dafür, die Namen und Geschichten der Menschen ausfindig zu machen, die auf der Überfahrt starben. Die Forensikerin seziert Gewebe, analysiert Knochensplitter, begutachtet verwaschene Dokumente, die ans Ufer geschwemmt wurden, Zahnbürsten, Kinderzeichnungen. Sie analysiert und dokumentiert Fundgegenstände und vergleicht sie mit bereits existierenden Datenbanken – etwa vom Roten Kreuz. Sie macht Interviews mit Müttern und Vätern, die ihre Kinder auf der Überfahrt verloren haben, um ihre Angaben mit bereits gesammelten Daten zu vergleichen.

Denn auch das geht vergessen und wird verdrängt bei den täglichen Schreckensmeldungen von immer neuen Bootsunglücken, die im Fernsehen und in den Zeitungen kaum mehr erwähnt werden, weil sie so alltäglich sind. Jedes Mal, wenn ein Schlauchboot kentert, sind Familien und Freunde in Panik. Väter und Mütter, oft Tausende von Kilometern vom Unglücksort entfernt, suchen nach Informationen über ihre Kinder, Brüder suchen nach ihren Geschwistern, wochenlang, monatelang, jahrelang.

Viele Angehörige können nicht Abschied nehmen, weil sie nicht sicher sind, ob ihre Vermissten wirklich tot sind, sagte mir eine Mitarbeiterin des IKRK. Sie können nicht trauern, weil sie sich an jede noch so kleine Chance klammern, wie Schiffbrüchige an Treibholz, dass ihre Töchter oder Söhne sich eines Tages doch noch melden werden. Deshalb besteht Cattaneos Verdienst nicht nur darin, den Toten eine Würde zu geben. Sie hilft vor allem auch den Lebenden.

Cattaneos Arbeit ist eine leise Arbeit, fern der großen Bühnen, auf denen Politiker Reden halten, um sich für die nächsten Wahlen zu profilieren. Durch ihr Mikroskop blickt sie auf eine menschliche Tragödie, die sich vor unserer Haustür abspielt – in einem Europa, das doch so stolz ist auf seine Erinnerungskultur, jedoch am liebsten alles vergäße, was das tägliche Sterben im Mittelmeer angeht.

Mit der Akribie der Wissenschaftlerin stemmt sie sich gegen die herrschenden politischen Kräfte, gegen das Verdrängen und die wohl niederträchtigste aller menschlichen Geißeln: die Gleichgültigkeit.

Zuletzt sah ich Cristina Cattaneo an einem regnerischen Dezembertag 2018 im Genfer Universitätsspital, in einem kleinen Büro im achten Stock. Sie befragte dort ein syrisches Ehepaar, das beim Schiffsunglück im Oktober 2013 seine Töchter verloren hat und seitdem auf Informationen wartet. Die Eltern haben nie erfahren, was im letzten Moment im Leben ihrer Kinder geschah.

Cattaneo erkundigt sich nach allen erdenklichen Details: Alter, Knochenbrüche, Körperstruktur, Zahnstellung. Sie geht dabei vor, wie sie das immer tut. Sie nimmt sich Zeit, Taschentücher stehen bereit. Es ist ein schmerzhafter Prozess für alle Beteiligten, weil die Eltern sich nicht an körperliche Details ihrer Kinder erinnern wollen, die psychische Qual ist zu groß. Die Forensiker aber sind auf die genaue Beschreibung angewiesen. Gemeinsam schauen sie sich Fotos der Leichen an. Man zeigt ihnen ein paar Fundgegenstände, doch die beiden schütteln den Kopf.

Es war das erste Mal, dass Cattaneo solche Befragungen außerhalb Italiens durchführte. Sie versprach sich neue Erkenntnisse, neue Spuren. In den mittlerweile über sechs Jahren seit der Schiffstragödie 2013 hat Cristina Cattaneo die Namen von 38 Menschen ausfindig machen können, die in jenem Oktober bei der Überfahrt starben. In 98 Fällen sei sie nahe dran, sagte sie damals. »38 Familien, die wir über den Tod ihrer Liebsten informieren...

Erscheint lt. Verlag 25.3.2020
Übersetzer Barbara Sauser
Vorwort Sacha Batthyani
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Afrika • Carola Rackete • Cristina Cattaneo • DNA • Eritrea • Ertrinken • Europäische Union • Flüchtlinge • Flüchtlingspolitik • Forensik • Frontex • Gerichsmedizin • Grenze • Grenzregime • Identifizierung • Identität • IKRK • Italien • Lampedusa • Mare Nostrum • Matteo Salvini • Migration • Migrationspolitik • Mittelmeer • Naher Osten • Rotes Kreuz • Schlepper • Schleuser • Seenotrettung • Syrien • Türkei
ISBN-10 3-85869-875-X / 385869875X
ISBN-13 978-3-85869-875-9 / 9783858698759
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