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Auf der anderen Seite des Flusses (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
176 Seiten
mareverlag
978-3-86648-380-4 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
15,99 inkl. MwSt
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Als der argentinische Schriftsteller Lucas an einem frühen Dienstagmorgen die Fähre besteigt, die ihn über den Río de la Plata nach Uruguay bringen wird, glaubt er, die Lösung all seiner Probleme sei ganz nahe. Als Vater eines vierjährigen Sohnes, der 'wie ein betrunkener Zwerg' seine ungeteilte Aufmerksamkeit verlangt, befindet er sich in einer Schaffenskrise, angewiesen auf das Einkommen seiner Frau Catalina, von der er sich als selbst nicht immer treuer Ehemann zudem betrogen fühlt. In Montevideo will Lucas seine Honorare für zwei neue Buchverträge einlösen, die ihm endlich wieder mehr Selbstvertrauen, die Achtung Catalinas und die so bitter benötigte Zeit zum Schreiben erkaufen sollen. Doch in der pulsierenden Stadt jenseits des silbernen Flusses wartet nicht nur das Geld, sondern auch eine große Versuchung auf ihn.

Pedro Mairal, geboren 1970 in Buenos Aires, studierte Englische Literatur an der Universität von Salvador. Er ist Drehbuchautor und Verfasser mehrerer in zahlreiche Sprachen übersetzter Romane. Als 'eine der originellsten Stimmen der lateinamerikanischen Literatur' wurde er mit dem Premio Clarín ausgezeichnet; mit seinem Roman 'Auf der anderen Seite des Flusses', der in Argentinien und Spanien zum Bestseller wurde, gelang ihm der internationale Durchbruch.

Pedro Mairal, geboren 1970 in Buenos Aires, studierte Englische Literatur an der Universität von Salvador. Er ist Drehbuchautor und Verfasser mehrerer in zahlreiche Sprachen übersetzter Romane. Als "eine der originellsten Stimmen der lateinamerikanischen Literatur" wurde er mit dem Premio Clarín ausgezeichnet; mit seinem Roman "Auf der anderen Seite des Flusses", der in Argentinien und Spanien zum Bestseller wurde, gelang ihm der internationale Durchbruch.

1


Du hast mir gesagt, dass ich im Schlaf gesprochen habe. Das ist das Erste, was ich von diesem Morgen noch erinnere. Der Wecker klingelte um sechs. Maiko war in der Nacht in unser Bett gekommen. Du hast mich umarmt, und wir flüsterten uns ins Ohr, murmelten, um ihn nicht zu wecken, aber ich glaube auch, um uns nicht den nächtlichen Atem ins Gesicht zu hauchen.

»Soll ich dir einen Kaffee machen?«

»Nein, Liebling. Schlaft ihr nur weiter.«

»Du hast im Schlaf gesprochen. Du hast mich erschreckt.«

»Was habe ich denn gesagt?«

»Das Gleiche wie letztes Mal: guerra, Krieg.«

»Seltsam.«

Ich duschte und zog mich an. Dann gab ich dir und Maiko meinen Judaskuss.

»Gute Reise«, sagtest du.

»Wir sehen uns heute Abend.«

»Pass auf dich auf.«

Ich nahm den Fahrstuhl bis zur Tiefgarage im Untergeschoss und fuhr hinaus, ohne Musik anzumachen. Es war noch dunkel. Ich fuhr die Calle Billinghurst hinunter und bog dann in die Avenida del Libertador ab. Es herrschte schon Verkehr, vor allem in der Nähe des Hafens waren viele Lastwagen unterwegs. Auf dem Parkplatz der Fährgesellschaft Buquebús teilte mir ein Wächter mit, dass schon alles belegt sei. Ich musste umkehren und das Auto an einem Strand auf der anderen Straßenseite stehen lassen. Der Gedanke gefiel mir nicht, denn spätabends, wenn ich mit den Dollars in den Taschen zurückkäme, würde ich diese zwei dunklen Häuserblocks an der ausgestorbenen Straße entlanglaufen müssen.

Keine Warteschlange vor dem Check-in-Schalter. Ich legte meinen Reisepass vor.

»Die Schnellfähre nach Colonia?«, fragte mich der Angestellte.

»Ja, und den Bus nach Montevideo.«

»Nehmen Sie heute noch die direkte Verbindung zurück?«

»Ja.«

»Gut …« Der Mann blickte mich ungewöhnlich lange an.

Er druckte den Fahrschein aus und überreichte ihn mir mit einem eisigen Lächeln. Ich wich seinem Blick aus. Der Mann war mir unangenehm. Warum sah er mich so an? Konnte es sein, dass alle Passagiere, die am selben Tag hin- und zurückfuhren, auf eine Liste gesetzt wurden?

Ich nahm die Rolltreppe hinauf zur Zollkontrolle, legte den Rucksack in den Gepäckscanner und lief durch das Labyrinth aus leeren Absperrbändern. »Treten Sie vor«, forderte man mich auf. Ein Beamter der Einwanderungsbehörde überprüfte meinen Pass, meine Fahrkarte. »Kommen Sie, Lucas, stellen Sie sich bitte vor die Kamera. Gut so. Drücken Sie den rechten Daumen … Danke.« Ich nahm die Fahrkarte, den Pass und ging in die Wartehalle.

Alle Fahrgäste hatten sich in eine lange Schlange eingereiht. Durch das Fenster sah ich die Fähre, die gerade am Anleger manövrierte. Ich kaufte mir den teuersten Kaffee und das teuerste Croissant der Welt (ein klebriges Croissant, ein radioaktiver Kaffee) und stürzte beides innerhalb einer Minute hinunter. Dann stellte ich mich am Ende der Schlange an und lauschte einigen brasilianischen Pärchen in meiner Nähe, einigen Franzosen, einem Provinzakzent aus dem Norden, vielleicht aus Salta. Ein paar Männer waren allein, wie ich; vielleicht fuhren auch sie für einen Tag nach Uruguay, um zu arbeiten oder Geld zu holen.

Die Schlange rückte vor, ich lief durch die mit Teppich ausgelegten Gänge und erreichte die Fähre. Der große Raum mit den vielen Sesseln hatte etwas von einem Kinosaal. Ich entdeckte einen Platz am Fenster, setzte mich und schickte dir eine Nachricht: »An Bord. Ich liebe dich.« Ich schaute aus dem Fenster. Es wurde bereits hell. Die Hafenmole verlor sich in gelblichem Nebeldunst.

Dann schrieb ich die Mail, die du später entdeckt hast:

»Guerra, ich bin auf dem Weg. Kannst du um zwei?«

Ich ließ mein E-Mail-Postfach niemals offen. Nie. In dem Punkt war ich sehr, sehr vorsichtig. Mich beruhigte das Gefühl, dass ich einen Teil meines Gehirns nicht mit dir teilte. Ich brauchte meinen Schattenkegel, meinen Türstopper, meine Intimsphäre, und sei es nur, um zu schweigen. Diese Siamesische-Zwillings-Nummer einiger Paare erschreckt mich immer wieder: Sie haben die gleiche Meinung, sie essen das Gleiche, sie betrinken sich gleichzeitig, als ob sie einen Blutkreislauf teilten. Es muss einen chemischen Befund von Nivellierung geben, wenn man viele Jahre lang ständig diese Choreografie beibehalten hat. Derselbe Ort, die gleiche Routine, die gleiche Ernährung, simultanes Sexleben, identische Stimuli, Übereinstimmung von Körpertemperatur, finanziellen Verhältnissen, Ängsten, Anreizen, Wanderungen, Plänen … Welches zweiköpfige Monster wird auf diese Art erschaffen? Du wirst mit dem anderen symmetrisch, die Stoffwechsel synchronisieren sich, du funktionierst spiegelbildlich; ein zweiteiliges Wesen mit einem einzigen Wunsch. Und das Kind wird diese Umarmung mit einem ewigen Band umschlingen und es für immer verknoten. Allein die Vorstellung schnürt mir die Kehle zu.

Ich sage »die Vorstellung«, denn ich denke, dass wir beide dagegen ankämpften, auch wenn die Trägheit uns schon gepackt hatte. Mein Körper endete nicht mehr an meinen Fingerspitzen; er setzte sich in deinem fort. Ein einziger Körper. Es gab keine Catalina mehr, keinen Lucas. Unsere Abgeschlossenheit bekam Löcher, Risse: Ich sprach im Schlaf, du hast meine Mails gelesen …

In einigen Gegenden der Karibik geben die Eltern dem Kind einen Namen, der sich aus dem des Vaters und dem der Mutter zusammensetzt. Hätten wir ein Mädchen bekommen, hätten wir sie Lucalina nennen und Maiko hätte Catalucas heißen können. Das ist der Name des Monsters, das du und ich waren, als wir uns einer in den anderen ergossen. Diese Vorstellung von der Liebe gefällt mir nicht. Ich brauche einen Winkel nur für mich. Warum hast du meine Mails angeschaut? Ich habe mir deine nie angesehen. Ich weiß schon, du hast dein Postfach immer offen gelassen, das hat meine Neugier erstickt, aber ich wäre auch nie auf die Idee gekommen, deine Nachrichten zu lesen.

Die Fähre lief aus. Das Hafenbecken blieb in der Ferne zurück. Ein Stück Küste war zu sehen, schwach erahnte man die Silhouetten der Häuser. Ich verspürte enorme Erleichterung. Weggehen. Und sei es nur für kurze Zeit. Das Land verlassen. Aus dem Lautsprecher tönten die Sicherheitsvorschriften, auf Spanisch, auf Portugiesisch, auf Englisch. Eine Rettungsweste unter jedem Sitz. Kurz darauf: »Wir möchten die Passagiere darauf aufmerksam machen, dass der Freeshop geöffnet hat.« Welches argentinische Genie hat sich dieses Wort einfallen lassen, Freeshop? Je mehr Handelsbeschränkungen erlassen werden, desto besser gefällt uns Argentiniern dieses Wort. Eine seltsame Vorstellung von Freiheit.

Ich unternahm diese Reise, um mein eigenes Geld zu schmuggeln. Die Vorschüsse auf meine Autorenhonorare. Die Kohle, die alle Probleme lösen würde. Bis hin zu meiner Depression und Zurückgezogenheit und dem ständigen »Nein« des Mangels. Nein, ich kann nicht, weil ich kein Geld habe, nein, ich gehe nicht aus, nein, ich verschicke den Brief nicht, nein, ich drucke das Formular nicht aus, nein, ich frage nicht bei der Agentur nach, ich lege den Streit nicht bei, ich streiche die Stühle nicht an, ich kümmere mich nicht um die feuchten Wände, ich schicke den Lebenslauf nicht ab. Warum? Weil ich kein Geld habe.

Im April hatte ich das Konto in Montevideo eröffnet. Vor Kurzem, im September, waren die Vorschüsse aus Spanien und aus Kolumbien für zwei Buchverträge eingetroffen, die ich vor Monaten unterschrieben hatte. Wenn man mir das Geld nach Argentinien überwiesen hätte, wäre es von der Bank zum offiziellen Wechselkurs in Pesos umgetauscht und die Einkommensteuer wäre auch noch abgezogen worden. Wenn ich das Geld aber in Uruguay am Bankschalter abholte und in bar nach Hause brachte, konnte ich es in Buenos Aires zum inoffiziellen Kurs wechseln und hatte mehr als das Doppelte übrig. Die Reise lohnte sich, auch wenn die Gefahr bestand, dass die Zollbeamten die Geldscheine bei meiner Rückkehr fanden. Denn ich würde mit mehr Dollars die Kontrolle passieren, als erlaubt war.

Der Río de la Plata: Silberner Fluss – oder Fluss des Geldes? Nie war ein Name so gut gewählt. Das Wasser begann zu glitzern. Ich würde dir das Geld zurückzahlen können, das ich dir für die Monate schuldete, in denen ich keine Arbeit gehabt hatte und wir von deinem Gehalt allein gelebt hatten. Ich würde mich etwa zehn Monate lang ausschließlich dem Schreiben widmen können, wenn ich auf die Ausgaben achtete. Die Sonne ging auf. Die Pechsträhne wäre vorüber. Ich erinnere mich an den Tag, als wir die Autobahnmaut mit Stapeln von Fünfzig-Centavo-Münzen bezahlten. Wir wollten meinen Bruder in Pilar besuchen. Die Frau im Kassenhäuschen konnte es nicht glauben. Sie zählte das...

Erscheint lt. Verlag 4.2.2020
Übersetzer Carola S. Fischer
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Argentinien • Autor • Entwicklungsroman • Krise • Lateinamerika • Montevideo • Río de La Plata • Roman • Uruguay
ISBN-10 3-86648-380-5 / 3866483805
ISBN-13 978-3-86648-380-4 / 9783866483804
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