Mein Spiekeroog (eBook)

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2020 | 1. Auflage
160 Seiten
mareverlag
978-3-86648-382-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mein Spiekeroog -  Katharina Hagena
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Seit ihre Mutter ihr das Schwimmen beigebracht hat, fährt Katharina Hagena fast jeden Sommer mit ihrer Familie nach Spiekeroog. Mit geschlossenen Augen kann sie noch immer die verschiedenen Wege zum Strand am Duft erkennen. Hagena erzählt vom Baden bei Meeresleuchten, vom Zeltplatzkiosk als Ort der Verheißung und von einem Sand, der beim Darübergehen aufschreit. Sie berichtet von vergeblichen Bernsteinsuchen, der Heilkraft von Strandkörben bei gebrochenem Herzen, von Schiffsunglücken, Seenebel und dem Verschwinden der Wellhornschnecke. Hagenas Erinnerungen und Gedanken schärfen die Sinne für die Zerbrechlichkeit der einzigartigen Insel und sind zugleich ein Nachdenken über Sprache, über das In-Worte-Fassen dessen, was nicht bleibt, seien es eine Sandbank, der Geruch von Strandwermut oder das möwenfarbene Haar ihrer Mutter.

Katharina Hagena, geboren in Karlsruhe, studierte Anglistik und Germanistik in Marburg, London und Freiburg, promovierte über James Joyce und lehrte an den Universitäten in Dublin, Hamburg und Lüneburg. Ihr Roman 'Der Geschmack von Apfelkernen' wurde in 26 Sprachen übersetzt. Ihm folgten die Romane 'Vom Schlafen und Verschwinden' und 'Das Geräusch des Lichts'. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

Katharina Hagena, geboren in Karlsruhe, studierte Anglistik und Germanistik in Marburg, London und Freiburg, promovierte über James Joyce und lehrte an den Universitäten in Dublin, Hamburg und Lüneburg. Ihr Roman "Der Geschmack von Apfelkernen" wurde in 26 Sprachen übersetzt. Ihm folgten die Romane "Vom Schlafen und Verschwinden" und "Das Geräusch des Lichts". Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

Strandkorb


Der Strandkorb ist nämlich ein Wunderding.

Ich habe nie verstanden, dass es tatsächlich Menschen gibt, die Strandkörbe spießig finden. Manche glauben, dass der Strandkorb sie zu fest an einen Ort bindet, dass es schöner ist, mal im Westen bei den Kitesurfern, mal am Damenpad zu liegen, heut am Hundestrand und morgen bei den fünf oder sechs versprengten Nackten im Osten. Vielleicht stimmt das ja, nur habe ich es, ehrlich gesagt, nie ausprobiert.

Denn ich mag Strandkörbe, vor allem, wenn sie tatsächlich an einem Strand stehen. Der Strandkorb ist mein Freund, mein Schutz vor Wind, Kälte, Sonne, Regen, Möwen, Sand, Blicken, Gesprächen. In ihm kann ich schlafen, lesen, so tun, als ob ich schreibe, so tun, als ob ich lese oder schlafe. Es gibt ein Tischchen, auf das ich einen Becher stellen kann, einen Raum, in dem ich über Nacht die Skimboards, Sonnencremes, Kescher, Beachballschläger, Bocciakugeln und aufblasbaren Stranddinge lagere. Ich kann kränkelnde, traurige, frierende, müde, lesende Kinder darin aufbewahren, ebenso wie Handtücher, Badehosen, Taschen, Muscheln, Wasserflaschen. Tagsüber kann ich in Ruhe mit einer Freundin quatschen, nachts darin Partys feiern, Wein trinken, Feuer machen, rumknutschen. Ich kann hinter dem Strandkorb im Schatten liegen und mithilfe des Holzgitters ein Handtuchhaus bauen. Ich kann vor dem Strandkorb im Wind liegen und drinnen alles vollmüllen. Ich kann mithilfe von beschichteten Tchibo-Picknickdecken und Regencapes einen Eins-a-Regenunterstand bauen. Ich kann darin singen, mich umziehen und lange Muschelketten knüpfen.

Mein Vater klagt allerdings jedes Jahr, dass die »neuen« Strandkörbe schon seit dreißig Jahren keine Innenhaken mehr haben, an die man seine Taschen und Kleider hängen kann. Ich habe ihm versprochen, diese bedauerliche Entwicklung in meinem Buch zu erwähnen. Auch die Außenwäscheleine für die nassen Handtücher muss man sich am Strand selber suchen und hinten an der Haube befestigen. Dafür gibt es an den Seiten wunderbare Metallgriffe, an denen die nassen Badesachen fest und sicher flattern, bis sie trocken sind. Man kann außen Möwenfedern hineinstecken, die im Wind surren.

Es gibt Badegäste, die fast nie in ihrem Strandkorb sitzen, sondern die meiste Zeit damit beschäftigt sind, ihn perfekt zu stellen. Denn wenn es nicht gerade ganz heiß ist, versucht man, den Korb nach der maximalen Sonneneinstrahlung bei geringstmöglichem Windeinfall auszurichten. Das gelingt nur selten. Meistens entscheidet man sich für eins von beidem, Sonne oder Windstille. Nimmt man die Sonne, muss das schwere Möbel alle paar Stunden ein bisschen weitergedreht werden. Das macht man, indem man den Korb am Griff ein wenig kippt, die Schulter eng an seine Seitenwand drückt und ihn dann mit Schwung zu drehen versucht. Gegebenenfalls muss man auf der anderen Seite durch Ziehen oder Schieben noch etwas nachjustieren. Oder man fragt Harald Janssen, den Herrn der Strandkörbe, ob er einem hilft. Ich möchte von ihm wissen, wie viel so ein Strandkorb überhaupt wiegt. »Kommt drauf an«, sagt er gedehnt. Ich lerne, dass ein neuer Strandkorb ungefähr sechzig Kilo wiegt, aber im Herbst, wenn die Körbe in der Halle eingelagert werden, sind sie zwischen achtzig und hundert Kilo schwer. Bis zu vierzig Kilo Sand kann also durch die Ritzen im Geflecht eindringen und sich zwischen Innenwänden und Außenwand festsetzen. Jeder Korb muss vor dem Winter einzeln mit dem Hochdruckreiniger entsandet werden. (Demnach haben die Bayern immer die schwersten Strandkörbe, weil sie am spätesten Ferien bekommen.) Ich stelle mir vor, dass allein auf diese Weise jedes Jahr eine neue Düne entsteht. Ein riesiger Berg aus Strandkorbsand, versetzt mit Sonnenmilch und Brötchenkrümeln, mit Münzen, Buchseiten, Ohrringen und Bikinioberteilverschlüssen.

Abends stehen bei schönem Wetter fast alle Strandkörbe mit der offenen Seite gen Westen, wie ein Feld von Sonnenblumen. Manche Strandkorbbewohner tragen ihren Strandkorb schwitzend vom Weg aus in die vorderste Reihe und erfreuen sich trotz starker Rückenschmerzen am unverstellten Blick aufs Meer. Andere streben danach, Kolonien zu bilden, und rotten sich mit befreundeten oder verwandten Strandkorbbewohnern zusammen. Dort wird es auch mal lauter, einer macht Musik an, vielleicht steht sogar ein Kasten Bier auf einem der Bollerwagen. Das wird von anderen Strandkorbbewohnern mit eisiger Missbilligung zur Kenntnis genommen. Sobald sich ein solches Cluster gebildet hat, gibt es sofort wieder Abstoßreaktionen, und man kann Strandkörbe beobachten, die sich aus dem Spannungsfeld des Clusters wegbewegen, obwohl sie eigentlich schon den perfekten Platz gefunden hatten. So ist alles immer ein wenig in Bewegung und bleibt doch, von Weitem betrachtet, immer gleich.

Denke ich an die Strandkörbe meiner Kindheit zurück, bin ich allerdings erleichtert, dass wir von einem Jahr aufs andere aufhörten, diese exakt ausgemessenen, mit rechten Winkeln versehenen Sandburgen um den Strandkorb herumzubauen. Wie wir meinen Vater dazu gebracht haben, es zu lassen, weiß ich nicht. Vielleicht hatte er keine Lust mehr, sich jeden Tag am Strandkorbhäuschen die große Schaufel auszuleihen.

Mein Vater, der das Bauen, Abmessen, Spachteln und den rechten Winkel wirklich liebt, versah unsere Prachtburg sogar mit Treppenstufen im Eingang und einer kleinen Einbaubank, unserer persönlichen Sandbank. Hingebungsvoll verzierten mein Bruder und ich die hart geklopften Außenwände mit Muschelfriesen.

Als wir klein waren, baute mein Vater den ganzen Tag mit uns Burgen, Staudämme, Wasserfestungen, Ziehbrücken, Kanäle, die er jeden Tag bei Ebbe am Flutsaum errichtete und jeden Tag aufs Neue dem Meer zurückgeben musste. Als wir größer wurden, baute er sie einfach ohne uns weiter. Und auch wenn keiner von uns je Lust hatte, Gießkannen mit Wasser für die Burg herbeizuschleppen, auch wenn wir die aus Sand gebaute Treppenstufe nur seitlich, also mit dem ganzen Fuß, betreten durften, weil unser Vater ärgerlich wurde, wenn etwas »kaputtging«, so bewunderten wir doch seinen schier grenzenlosen Optimismus angesichts der nie enden wollenden Zerstörungskraft von Sonne, Wind, Meer und Familienangehörigen beim Über-die-Mauern-Rein-und-Rausspringen, beim unsachgemäßen Betreten der Treppenstufe und beim Eindrücken der Wände durch böswilliges Daraufsetzen.

Ich räume ein, Strandkörbe sind vielleicht schon ein bisschen spießig. Aber Spiekeroog-Reisende haben schon immer mit ihrem Spießeroog-Image gekämpft, vielleicht müssen wir einfach beherzter dazu stehen? Ich jedenfalls stehe ganz und gar zum Strandkorb, in dem ich mit besonderer Genugtuung sitze, wenn ich ihn mir vorab im Internet gebucht und dabei genau überlegt habe, auf der Höhe welcher der durchnummerierten Mülltonnen ich gerne säße … Mit meinem Strandkorb-Enthusiasmus befinde ich mich in guter Gesellschaft. Ein anderer Spießer mit Strandkorb schrieb einst:

Mein Arbeitsplatz, der herrlichste, den ich kenne, liegt einsam. Aber wäre er auch belebter, das isolierende Getöse der Brandung, die schützenden Seitenwände des Strandkorbes, dieses von jung auf vertrauten und eigentümlich bergenden Sitzgehäuses, würden keine Störung aufkommen lassen. Geliebte, unvergleichlich befriedigende und angemessene Situation, welche mein Leben gesetzmäßig immer wieder herbeiführt! (…) Einen passenderen Platz gibt es nicht für mein Vorhaben. (…) Situationsmäßig verwirklicht sich mir eine alte, fast möchte ich sagen: eingeborene Ideenverbindung, – die seelische Einheit zweier Elementarerlebnisse, von denen eines des anderen Gleichnis ist: des Meeres und der Epik.

Man kann über Thomas Mann sagen, was man will, aber wo er recht hat, hat er recht. Allerdings dauert es immer eine gewisse Zeit, bis diese geliebte, unvergleichlich befriedigende und angemessene Situation auch wirklich hergestellt ist. Ohne das geduldige Entgegenkommen von Harald Janssen, dem Mann im Strandkorbwagen, könnte ich diese seelische Einheit von Elementarerlebnissen nur schwer erreichen. Wenn ich den perfekten Strandkorb schließlich gefunden habe, dann ist es in der Tat unvergleichlich angemessen. Ja, ich möchte behaupten, der Strandkorb ist ein utopischer Raum, nein, mehr noch, eine Heterotopie!

Der französische Philosoph Michel Foucault hat sich diesen Begriff ausgedacht, als Heterotopie bezeichnet er »Orte, wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hinein gezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien«. Und auch wenn Foucault den Strandkorb in diesem wunderbaren Aufsatz nicht explizit als Beispiel für eine Heterotopie auflistet, so fällt ein Strandkorb, der noch dazu auf einer Insel steht, ganz klar unter »realisierte Utopien«.

Um die geradezu metaphysische Kraft dieses, laut Thomas Mann, »eigentümlich bergenden Sitzgehäuses« zu veranschaulichen, muss ich erzählen, wie einst mein gebrochenes Herz in einem Strandkorb heilte, oder zumindest zu heilen begann.

In meiner...

Erscheint lt. Verlag 3.3.2020
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Reisen Reiseführer Deutschland
Reisen Reiseführer Europa
Schlagworte Deutschland • Friesland • Neuharlingersiel • Nordsee • Nordseeinsel • Ostfriesland • Reisebericht • Watt • Wattenmeer • Wittmund
ISBN-10 3-86648-382-1 / 3866483821
ISBN-13 978-3-86648-382-8 / 9783866483828
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