Celans Zerrissenheit (eBook)

Ein jüdischer Dichter und der deutsche Geist
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
208 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32144-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Celans Zerrissenheit -  Helmut Böttiger
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Ein explosives Buch öffnet ein neues Kapitel der Beschäftigung mit Paul Celan. Zum 50. Todestag Celans am 20. April wirft Helmut Böttiger einen ganz neuen Blick auf den Dichter und räumt mit vielen Mythen und Vorurteilen rund um Celan auf. Von den Rechten, die ihn faszinierten, abgelehnt; von Linken bewundert, die ihn missverstanden. An kaum einem deutschsprachigen Autor zeigen sich die Verwerfungen der Nachkriegszeit deutlicher als an Celan. Während mit Heidegger, Jünger et al. die konservativen Vertreter des Deutschen Geists Celan ablehnten, waren dessen Verehrer Böll, Grass, Enzensberger dem Dichter fremd. Auf Knüppelpfaden und Holzwegen war er unterwegs, der Ausnahmedichter Paul Celan. Bis heute ist das Bild, das man sich von ihm macht, geprägt von Missverständnissen, falschen Vorstellungen und heroischen Romantisierungen. Zum 'Schmerzensmann' und in die Rolle des 'jüdischen Opfers' stilisiert; wurde der Dichter auf vertrackte Weise ein 'ideales Vehikel für die allgemeine Verdrängung', so Helmut Böttiger, seine Todesfuge avancierte zum Schulgedicht, der Rest des Werks trat dagegen zurück. Dass Celans Suche nach einer neuen dichterischen Sprache ihn paradoxerweise (vergeblich) die Nähe von Ernst Jünger, des von Celan 'Denk-Herrn' genannten Martin Heidegger oder sogar Figuren wie Rolf Schroers suchen ließ, während er mit der Sprach Haltung seiner Förderer Böll und Grass wenig anfangen konnte, wurde dabei oft übersehen oder passte nicht ins Bild. Helmut Böttiger zeichnet Leben und Werk Celans auf dem Hintergrund des literarischen Betriebs seiner Zeit. Heraus kommt dabei ein ganz neuer Blick auf Celan.

Helmut Böttiger, aufgewachsen im hohenlohischen Creglingen, studierte Germanistik und Geschichte in Freiburg. Er promovierte über Fritz Rudolf Fries und die DDR-Literatur. Nach verschiedenen Stationen als Kulturredakteur, u.a. bei der Frankfurter Rundschau, lebt er seit 2002 als freier Autor in Berlin. Zu seinen Veröffentlichungen über Celan zählen Orte Paul Celans (1996), Wie man Bücher und Landschaften liest (2006) und Wir sagen uns Dunkles. Die Liebesgeschichte zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan (2016). Sein Buch Die Gruppe 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb wurde mit dem Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.

Helmut Böttiger, aufgewachsen im hohenlohischen Creglingen, studierte Germanistik und Geschichte in Freiburg. Er promovierte über Fritz Rudolf Fries und die DDR-Literatur. Nach verschiedenen Stationen als Kulturredakteur, u.a. bei der Frankfurter Rundschau, lebt er seit 2002 als freier Autor in Berlin. Zu seinen Veröffentlichungen über Celan zählen Orte Paul Celans (1996), Wie man Bücher und Landschaften liest (2006) und Wir sagen uns Dunkles. Die Liebesgeschichte zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan (2016). Sein Buch Die Gruppe 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb wurde mit dem Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.

Kapitel 1 Lesebuchreif


Die Rezeption der Todesfuge und der Nachruhm

Paul Celan war ein Dichter und kein Heiliger. Er ist eines der besten Beispiele dafür, wie sehr sich die öffentliche Vorstellung einer Person von ihrer realen Biografie lösen kann. Celan wird gemeinhin mit etwas Höherem verbunden, mit reiner Poesie und Sprachmagie, die das existenzielle Leiden transzendiert, und das prägt sein Bild bis heute. Des Öfteren berief er sich programmatisch auf Friedrich Hölderlin, mit dem er viele Gemeinsamkeiten hatte. Dabei fällt unter anderem auf, dass beide Dichter von äußerst entgegengesetzten Interessengruppen vereinnahmt wurden. Hölderlin galt einerseits als Parteigänger der Französischen Revolution, mit den radikalen Werten von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, andererseits aber beanspruchten ihn deutsche Nationalisten als vaterländischen Sänger. Celan wiederum wird als ein hochpolitischer Geschichtszeuge gelesen, dessen Werk in ästhetisch konsequenter Weise den Zivilisationsbruch durch die Nationalsozialisten aus jüdischer Perspektive thematisiert – aber gleichzeitig sehen viele in ihm einen deutschsprachigen Dichter, der am zeitlos ästhetisierten Ton eines Stefan George oder Rainer Maria Rilke orientiert ist und sich über die gemeine Alltagssprache und bloße Weltanschauungen erhebt. Solch unterschiedliche Zuweisungen entstehen offenbar besonders dann, wenn etwas Absolutes, Sphärisches, Überirdisches im Raum zu stehen scheint.

Je weniger man über Celan wusste, desto mehr wurde er zu einer Ikone. Doch je mehr man seitdem über Celans Leben erfahren hat, desto verwirrender werden die Versuche, ihm gerecht zu werden. Er bezeichnete sich selbst als einen Linken, manchmal sogar als einen Kommunisten, aber er verehrte Martin Heidegger, der anfangs ein fanatischer Parteigänger der Nationalsozialisten gewesen war, und suchte auch die Nähe zu Ernst Jünger und dessen völkisch-rechtem Umfeld. Diese Neigungen widersprechen offensichtlich dem Bild, das man sich von Celan am liebsten machen würde. Der Ehebriefwechsel mit seiner Frau Gisèle zeigt den Dichter als sensiblen, zärtlichen, die Familie als Halt und Anker empfindenden Ehemann, aber parallel dazu tauchen immer mehr Zeugnisse darüber auf, wie viele Geliebte er hatte und wie bohémienhaft-bindungslos sein Alltag sein konnte. Über seine psychische Erkrankung wurde lange geschwiegen, und über ihre Eigenarten weiß man immer noch wenig – einen ersten paranoiden Schub erlitt er Ende Dezember 1962, als er während der Skiferien Passanten angriff und auf der Heimreise im Zug seiner Frau ein gelbes Tuch vom Hals riss, weil es ihn an einen gelben Judenstern erinnerte.[1] Es liegt nahe, dass die Größe seines Werks, die einzigartige sprachliche Leistung seiner Gedichte viel mit diesen konkreten Lebensbedingungen zu tun hat, mit widersprüchlichen Momenten. Man kann ihm nur gerecht werden, wenn man diese ernst nimmt und ihn nicht zum unantastbaren mythischen Dichter stilisiert. Celan bezog sich immer wieder eindringlich auf die »Wirklichkeit« und wandte sich entschieden gegen rein sprachliche Operationen im luftleeren Raum, gegen »das Herumexperimentieren mit dem sogenannten Wortmaterial«.[2]

Nachdem Celan im April 1970 in seinem fünfzigsten Lebensjahr den Freitod in der Seine gesucht hatte, entstand um ihn in kürzester Zeit jedoch eine ganz eigene Aura. Unzählige wissenschaftliche Aufsätze, Dissertationen und Habilitationen erschienen über ihn, Celan avancierte innerhalb weniger Jahre zu einem der am häufigsten interpretierten Lyriker überhaupt, zu einer Paradedisziplin der Germanistik. Das hatte sicher sehr viel damit zu tun, dass er schwierig zu verstehen war und dass man über seine Biografie kaum etwas erfahren konnte: Er lud deshalb dazu ein, diverse wissenschaftliche Begriffsinstrumentarien an ihm auszuprobieren. Sein Leben erschien noch Jahrzehnte nach seinem Tod in ein geheimnisvolles Dunkel getaucht. Er stammte aus dem fernen, am östlichen Ende des ehemaligen Habsburgerreichs gelegenen und jüdisch geprägten Czernowitz, einer Vielvölkerstadt, die nach dem Massenmord der Nationalsozialisten an den Juden und nach dem Zweiten Weltkrieg der »Geschichtslosigkeit anheimgefallen« war, wie es Celan in einer seiner seltenen öffentlichen Äußerungen formuliert hatte.[3] Das Czernowitzer Lebensgefühl und die dort vermittelten Haltungen konnten kaum mehr nachvollzogen werden. An ihre Stelle trat ein magischer Zauber, eine Art paradiesischer Unschuld vor dem Eintritt in die brutale Zeitgeschichte, deren realer politischer Hintergrund oft gar nicht näher thematisiert wurde – er erschien eher als ein gewaltiges Schicksal, als eine von unfassbaren Kräften verhängte Menschheitskatastrophe.

Celan wurde sofort als der repräsentative Dichter dafür erkannt, und daraus entstand auch eine spezifische Form der Sakralisierung. Was man wusste, war, dass seine Eltern von den Nazischergen verschleppt und in einem ukrainischen Lager umgebracht worden waren. Dass er Verfolgung und Krieg als Jude überlebt hatte, wurde mit seinen Gedichten in eins gesetzt. Die Todesfuge[4] ist mittlerweile das berühmteste und am meisten verbreitete deutschsprachige Gedicht des zwanzigsten Jahrhunderts. Man verband Celan spätestens nach seinem Tod untrennbar mit diesem Gedicht. Es wurde schnell zur Pflichtlektüre an den Schulen und fand sich in allen Lesebüchern, es stand allgemeingültig für das Grauen in den Konzentrationslagern, aber gleichzeitig auch für die Möglichkeiten, dieses Grauen zu »bewältigen«, wie der dazu passende didaktische Fachausdruck lautete. Das Besondere war, dass Celan dabei als ein Dichter gelesen wurde, der ein existenzielles Leiden zum Ausdruck gebracht habe, das über das konkrete Zeitgeschehen doch auch noch hinausgehe – und dass er sich in seiner ästhetisch bis in die höchsten Sphären vordringenden Sprache über die Niederungen der kruden Realität hinwegsetze. Hans Egon Holthusen schrieb 1954, die Todesfuge sei »reine Dichtung«, »ohne eine Spur von Reportage, Propaganda und Räsonnement«.[5] Er gab damit eine Richtung vor, der erstaunlich viele Rezipienten folgten.

Celans großer Ruhm kam erst nach seinem Tod. Zu seinen Lebzeiten waren die Reaktionen auf seine Dichtung keineswegs einhellig. Zu sehr merkte man, dass es hier trotz aller als surrealistisch eingestuften Bilder um etwas akut Verdrängtes ging. Zwar schrieb Helmuth de Haas über den Debütband Mohn und Gedächtnis aus dem Jahr 1952 im kurzlebigen Periodikum Neue literarische Welt, Celans Ton bleibe »haften«, »weil auch die Sprache mundfrisch und beinahe kantilenisch ist; sie ist beginnlich rein«.[6] Parallel dazu aber urteilte der damals bekannte Kritiker Curt Hohoff in seinem Buch über »moderne Literatur« 1954: »Metaphorisch ist alles überladen, unverständlich, grammatisch spannunglos.«[7] Und der Band Sprachgitter, den heute viele als Celans wichtigste Positionsbestimmung auf seinem Weg zu einer neuen, anderen Sprache ansehen, führte zum Beispiel Inge Meidinger-Geise 1959 in ihrem Buch über Perspektiven neuer Dichtung dazu, die »lyrische Haltung in sich gefangener Menschen« anzuprangern.[8]

Als der bedeutsamste Moment der frühen Ablehnung von Celans Gedichten wird mittlerweile reflexhaft die Tagung der Gruppe 47 im Jahr 1952 genannt, das einzige Treffen dieser erst gegen Ende der fünfziger Jahre bedeutsam werdenden Schriftstellervereinigung, an dem Celan teilnahm. Das verkennt die literarischen Verhältnisse der Fünfzigerjahre in erstaunlichem Ausmaß und ist wohl vor allem dem veränderten Erkenntnisinteresse der achtziger und neunziger Jahre zuzuschreiben. Es ist längst belegt, dass die Mehrheit in der Gruppe 47 Celan keineswegs ablehnte. Im Gegenteil, diese Tagung bedeutete für Celan den Durchbruch im deutschen Literaturbetrieb. Hevorzuheben ist aber, dass er parallel dazu äußerst empfindlich auf Verrisse kulturkonservativer Publizisten alter deutscher Schule reagierte, die – und das ist kein bloßer Zufall – gleichzeitig auch aggressive Gegner der Gruppe 47 waren. Die beiden einflussreichsten Kritiker dieser Art waren Hans Egon Holthusen und Günter Blöcker. Beide ignorierten die biografischen Hintergründe Celans, blendeten die politische Dimension des Massenmords an den europäischen Juden programmatisch aus und knüpften gleichzeitig an antisemitische Stereotype an.

Holthusen, der mit seinem Essayband Der unbehauste Mensch Anfang der fünfziger Jahre ein Bestsellerautor war, rezensierte Celan mehrfach. Bei Mohn und Gedächtnis rügte er das »wild blühende Chaos der Metaphern« sowie »Abirrungen ins Grillenhafte und Wunderliche«[9], und Die Niemandsrose bot ihm 1964 den Anlass dafür, Celans Gedichte als »ein dunkel raunendes, meist trocken-brüchiges, aber von Fall zu Fall auch zu pathetischen O-Rufen aufschwellendes Parlando in sogenannten freien Versen« zu charakterisieren. Die »Mühlen des Todes« bei Celan – eine damals gebräuchliche Wendung, die den Konzentrationslagern galt (so trug Billy Wilders Dokumentarfilm über die Konzentrationslager den Titel Die Todesmühlen) – war für Holthusen eine »in X-Beliebigkeiten schwelgende Genitivmetapher«.[10] Und Günter Blöcker schrieb einen Verriss von Sprachgitter, der weitreichende Folgen hatte. Blöcker sprach ihm die Zugehörigkeit zum eigentlichen deutschen Sprachraum ab. Er...

Erscheint lt. Verlag 5.3.2020
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte deutscher Geist • Ernst Jünger • Gruppe 47 • Günter Grass • Hans Magnus Enzensberger • Heinrich Böll • Jüdisch • Lyrik • Lyriker • Martin Heidegger • Nachkriegsliteratur • Rolf Schröer • todesfuge
ISBN-10 3-462-32144-7 / 3462321447
ISBN-13 978-3-462-32144-9 / 9783462321449
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