Power (eBook)
250 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-8498-8 (ISBN)
VERENA GÜNTNER, 1978 in Ulm geboren, spielte nach ihrem Schauspielstudium viele Jahre am Theater. Ihr Debüt >Es bringen< erschien 2014. Ihr zweiter Roman >Power< wurde 2020 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und 2021 mit dem Schubart-Literaturförderpreis bedacht. Als Teil des feministischen Literaturkollektivs LIQUID CENTER gab Verena Güntner gemeinsam mit Elisabeth R. Hager und Julia Wolf 2024 den Kollektivroman >Wir kommen< heraus. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.?
ZWEI
Im Haus von der Hitschke sind alle Lichter an. Obwohl es noch gar nicht ganz dunkel ist, sind alle Lichter an.
»Hitschke, warum hast du denn alle Lichter an?«, fragt Kerze, als sie die Tür öffnet.
»Weil ich Angst habe im Dunkeln, weil ich Angst habe, wenn Power nicht da ist und das Haus so leer.«
»Verstehe.«
»Hast du ihn denn gefunden?«
Kerze zieht die Augenbrauen hoch und beugt sich zur Hitschke hinüber.
»Jetzt denk mal nach, denk mal ganz scharf nach«, sagt sie, »dann kommst du sicher drauf.«
Die Hitschke überlegt, und die Haut auf ihrer Stirn schiebt sich zu winzigen schmalen Röllchen zusammen. Hinter ihr im Flur hängt ordentlich ein Mantel an der Garderobe, ein Anorak und ein Regenschirm, daneben ein großes gerahmtes Bild von Power. Er trägt sein selbst gestricktes Jäckchen und hat die Vorderpfoten auf einen kleinen rosa Plastikhocker gestellt. Wie immer sieht er aus, als würde er ein bisschen lächeln, und generell sieht er auf dem Foto gar nicht aus wie ein Hund, eher wie ein Mensch, und, denkt Kerze, das ist er ja auch irgendwie für die Hitschke, das ist der, den sie hat im Leben, und was zählt es, ob er ein Außerirdischer ist oder ein Terrier.
»Du hast ihn nicht gefunden«, sagt die Hitschke matt und zieht Rotz die Nase hoch. »Du hast ihn nicht gefunden, denn …« Ihr Unterkiefer zittert, und weil Kerze sie streng ansieht, schließt sie kurz die Augen, damit das Zittern aufhört. »… wenn du ihn gefunden hättest, dann hättest du ihn jetzt dabei.«
Kerze nickt langsam, sie lächelt milde. »So ist es, Hitschke, so ist es. Gut, dass du noch mal nachgedacht hast.«
Die Hitschke faltet die Hände, wirft ihren Kopf in den Nacken und schaut in den Abendhimmel.
»Gott, lieber Gott«, sagt sie, »bitte gib mir meinen Power zurück.«
Kerze ruft: »Gott nicht, aber ich werd ihn dir zurückgeben. Merk dir das! Du kannst mich auch Gott nennen, wenn dir das hilft. Also wenn das hilft, werd ich der Gott sein, der dir Power zurückbringt.« Sie fixiert die Hitschke. »Du kannst dich ganz auf mich verlassen.«
Die Hitschke nickt stumm.
»Das weißt du doch, oder?«
Nicken.
»Und warum weißt du das?«
»Weil du«, beginnt die Hitschke den Satz, dann sprechen beide im Chor weiter, »immer deine Versprechen hältst.«
»Sehr richtig«, sagt Kerze. »Und jetzt gibst du mir noch das Foto da hinten.«
Die Hitschke dreht sich um. »Das von Power?«
Kerze runzelt die Stirn. »Siehst du ein anderes Foto als das von Power?«
»Nein«, schnieft die Hitschke, und ihre Augen füllen sich schon wieder mit Tränen.
»Und selbst wenn da ein anderes Foto wäre, sagen wir eins von dir, warum sollte ich das haben wollen? Erinnere dich, worum es hier geht, wer hier verschwunden und wer hier nicht verschwunden ist.«
Die Hitschke lässt schuldbewusst den Kopf hängen.
»Ich weiß und ziehe das auch ab, was dein Insgesamt-Verhalten angeht, dass du heute ganz schön durch den Wind bist, aber mitarbeiten, gedanklich mitarbeiten, das musst du schon ein bisschen, wenn du Power wiederhaben willst.«
Vorsichtig nimmt die Hitschke das Bild von der Wand. Zärtlich streichelt sie über das Glas, bevor sie, den Kopf leicht abgewendet, das Bild in Kerzes Hände legt. Kerze will gehen, aber die Hitschke ruft: »Halt!«, und läuft in die Küche. Der Mantel, der Anorak, der Regenschirm haben alle die gleiche Farbe: Beige.
Sie kommt zurück.
»Hand auf«, sagt sie, und Kerze tut es, streckt ihr eine entgegen. Schokorosinen rieseln hinein, leicht geschmolzene Schokorosinen, denn die Hitschke hat immer warme, leicht schwitzige Hände.
Kerze bedankt sich, bleibt aber noch kurz stehen. »Hitschke«, fragt sie, »was ist deine Lieblingsfarbe?«
»Rot«, antwortet die und leckt die Finger der Hand ab, in der sie die Schokorosinen hatte.
»Und was soll dann das?« Kerze zeigt auf die Garderobe.
Die Hitschke zuckt die Schultern, und Kerze schüttelt den Kopf.
»Denk mal drüber nach: Lass Farbe in dein Leben. Bis morgen.« Kerze spricht jetzt etwas leiser. »Ich komme, sobald ich Power gefunden habe. Wenn ich ihn nicht finde, komme ich am Abend und sage dir, dass ich ihn noch nicht gefunden habe.«
Die Hitschke nickt. »Danke«, ruft sie ihr hinterher.
An der nächsten Ecke schaut sich Kerze um. Die Hitschke steht am Küchenfenster und sieht ihr nach. Kerze schaut so lange, bis sie aus der Küche verschwindet, das Licht löscht sie nicht.
In der Korngasse bleibt Kerze vor einem großen Gebüsch stehen und öffnet die Hand. Die Schokolade ist jetzt ganz geschmolzen, und sie nimmt die Rosinen und klebt sie an die dünnen Zweige des Gebüschs, eine nach der anderen. Sie hebt den Blick, sucht den Abendhimmel nach Vögeln ab. Als sie in der Ferne einen Schwarm Schwalben erkennt, formt sie die Hände um ihren Mund zu einem Trichter und ruft: »Sind für euch!« Dann bückt sie sich, wischt die Schokolade ins Gras und flüstert den Regenwürmern zu, die durch tiefer liegende Erdschichten kriechen: »Und das für euch.«
Zu Hause liegt Kerzes Mutter auf dem Sofa. Sie schaut die Wiederholung einer Show mit Stefan Raab und lacht.
»Warum lachst du über den?« Kerze setzt sich vor dem Sofa auf den Boden.
»Weil er lustig ist.«
»Der ist nicht lustig, Mama.«
»Doch, für mich schon.«
»Du kannst nicht wissen, was lustig ist«, sagt Kerze und legt sich der Länge nach auf den Teppich vor den Fernseher.
»Was ist denn lustig?«
»Nichts. Das Leben ist eine sehr ernste Sache, und ich hoffe, dass du das im Blick hast, Mama.«
Sie schauen Stefan Raab zu Ende und sagen sich Gute Nacht.
In ihrem Zimmer öffnet Kerze das Fenster. Sie öffnet nachts immer das Fenster, egal, ob es schneit oder regnet, kalt ist oder stürmt. Sie macht das, weil sich sonst die Geister in ihrem Zimmer versammeln. An ihrem fünften Geburtstag sind sie das erste Mal aufgetaucht und kommen seitdem immer wieder. Sie tun Kerze nichts, stehen nur stumm um ihr Bett herum und schauen sie an. Aber Kerze kann nicht schlafen, wenn die Geister sie anschauen. Wenn sie wach sind, sie selbst aber schlafen soll. Und weil es nichts bringt, ihnen zu sagen, jetzt guckt halt mal woandershin, macht sie jeden Abend das Fenster auf und sie fliegen hinaus. Denn Kerze weiß: Geister mögen keinen Luftzug, weil ihnen das ihr Gespenstertuch durcheinanderbringt und sie in sich zusammenfallen, sie dann aussehen wie ganz normale Bettlaken, vor denen sich nichts und niemand fürchtet. Im Winter friert Kerze natürlich, wenn das Fenster offen steht, und am Anfang, im ersten Geisterjahr, hat sie immer Ärger deswegen mit Mama bekommen. Aber als die gemerkt hat, dass das Schimpfen nichts bringt, dass Kerze es trotzdem jeden Abend aufmacht, sobald sie aus der Tür ist, hat sie aufgegeben und eine besonders dicke Wolldecke gekauft, ohne weiter nachzufragen.
Kerze weiß nicht, was die Geister von ihr wollen. Sie haben es ihr all die Jahre nicht gesagt, obwohl sie oft gefragt hat. Seid ihr gute oder böse Geister?, war eine Frage und: Was wollt ihr denn von mir? Irgendwann hat sie damit aufgehört und sich an sie gewöhnt, hat sich an das Gefühl gewöhnt, nicht allein zu sein.
Als die Geister hinausgeflogen sind, holt Kerze Powers Foto hervor und entfernt es aus dem Bilderrahmen. Sie hebt ihr Kopfkissen an und schiebt es darunter, weil sie hofft, dass Power ihr im Traum sagt, wo er ist. Sie legt sich ins Bett, zieht die Decke bis unter ihr Kinn und betet.
»Lieber Keingott.
Ich schlafe jetzt, und morgen wache ich wieder auf.
Gute Nacht, Keingott.«
Aber sie schläft noch nicht gleich ein, denn sie muss an Power denken und daran, wie es ihm gerade wohl geht. Gestern Morgen war er noch da. Gestern Morgen hat die Hitschke seinen Fressnapf mit Hundefutter gefüllt, und er hat es aufgefressen und den Napf sauber geleckt, wie jeden Tag. Heute hat die Hitschke vor einem leeren Fressnapf gestanden, morgens, und abends auch noch mal. Dass Power weg ist, dass dieses Wegsein jetzt das Einzige ist, was noch da ist von ihm, wird Kerze nicht akzeptieren. Sie wird dagegen kämpfen. Sie wird tun, was notwendig ist, damit am Ende wieder alles wird, wie es immer war.
In dieser Nacht träumt sie nicht von Power, sie träumt von anderen Dingen, einem Schwarm Bienen unter anderem, der ihren Kopf umkreist wie eine lebendige Krone.
In der Schule bekommt Kerze am nächsten Vormittag nichts mit, so sehr ist sie mit ihren Gedanken bei Power. In der letzten Stunde, in Erdkunde, löst sie fein säuberlich die vollgeschriebenen Seiten aus ihrem Heft. Langsam macht sie das, damit das Geräusch, das die Blätter beim Herausreißen erzeugen, nicht so laut ist und die Lehrerin nichts merkt. Dann legt sie das Quadrat, das sie aus der letzten, nur halb beschriebenen Seite herausgetrennt hat, vorne auf das Deckblatt des Hefts, zieht ihren Klebestift aus dem Mäppchen, fährt einmal damit an den Kanten entlang und dreht es um. Mit der flachen Hand streicht sie sorgfältig darüber, streicht die Erhebungen, die dabei entstehen, zu den Seiten aus, bis alles ganz glatt ist. Sie zieht das Mäppchen zu sich heran und schaut ernst hinein. Sie überlegt, sie grübelt über die Farbwahl und entscheidet sich schließlich für Schwarz. Hoch konzentriert schreibt sie in Großbuchstaben AUFTRAG, macht einen Doppelpunkt und notiert POWER SUCHEN UND FINDEN dahinter. Sie drückt den Stift fest aufs Papier, so fest, dass an einer Stelle ein kleines Loch entsteht, worüber sie sich ärgert. Aber sie hat keine Zeit sich zu ärgern, die Stunde ist bald um, und als Nächstes entscheidet sie sich für Rot...
Erscheint lt. Verlag | 11.2.2020 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Aufbegehren • außergewöhnlicher Roman • Coming of Age • Cover mit rehen • Dorf deutschland • Dorfgemeinschaft • Dystopie • Emanzipation • Erwachsenwerden • Es bringen • Familienroman • Freiheit • Geister • Geisteraustreibung • Güntner neuer roman • Heimatroman • Hund • Hund gesucht • hund vermisst • kinder im wald • Kinder wie hunde • Leben im Wald • leben in der natur • leere im leben • Leipziger Buchpreis • Märchen • Menschen verschwinden • Natur • Naturverbundenheit • neuer heimatroman • neuerscheinung 2020 • origineller roman • Power • power buch • power leipzig • Preis der Leipziger Buchmesse 2020 • Radikalisierung • rattenfänger modern • rehcover • Roman verschwundener hund • Rudel • Schauspielerin • Shortlist Buchpreis Leipzig • sich befreien • suche nach gemeinschaft • Suche nach Orientierung • suchen und verschwinden • Sündenbock • Trauer überwinden • Verschwinden |
ISBN-10 | 3-8321-8498-8 / 3832184988 |
ISBN-13 | 978-3-8321-8498-8 / 9783832184988 |
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