Taubenleben (eBook)
224 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-1996-1 (ISBN)
'Wie kaum jemand anderes fängt Paulina Czienskowski das Lebensgefühl der Generation Y zwischen Anxiety, Sinnsuche, vermeintlicher Liebe als Ersatzreligion und der ständigen Beschäftigung mit sich selbst ein.' Vogue Als Lois nach einem One-Night-Stand auf das Ergebnis eines Bluttests wartet, entgleitet ihr ein Leben, das plötzlich nicht mehr tragfähig erscheint: Sie rüttelt an ihren Festen, hinterfragt bestehende Strukturen, zweifelt und sucht die Auseinandersetzung mit der abweisenden Mutter, die über den frühen Tod des Vaters nie hat sprechen wollen. Zwischen Zartgefühl und Ekstase, Handeln und Denken, Einsamkeit und Nähe erzählt Paulina Czienskowski von einer Protagonistin, die mit unsicherem Gang und großer Sensibilität nach dem eigenen Lebensweg sucht. 'Hab geschlungen, verstanden, geheult, bin jeden Schritt mitgegangen. Mein erster Binge-Read.' Jasna Fritzi Bauer 'Wir glauben, die Welt ist gesund und wir sind krank. Dieses Buch bescheinigt uns das Gegenteil.' Helene Hegemann
Paulina Czienskowski lebt und arbeitet in Berlin, wo sie geboren und aufgewachsen ist. Sie veröffentlicht u. a. Texte in der Zeit. 2018 erschien der Erzählband »Manifest gegen die emotionale Verkümmerung« im Korbinian Verlag, 2020 dann ihr Debütroman »Taubenleben« bei Blumenbar, der auf der Shortlist für den EU-Literaturpreis stand. Es folgten Hörspiele für Deutschlandfunk Kultur und Texte für die Theaterbühne. »Dem Mond geht es gut« ist ihr zweiter Roman bei Blumenbar.
Ein Auto rast an mir vorbei, hupt hysterisch. Ich bin versehentlich bei Rot über die Straße gelaufen. Meine Scheinrealität, die ich mir auf dem Heimweg in meinem Kopf zusammenbaue, saugt mich auf. Das Hupen hat mich zurückgeholt. Ich schaue in müde Gesichter, versuche mir vorzustellen, mit welchen Problemen all die Menschen sich gerade herumschlagen. Und wie viel Gemeinsames wir alle wohl miteinander haben. Liebeskummer. Geldsorgen. Hunger. Kater. Streit. Ist es nicht verrückt, dass jeder immerzu über irgendetwas im Leben nachdenkt, irgendetwas fühlt, genau hier und jetzt? Die Körper auf den Straßen funktionieren, irgendwie, die meisten können sich ganz normal fortbewegen und fallen nicht großartig auf. Was aber in ihren Köpfen passiert, an was sie denken, kann man von außen höchstens erahnen. Ich brauche noch Toilettenpapier. Verdammt, ich bin schon wieder erkältet. Diese dreckigen Schulden! Ob Baldrian auch gegen Stress hilft? All das.
Vor dem U-Bahnhof schreibe ich Mirabel, dass ich »es« gemacht habe.
Sie: endlich
Ich: glaubst du jetzt doch dran?!
Sie: nein, Quatsch – alles wird gut sein, das sag ich doch schon die ganze Zeit …
Ich: hm …
Sie: haha, hör mal auf! Wieso solltest du denn bitte Aids haben??? Beruhig dich mal
Ich: Gegenfrage: wieso nicht?
Sie: jetzt hör auf!
Mirabel sagte mir einmal, dass ich oft klinge, als würde ich mich nach etwas Endgültigem sehnen. Das stimmt so nicht. Aber es erleichtert mich, dass jeden von uns zu einem Zeitpunkt ein Ende einholen wird. Es verbindet uns allesamt miteinander. Den Gedanken mag ich. Eigentlich war ich deshalb auch immer furchtlos und hatte keine Angst vor dem Tod. Weil er sagt, dass man das, was passiert, nur bedingt in der Hand hat. Der Tod erlaubt einem, sich aus der Verantwortung zu nehmen. Sonst muss man das ja jeden Tag, immerzu, Verantwortung übernehmen, sich entscheiden. Wie viel Kaffeepulver oder welche Kassenschlange. Diese Selbstbestimmtheit ist anstrengend.
Mirabel sagt auch, ich sei ein Hypochonder aus Langeweile. Vielleicht hat sie recht. Zumindest bin ich Dramatikerin und übertreibe gerne. Aber vielleicht ist es diesmal wirklich anders. Was, wenn der Brief auffällig dick ist und der Anruf in vier Tagen kommt – was dann? Ich denke an die Taube, aber davon erzähle ich ihr besser nichts. Eigentlich sagen wir uns immer alles. Ich ihr manches etwas verspätet. Das enttäuscht sie jedes Mal. Manchmal aber muss das sein. Sie hat etwas an sich, das mich an meine Mutter erinnert. Dann, wenn sie mich bevormundet, mir erklären will, wie ich mich zu fühlen habe. Für sie beide ist alles immer logisch. Für alles haben sie eine Erklärung, die so simpel klingt, dass auch ich mich in meinem Drama nicht mehr ernst nehmen kann. Als hätten meine Gefühle keine Berechtigung. Manchmal verdreht Mirabel sogar die Augen, wenn ich etwas über mich erzähle, winkt ab, mimt die Unbeeindruckte. Ab und zu meide ich sie deshalb.
Ich laufe und laufe. Nur nicht anhalten. Die stete Bewegung vertreibt meine Grübelei. Ich nehme die Treppen hinunter zur U-Bahn. Ein Windstoß auf halbem Weg. Gerade fährt die Bahn ein. Es riecht staubig, trocken, nach kühlem Beton, der noch nie von Sonnenstrahlen erwärmt und von Regengüssen nass wurde. Dieser ganz eigene Geruch hier unter der Erde wird mich lebenslang ans Leben erinnern.
Es ist laut im Abteil. Die versprengten Tonfetzen, die auf mich einprasseln, wühlen mich normalerweise auf. Gerade aber dominiert das monotone Rattern der Räder, die sich über die Schienen schieben, und das untertourige Gemurmel aus allen Richtungen beruhigt mich. Es ist, als würde ich mich in einem luftdichten Kokon befinden. Oft fühle ich mich unglaublich weit weg von jedem und allem um mich herum. Jetzt ist das anders, ich muss mich mental verbinden, um von meinen Gedanken nicht irre zu werden. Auch wenn ich nichts über mein gähnendes Gegenüber weiß, nicht, ob der große Hund von dem Mann da drüben immer so ungeniert den Boden ablecken darf oder das Herrchen gerade nur unaufmerksam ist. Ich verbinde mich mit jedem Menschen im Waggon, versuche meine Isolation zu durchbrechen. Diese Nähe, die nur aus flüchtigen Blicken und sich aneinanderreibenden Kleidungsstücken besteht, gibt mir das Gefühl, nicht einsam zu sein. Es ist so, wie wenn ich mich vom Leben entkoppelt fühle und Radio höre oder mir eine Sendung im Fernsehen anschaue. Ich höre gar nicht richtig hin, schaue mir keins der Gesichter in der unästhetischen Bilderflut wirklich an. Mir reicht das Wissen, dass zeitgleich mit mir tausend andere es auch tun. Sich sinnbefreite, sexistische, menschenverachtende Formate anschauen, in denen sich muskulöse Männer und überschminkte Frauen ineinander verlieben müssen. Eine irreale Verbundenheit, in der ich alleine bin, aber nicht einsam.
In die Details, die mich umgeben, mischt sich der penetrante Geruch einer überreifen Banane. Ich entdecke eine junge Frau, die gerade ins tiefgelbe Fruchtfleisch beißt. Erst neulich habe ich Mirabel gesagt, wie unangenehm ich es finde, Bananen in der Öffentlichkeit zu essen. Mir ist das zu intim. Sie musste lachen, fragte mich, seit wann ich so verklemmt sei. Bin ich nicht, nur ist mir das Schälen, der Akt an sich, zu assoziativ. Gedankenverloren schaue ich die Frau, die schräg gegenüber von mir sitzt, an. Sie fühlt sich beobachtet, dreht sich geniert zur Seite, bricht die Stücke der Banane mit der Hand ab und führt sie erst dann zum Mund. Es ist ungewöhnlich, dass ich einzig durch Blicke einen Unbekannten auf etwas aufmerksam machen kann. Zu verschieden sind Fremd- und Selbstwahrnehmung. Die Frau neulich im Bus neben mir zum Beispiel, die sich alle zehn Sekunden räusperte. Von derlei körperlichen Automatismen fühle ich mich schnell provoziert. Sie bemerkte nichts von meinen auffordernden Blicken. Ich weiß, dass ich mich da viel zu wichtig nehme. Als würde mich irgendwer bewusst provozieren wollen. Aber mich stört gerade das Unbewusste, das diese Menschen ausstrahlen, wenn sie die Welt um sich herum unbeirrt an ihren Ticks teilhaben lassen. Ich finde, man sollte alles, was man tut, als Erstes selbst wahrnehmen. Sonst ist man am Ende Sklave seiner selbst.
Ich muss umsteigen. Wieder raus aus dem Kokon, auf den Bahnsteig, Treppen runter, einen anderen Aufgang wieder hinauf. Eine verwirrt aussehende Frau hievt gerade einen Kinderwagen die Treppen zum Gleis nach oben. Als ich helfen will, wehrt sie ab, so als wäre mein Angebot übergriffig, mit ihr die Last zu teilen. Im Waggon stehe ich neben ihr und beobachte sie unauffällig. Die ganze Fahrt über hält sie ihren Kopf gebannt nach unten gebeugt, in Richtung Kinderwagen. Sie meidet jeden Blickkontakt, murmelt etwas vor sich hin, das man beim Quietschen der Schienen nicht verstehen kann. Irgendwann bemerke ich, dass in dem Wagen gar niemand liegt. Nur kiloweise löchrige Einkaufstüten, über die sie linkisch eine Jacke gespannt hat. Ich stelle mir vor, wie sie vor Jahren ihr Baby verloren hat und seitdem, gefangen in ihrer Trauer, mit diesem Wagen umherfährt. Wie sie tut, als sei alles noch genau so, wie es mal war und doch nie wieder sein wird. Man muss nur fest genug an etwas glauben, bis man es irgendwann für real hält.
Meine Mutter hatte mir oft gesagt, dass Gedanken die Realität formen. Sie meint das im Positiven. Also: Sage dir die schönen Dinge, die dein Leben beschreiben, dann wirst du vor allem sie sehen. Dabei passt das gar nicht zu ihr. Um meiner Mutter diese Theorie wirklich abnehmen zu können, hätte ich sie wohl öfter glücklich sehen müssen. Ich jedenfalls beherrsche diesen Trick durchaus, allerdings umgekehrt. Ich sage mir die hässlichen Dinge, die mein Leben beschreiben, und grüble über all das, was schlecht ist. Ein Pfeil schießt mir durch den Kopf. Genau in diesem Moment schaut die Frau mit Kinderwagen auf. Ich blicke in ein erschöpftes Gesicht, eine zerfurchte Mondlandschaft. Leblos. Sie steigt aus. Ich muss noch ein paar Stationen fahren und setze mich. Mein Körper zittert. Ich schüttle den Kopf, damit meine Gedanken verschwinden.
Bei der nächsten Station steigt ein Junge ein. Er ist vielleicht elf, aber schon groß und ziemlich breit. Über seiner Oberlippe ein dunkler Flaum. Er setzt sich mir direkt gegenüber, starrt mich an, noch bevor er sitzt. Ich halte seinem bohrenden Blick stand. Man sagt, man könne einander drei Komma drei Sekunden anschauen, bevor es für beide Seiten unangenehm wird. Davon scheint er nie gehört zu haben, glotzt unbeirrt weiter. Ich blicke zum Boden. Habe ich vielleicht irgendwo was hängen? Ich fasse mir ins Haar, streiche mir über meine Wangen, ein Griff zur Nase. Er fasst sich auch ins Haar, streicht sich über die Wangen, greift sich an die Nase. Das sehe ich aus den Augenwinkeln. Nun putze ich sie mir. Auch er tut es. Ich schlage die Beine übereinander. Dann er. Ich werde nervös. Auch als ich ihn direkt anschaue, meine Augen dabei demonstrativ verdrehe und meinen Blick abwende, hört er nicht auf. Er spielt mit mir. Dieser Junge da, der nicht mal halb so alt ist wie ich, nichts zu verlieren hat, weil er glaubt, sein ganzes Scheißleben liegt noch vor ihm, schaut mich einfach weiter an und verdreht jetzt genau wie ich demonstrativ die Augen. Lass mich in Ruhe, du distanzloses Monster, schreit es in mir. Und dann will ich ihn tatsächlich anbrüllen. Ich wüte innerlich. Der Zug fährt in die nächste Station ein. Die Türen springen auf. Raus hier, bevor ich komplett die Fassung verliere. Auf dem Bahnsteig bleibe ich für einen Moment wie angewurzelt stehen. Ich wage es nicht,...
Erscheint lt. Verlag | 18.2.2020 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | abwesender Vater • Berlin • Coming of Age • Erwachsenwerden • Großstadtkindheit • Großstadtleben • Liebe und Beziehungen • Mutter-Tochter-Beziehung |
ISBN-10 | 3-8412-1996-9 / 3841219969 |
ISBN-13 | 978-3-8412-1996-1 / 9783841219961 |
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