Bin noch da (eBook)
448 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00504-4 (ISBN)
Sven Stricker wurde 1970 in Tönning geboren und wuchs in Mülheim an der Ruhr auf. Er studierte Komparatistik, Anglistik und Neuere Geschichte. Seit 2001 arbeitet er als freier Wortregisseur, Bearbeiter und Autor und gewann in dieser Funktion mehrmals den Deutschen Hörbuchpreis. Für seine Sörensen-Romane war Stricker 2017 und 2024 für den Glauser-Preis nominiert. Die Verfilmung von 'Sörensen hat Angst' gewann 2021 den Deutschen Fernsehkrimipreis sowie den österreichischen Fernsehpreis Romy. 2022 wurde Stricker für das Drehbuch mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Er lebt in Potsdam und hat eine Tochter.
Sven Stricker wurde 1970 in Tönning geboren und wuchs in Mülheim an der Ruhr auf. Er studierte Komparatistik, Anglistik und Neuere Geschichte. Seit 2001 arbeitet er als freier Wortregisseur, Bearbeiter und Autor und gewann in dieser Funktion mehrmals den Deutschen Hörbuchpreis. Für seine Sörensen-Romane war Stricker 2017 und 2024 für den Glauser-Preis nominiert. Die Verfilmung von "Sörensen hat Angst" gewann 2021 den Deutschen Fernsehkrimipreis sowie den österreichischen Fernsehpreis Romy. 2022 wurde Stricker für das Drehbuch mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Er lebt in Potsdam und hat eine Tochter.
1
«So!», sagte Kunde Nummer eins und machte es sich im Stehen gemütlich. «Jetzt muss ich erst mal überlegen.»
Es war wie auf der Post an einem Samstag um Viertel vor zwölf, kurz vor Geschäftsschluss. Wenn man endlich, endlich dran war, lehnte man sich über den Tresen, stützte die Ellbogen auf, streckte den verbreiterten Hintern raus, stellte hier noch eine Frage zum Porto, dort noch eine zum Versicherungsschutz und zur Sinnhaftigkeit von Einschreiben mit Briefkasteneinwurf, füllte mit dem Kugelschreiber ein Standardformular aus, langsam, tastend, als sähe man es zum ersten Mal, so ein Formular, für dessen Erfassen und Erledigen man im Vorfeld eine gute Viertelstunde Zeit gehabt hätte, und ignorierte die immer größer werdende Schlange hinter sich nicht nur geradezu genießerisch, nein, man drehte sich zu ihr um, langsam, mit einem feinen Lächeln im Gesicht, schau, dachte man sich, jetzt stehen die Leute sogar schon bis auf die Treppe – die Treppe! –, dann beschwerte man sich über die personelle Unterbesetzung, die Verteuerung des Portos, den organisatorischen Kollaps des Postsystems, nein, des gesamten Systems, während man selbst natürlich fein raus war, denn man hatte ja alles erreicht, man hatte den Monsun überwunden, den Gipfel erklommen, den Marathon absolviert, man war am Ziel, man war der Sieger, ganz, ganz weit vorne, man war der wichtigste Mensch im Raum. Der, der die Macht hatte, der die Dinge be- oder entschleunigen konnte. Gut, man hätte natürlich auch Solidarität beweisen können, Empathie, Verständnis, man hätte mit kurzen, zielgerichteten Angaben die Schlange hinter sich so zügig wie möglich abbauen und damit im Sinne des Gemeinwohls Effizienz beweisen können, aber hier, in der Mechanik des Augenblicks, da hielt man es doch lieber mit der Selbstgefälligkeit des Stärkeren, da war man ausnahmsweise selbst der Idiot, den man ansonsten aus vollem Herzen verachtete. Schön war das nicht, aber so war das Leben, so war der Mensch, als soziales Wesen grundsätzlich ausbaufähig.
«Und, schon erste Erkenntnisse gewonnen?», fragte Moritz und lächelte, während die Brüheinheit vor ihm selbstreinigend zischte.
Moritz Liebig war ein großer, dünner Schlaks von siebenunddreißig Jahren, in knapp einer Woche würde er Geburtstag haben, ein rötlich grauer Vollbart machte ihn jetzt schon älter, als er war, er trug ein Eraserhead-Shirt, eine Schiebermütze saß verkehrt herum auf seinem Kopf und verlieh ihm größtmögliche Lässigkeit bei kleinstmöglichem Aufwand. Und das hier, das war natürlich keine Postfiliale, sondern ein Café, sein Café, das Schöne Leben, aber das Prinzip des Menschseins war immer und überall dasselbe. Hinter Kunde Nummer eins warteten die Kunden zwei bis sechs, dicht gedrängt, den hitzegeprägten Körpergeruch des Vordermanns in sich aufnehmend wie ein die Sinne lähmendes Gift.
«Ja, weiß ich doch auch nicht, was gibt’s denn so?», fragte Kunde Nummer eins, er hätte selbstverständlich längst die ausladende Getränkekarte an der Wand studiert haben können.
«Nun», sagte Moritz freundlich, «wir haben Americano, Espresso, Double Espresso, Espresso macchiato, Double Espresso macchiato, Cappuccino, Flat White, sehr zu empfehlen, Caffè Latte, Gibraltar, das ist wie ein Cappuccino, aber mit weniger Milch. Zum Beispiel. Sie können natürlich auch Iced Latte, Iced Cappu, Iced Chai, Espresso Tonic oder Cold Brew haben, sehr mild, trotzdem viel Koffein, der hat vierundzwanzig Stunden in kaltem Wasser gezogen, den gibt es mit Eiswürfeln und Milch, Kuh oder Hafer, es ist ja schließlich Sommer. Und wenn Sie vielleicht noch einen Extra-Shot wollen, den kriegen Sie für fünfzig Cent oben drauf.»
«Was heißt denn Extra-Shot?», fragte der Mann schlecht gelaunt. «Wer erschießt einen denn hier?»
«Niemand. Nicht für fünfzig Cent», sagte Moritz. «Espresso. Es geht um einen Schuss Espresso. Wonach ist Ihnen denn?»
«Kaffee», sagte Kunde Nummer eins. «Stark. Braun. Bitter.»
«Mit Milch?»
«Nur wenn’s nichts zusätzlich kostet.»
«Dann mach ich Ihnen einen Cappuccino.»
Moritz nahm die Maschine in Betrieb und betrachtete Kunde Nummer eins genauer. Es war ein kleiner, kahlköpfiger Verdrossener um die fünfzig, breit gebaut, mit schwarzem T-Shirt und deutlich zu langen kurzen Hosen über bleichen Streichholz-Waden. Die Plattfüße steckten in Sandalen aus dem letzten Jahrhundert, die Zehennägel waren gelblich, der rechte große Zeh blau. Vielleicht ein erstes Zeichen der Verwesung. Moritz beschloss, den Mann Helmut zu nennen. Er mochte den Namen nicht. Er hatte ein Problem mit Verdrossenen, so ganz grundsätzlich, Verdrossene erinnerten ihn an früher. An eine lange, erste Phase seines Lebens, die abgetragen und kompostiert worden war. Helmut stemmte die Hände in die Hüften und blickte sich um, die Nase in die Luft gereckt, den angriffslustigen Blick durch zusammengewachsene Augenbrauen verstärkt. Er räusperte sich lautstark. Eindeutig, jetzt würde Phase zwei folgen, jetzt kam der Teil, in dem so ein Helmut einem die Welt erklärte.
«Da!» Helmut deutete auf das eingerahmte Schild an der Rückwand, auf dem Be Nice Or Go Away stand. «Nett», übersetzte er in einem Ton, als handele es sich um ein Schimpfwort. «Nett sein soll ich. Nett! Also, nichts gegen Nettigkeit, finde ich natürlich gut, so grundsätzlich, so, hier, Nettigkeit.»
«Aha», sagte Moritz lächelnd und versiegelte sein Gehirn.
«Ja, sicher. Aber das ist ja keine Einbahnstraße, sag ich mal. Wenn du, nur mal angenommen, wenn du als Ausländer in unser Land kommst, ja, nichts gegen Ausländer, das sind ja auch arme Schweine, aber wenn du schon Ausländer bist, dann hast du gefälligst nett zu sein, ja, absolut nett hast du zu sein, sonst kannst du nämlich gleich wieder abhauen! Die sollen alle weggehen, die nicht nett sind! Und ich sag das auch laut! Laut sag ich das! Wir wären ein viel besseres Land, wenn hier nur die Netten wären.»
Moritz dachte, dass, dieser Logik folgend, Helmut wohl schon am Flughafen wäre, drehte sich nach hinten und betrachtete das Schild, das er auf dem Sperrmüll gefunden hatte und das er an und für sich für unmissverständlich hielt. Es bezog sich ganz eindeutig auf die vor ihm wartenden Kunden. Auf niemanden sonst. Er überlegte – weil er durchaus zu verqueren Gedankengängen in der Lage war –, ob es da nicht vielleicht doch eine verborgene politische Botschaft geben mochte, so was passierte ja manchmal, da stand auf einem T-Shirt zum Beispiel irgendwas von Zusammenhalt, und wenn man sich das kaufte, war man plötzlich und aus Versehen ein Nazi. Auf Helmuts T-Shirt stand natürlich nichts von Zusammenhalt, da stand riffraff.
«Nice ist ja auch die Übersetzung von Nizza», sagte Moritz, weil es ihm gerade so einfiel und er Helmut in einen kurzen Moment der Verwirrung zu stürzen gedachte. Er kippte den Espresso in eine mintgrüne Tasse und widmete sich mit unverbrauchter Gelassenheit dem zu gestaltenden Milchschaum.
«Ah so, ja, na klar», sagte Helmut leiser werdend, schließlich komplett verstummend. Moritz hob den Kopf. Kunde Nummer vier, der erst in einigen Minuten die ihm zustehende Beachtung erfahren würde, hatte Kunde Nummer drei auf den Rücken geniest, was Kunde Nummer drei nicht einmal bemerkt hatte, weil er kleine, weiße Knöpfe im Ohr trug und mit ausdrucksloser Mimik im Takt des durch sie schallenden Klangerzeugnisses auf den Fußballen wippte. Dafür machten die Kunden fünf und sechs ein angewidertes Gesicht.
«Ich soll eine Stadt sein oder weggehen?», fragte der verdrossene Helmut am Ende seiner Überlegungen.
«Eine Stadt in Südfrankreich», sagte Moritz lächelnd.
«Das ist doch Quatsch jetzt, oder? Das wissen Sie doch. Das hat doch damit überhaupt nichts zu tun, das ist doch Quatsch, nett soll ich sein, nett!»
«Ja, das wäre schön», sagte Moritz und freute sich. Noch subtiler konnte man einem Helmut nun wirklich nicht mitteilen, dass er ein Arschloch war. Kundin Nummer zwei, eine blondgelockte Schönheit mit ebensolchem Säugling im Manduca, lachte auf. Es war ein offenes Lachen, es war ein schönes Lachen. Moritz würde die Frau Dorothea nennen und bekam einen Gute-Laune-Schub. Das war es doch. Das war es, was er immer gewollt hatte: ein Café, das sein Café war und in das jede Menge spannende, vielschichtige Menschen kamen. Gemischt mit ein paar Deppen natürlich, aber das ließ sich nun mal nicht vermeiden, er war ja nicht weltfremd.
Er hatte gut zu tun für einen Donnerstag, fast schon zu gut. Stella, seine studentische Aushilfe, hatte wegen Migräne abgesagt, das kam recht häufig vor und war bedauerlich, aber selbstverständlich kein Kündigungsgrund, außerdem war Stella die beste Barista, die rund um den Hartwigplatz zu haben war, äußerst erprobt im diplomatischen Dienst. Stella hätte dem Kunden Nummer eins, der ganz gewiss nicht Helmut hieß, jetzt innerhalb eines Satzes klargemacht, warum er sich seine Thesen besser für die Reichsbürgerversammlung aufsparen sollte oder den nächsten Parteitag der Bekloppten, dabei wäre sie charmant geblieben und hätte ihm ein formschönes Herz auf den Cappuccino gezaubert. Moritz hingegen gestaltete eine Blume der Liebe und hoffte, der Verdrossene würde es damit gut sein lassen. Tat er aber nicht.
«Weiß gar nicht, was es da zu lachen gibt», giftete der Mann nach hinten. Die Frau gefror ihr Lachen ein und umfasste schützend den Kopf des Babys.
«Ich bin nett! Scheißnett bin ich! War ich immer schon! Immer! Und wohin hat mich das gebracht? Arbeitslos bin ich. Weil ich nett...
Erscheint lt. Verlag | 18.8.2020 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Alter • Altwerden • Eltern • Erwachsenwerden • Familie • Humor • lustiges Buch • Neurosen • Sohn • Sörensen • Sterbehilfe • Vater • Vater-Sohn-Beziehung • witziger Roman |
ISBN-10 | 3-644-00504-4 / 3644005044 |
ISBN-13 | 978-3-644-00504-4 / 9783644005044 |
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