Die Bilder unseres Lebens (eBook)

Eine Familie zwischen Film und Freiheit

(Autor)

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2020 | 2. Auflage
448 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-1958-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Bilder unseres Lebens -  Ines Thorn
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Die Zeit, die uns trennt. Mit Leidenschaft hat die Familie Lindemann das Kino 'Die Schauburg' in Leipzig betrieben. Bis sie nach dem Krieg enteignet wird. Besonders Mutter Ursula fällt es schwer, sich an die Vorgaben der neuen Machthaber zu halten. Ihr Mann Gerhard kommr versehrt von der Front zurück und versucht mühsam, wieder ins Leben zu finden. Auch ihre Tochter Sigrid, die sich kaum an Friedenszeiten erinnern kann, ist verunsichert. Ob die Ausbildung zur Lehrerin das Richtige für sie ist? Nur Stefan, der Sohn, hält an seinem alten Traum fest. Und um Filme machen zu können, beschließt er sogar, die Heimat hinter sich zu lassen und nach West-Berlin zu gehen. Schon bald merken die Lindemanns, wie schwer es ist, familiäre Bande aufrechtzuerhalten, wenn man getrennt ist durch den Eisernen Vorhang. Authentisch und hochemotional: ein großes Familienepos während der deutschen Teilung



Ines Thorn wurde 1964 in Leipzig geboren. Nach einer Lehre als Buchhändlerin studierte sie Germanistik, Slawistik und Kulturphilosophie. Sie lebt und arbeitet in Frankfurt am Main. Im Aufbau Taschenbuch sind lieferbar: 'Die Walfängerin', 'Die Strandräuberin' sowie 'Ein Stern über Sylt'. Bei Rütten & Loening sind zudem erschienen 'Ein Weihnachtslicht über Sylt' und 'Der Horizont der Freiheit'.

Kapitel 1


Am Morgen hatte die Nachbarin ihr erzählt, dass es in Gutjahrs Lebensmittelladen Eier geben sollte, und Sigrid war sofort losgelaufen.

Frau Gutjahr hatte ihren trotz des Hungers überall wohl genährten Bauch unter der Schürze gestreichelt und dabei gesagt: »Die Amerikaner sind da. Sie haben die letzten Volksstürmer verhaftet und das Völkerschlachtdenkmal besetzt. Der Bürgermeister, der olle Freyberg, und noch ein paar von denen da oben haben sich umgebracht. Geschieht ihnen ganz recht. Wir kleinen Leute von der Straße waren denen immer egal.« Ihre Stimme klang selbstzufrieden, als wäre die Welt nun ein bisschen mehr nach ihrem Geschmack.

»Du musst aufpassen, Sigrid, euer Willi, der rannte noch vorgestern in der Uniform rum und hat vor dem Gasthaus Adler Reden ans Volk gehalten. Den müsst ihr in der Wohnung einsperren. Und das ganze Nazizeug vernichten. Und beeilen müsst ihr euch«, ergänzte sie, während sie drei Eier in Zeitungspapier wickelte. »Ich wette, in den meisten Häusern glühen gerade die Kachel- und Küchenöfen. Ich habe ja schon vor zwei Jahren gesagt, dass der Krieg verloren ist, damals nach der Pleite von Stalingrad. Wollte keiner hören. Sogar die Gestapo ist deshalb gekommen, mitgenommen hätten sie mich, wenn unser Laden nicht kriegswichtig gewesen wäre.« Ihr Kleinbürgerstolz füllte den ganzen Laden, legte sich in die leeren Regale, hockte auf der Kasse.

Sigrid vergaß die Eier und hetzte durch die Trümmer nach Hause. Die halbe Stadt war bei dem Bombenangriff vom 4. Dezember 1943 zerstört worden, doch in der Antonienstraße standen die meisten Häuser noch. Sigrid wusste nicht, ob sie froh oder erschrocken sein sollte. Der Krieg war vorüber, und sie konnte es einfach nicht glauben. Keine nächtlichen Bombenangriffe mehr, keine Verdunkelungen und vielleicht sogar bald kein Hunger mehr? Unvorstellbar nach sechs Jahren Krieg. Aber was kam nun?

Eilig ging sie die Stufen nach oben in den ersten Stock, riss die Tür auf. Ihr Großvater Willi saß in seiner SA-Uniform auf dem Küchensofa und erzählte seiner Frau, was ihm gerade durch den Kopf ging – wirres Zeug, wie schon seit Monaten, denn Willi war senil geworden. »Der Führer, du wirst es erleben, Wilma, der schenkt uns allen so ein Volksauto. Und dann fahren wir durchs Deutsche Reich bis ins Baltikum. Mit dem Volksauto.«

»Opa, du musst dich ausziehen!«, unterbrach Sigrid ihn. »Warum soll der Opa sich ausziehen?«, fragte Großmutter Wilma, die am Herd stand und in einem Topf rührte. »Gib mir mal die Eier, die sollen hier mit rein.«

»Bis ins Baltikum«, krächzte ihr Mann.

»Sigrid, die Eier!« Wilma wandte sich ungeduldig um. Früher war sie eine sanfte Frau gewesen mit einem ewigen Lächeln auf den Lippen. Der Krieg hatte sie hart gemacht, er ließ keine Zeit für Sanftmut und Lächeln und Höflichkeit. Die meisten Männer sprachen in knappen, schnarrenden Sätzen miteinander, und den Frauen waren die Worte vergangen. Dafür seufzten sie. Aber Wilma konnte nicht schweigen. Sie hatte noch einiges zu sagen. Gestern und jetzt und später.

»Ich hab keine Eier. Die Amerikaner sind da, sind schon am Völkerschlachtdenkmal.«

Mit ein paar Schritten war sie am Sofa und riss das Hitlerbild von der Wand. »Wir müssen alles vernichten«, rief sie, die Aufregung hatte ihre Stimme ganz hell gefärbt. »Opa muss die Uniform ausziehen. Und das Jesuskreuz, das früher hier hing, muss wieder her. Wo ist es?«

Jetzt kam Bewegung in Wilma. »Das Kreuz ist im Schlafzimmer unter dem Bett. Willi, zieh dich aus.«

»Mit dem Volksauto bis ins Baltikum. Der Führer hat’s gesagt.«

»Die Uniform, Opa.«

»Halt ihn fest«, sagte Wilma bestimmt, dann öffnete sie ihrem Mann die Hose und zog mit einem so kräftigen Ruck daran, dass Willi beinahe vom Sofa gerutscht wäre. Als Sigrid versuchte, die Arme aus der Uniformjacke zu ziehen, krallte ihr Opa sich fest. »Mit der Uniform ins Baltikum«, sagte er und schlug mit der freien Hand nach Sigrid.

»Halt jetzt die Gusche«, schimpfte Wilma, zerrte die Hose über die dünnen, blau geäderten Beine und half Sigrid dann mit der Jacke.

»Wir verbrennen das Zeug im Küchenofen. Schneide die Uniform klein.«

Sigrid holte die große Schneiderschere und hielt immer wieder lauschend inne. »Ich denk jeden Moment, sie kommen«, flüsterte sie.

»Unfug. Das Völkerschlachtdenkmal ist am anderen Ende der Stadt. Das dauert noch. Aber beeilen müssen wir uns trotzdem.« Wilma beträufelte die Uniformfetzten mit Öl und schob sie in den Ofen. »Hol deinen BDM-Rock, die weiße Bluse lass da, die ist unverfänglich, aber dein schwarzes Halstuch bring her und hol Opas Ausweis, das muss alles verbrannt werden.«

Wenige Minuten später brannte es im Ofen lichterloh. Ihr Opa hockte zusammengesunken auf dem Sofa, die dürren Arme um den dürren Brustkorb geschlungen.

»Ich friere an die Knewwerzchen«, schrie der Opa. »Ich hab schon Hühnerhaut.«

»Gänsehaut«, verbesserte Sigrid. Sie hielt Willis Stiefel in der Hand. »Was machen wir damit?«

Ihre Oma richtete sich auf, schob eine graue Haarsträhne aus der Stirn und beschmierte sich dabei mit Ruß. »Nee, die verbrennen wir nicht. Die können wir noch brauchen. Die Amis werden uns bestimmt keine neuen schenken. Wir verstecken sie unten, in der Waschküche. Zur Not können wir dann sagen, dass sie uns nicht gehören.«

»Meine Knewwerzchen sind ganz kalt«, jammerte der Opa wieder.

»Mein Gott, Willi. Wir haben jetzt andere Sorgen als deine kalten Arme und Beine.« Ungeduldig warf sie ihm die Decke, die über der Sofalehne gehangen hatte, zu. Dann wandte sie sich wieder an Sigrid. »Hol die Hakenkreuzfahne und wirf sie in den Ofen. Dann mach ein weißes Bettlaken an die Stange und häng sie aus dem Fenster, die Amis sollen gleich sehen, dass wir keine Feinde sind. Und die Sachen von deiner Mutter, die guckst du durch, ob es da was Verräterisches gibt. Wenn sie aus dem Lazarett heimkommt, muss alles weg sein.«

Als Sigrid fertig war, holte sie eine weiche Flanellhose und ein kariertes Hemd für den Opa aus dem großen Kleiderschrank im Schlafzimmer.

»Ich will meine Uniform«, krakeelte er, aber Wilma verlor allmählich die Geduld. »Das ist jetzt deine neue Uniform. Und wenn die Amis kommen, dann hältst du den Rand. Nichts mehr mit Volksauto und Führer und Baltikum, hast du verstanden?«

Willi nickte, aber Sigrid wusste, dass er nichts verstanden hatte. Er war vergesslich und hin und wieder sogar verwirrt, erkannte an manchen Tagen nicht einmal Frau und Tochter, von der Enkelin ganz zu schweigen. Sie mussten einfach aufpassen, dass er nicht mehr raus auf die Straße ging.

***

Und dann kamen sie, die Amis. Sie fuhren in offenen Jeeps, und Sigrid blickte staunend aus dem Fenster. Sie hatte noch nie einen Schwarzen gesehen. Ihr erster Eindruck war, dass sie unglaublich laut waren. Sie sprachen laut, sie lachten laut, fuhren ihre Jeeps mit quietschenden Reifen. Sigrid hatte immer gedacht, dass die Eroberer leiser sein würden. Der Krieg war laut gewesen, furchtbar laut. Er klang noch immer in ihrem Inneren, mit den Sirenen, dem Flakfeuer, den Bombern am Himmel. Der Frieden, hatte sie gedacht, der Frieden sei leise. Friedlicher eben. Aber die Sieger hatten natürlich keinen Grund, leise zu sein. Nur die Verlierer waren still.

Sigrid beugte sich aus dem Fenster. Auf der Straße waren keine Fußgänger zu sehen, bloß die amerikanischen Jeeps. Aber hinter den Fenstern erkannte sie schemenhaft die Nachbarn. Mit angstbleichen Gesichtern äugten sie auf die Straße. Dort, wo vor wenigen Tagen noch Hakenkreuzfahnen gehangen hatten, flatterten jetzt helle Betttücher.

Einer der Jeeps hielt nun vor der Schauburg, dem Kino, das den Lindemanns, Sigrids Familie, gehörte und dem Wohnhaus genau gegenüber lag. Zwei Amerikaner sprangen heraus, starrten auf die Schaukästen, in denen noch die Anzeigen der letzten Filme hingen. Heinz Rühmann schwang seinen Hut, darunter standen die Zeiten, in denen der Film gespielt wurde.

In den letzten Monaten hatte ihre Mutter nur noch Die Feuerzangenbowle mit Heinz Rühmann, Der Weg zum Glück und Heimatfilme und Komödien gezeigt. Donnerstagabend und manchmal noch am Sonntag eine Vorstellung, wenn sie nicht ins Lazarett musste. Die Deutsche Wochenschau musste natürlich gezeigt werden, der Verleiher konnte da auch nichts machen. Wenn Vorstellung war, hatte Sigrid immer die Karten verkauft, während die Mutter die schweren Rollen in den Vorführapparat legte. Früher hatten sie noch einen Musiker gehabt, einen Pianisten, aber der war schon lange an der Ostfront gefallen. Dann hatte Wilma Klavier gespielt, aber seit es mit ihrem Opa so schlimm geworden war, seit er jede Gelegenheit nutzte, um aus der Wohnung abzuhauen, gab es kein Klavierspiel mehr in der Schauburg.

Jetzt hatte einer der Männer sie am Fenster entdeckt. Er lachte breit, winkte ihr zu. »Frowllein«, rief er. »Frowllein Frieden!«

Zaghaft winkte sie zurück.

Dann fuhr der Jeep weiter, und die Straße war wieder leer.

»Sind sie weg?«, fragte Wilma.

Sigrid nickte.

»Gott sei Dank.«

Sigrid drehte sich um. »Und jetzt?«

»Was jetzt?«

»Wie geht es weiter?«

Wilma zuckte mit den Achseln. »Wir warten einfach ab. Irgendwer wird uns schon sagen, was wir zu tun und zu lassen haben. Es hat immer irgendwen...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte DDR • DDR Alltag • DDR Bürger • Familiendrama • Kalter Krieg • Ostdeutschland • Trennung • Überwachung • Wende in der DDR • Wiedervereinigung
ISBN-10 3-8412-1958-6 / 3841219586
ISBN-13 978-3-8412-1958-9 / 9783841219589
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