Denken mit dem eigenen Kopf (eBook)

Essays
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
368 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32062-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Denken mit dem eigenen Kopf -  Peter Schneider
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Die bedeutendsten Essays des großen politischen Denkers. Peter Schneider gehörte zu den wichtigsten Köpfen der 68er-Bewegung, sein Roman »Lenz« wurde zum Kultbuch der Studentenbewegung. Sein ganzes intellektuelles Leben lang hat er sich kritisch zu Politik und Zeitgeschehen geäußert und sich nie gescheut, sich auch mit den eigenen Irrtümern zu beschäftigen. Die hier erstmals versammelten Essays und Artikel aus den letzten 30 Jahren zeigen ihn als beeindruckend präzisen Diagnostiker des Zeitgeschehens und großen Stilisten. Der Band dokumentiert Peter Schneiders jahrzehntelanges Nachdenken über die Wendepunkte deutscher und internationaler Politik sowie seinen dauerhaften Kampf gegen die Versuchungen und Fallen ideologischer Bequemlichkeiten. Die Themen: der Mauerfall und die Wiedervereinigung. Sarajewo und die Kriege auf dem Balkan. Der 11. September und der islamische Fundamentalismus. Die Finanzkrise 2008/2009. Die Flüchtlingskrise 2015 und das Erstarken der AfD.

Peter Schneider, geboren 1940 in Lübeck, wuchs in Freiburg auf, wo er sein Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie aufnahm. Er schrieb Erzählungen, Romane, Drehbücher und Reportagen sowie Essays und Reden. Zu seinen wichtigsten Werken zählen »Lenz« (1973), »Der Mauerspringer« (1982), »Rebellion und Wahn« (2008), »Die Lieben meiner Mutter« (2013) und »Club der Unentwegten« (2017). Zuletzt erschien sein Roman »Vivaldi und seine Töchter« (2019). Seit 1985 unterrichtet Peter Schneider als Gastdozent an amerikanischen Universitäten, unter anderem in Stanford, Princeton, Harvard und an der Georgetown University in Washington D.C.

Peter Schneider, geboren 1940 in Lübeck, wuchs in Freiburg auf, wo er sein Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie aufnahm. Er schrieb Erzählungen, Romane, Drehbücher und Reportagen sowie Essays und Reden. Zu seinen wichtigsten Werken zählen »Lenz« (1973), »Der Mauerspringer« (1982), »Rebellion und Wahn« (2008), »Die Lieben meiner Mutter« (2013) und »Club der Unentwegten« (2017). Zuletzt erschien sein Roman »Vivaldi und seine Töchter« (2019). Seit 1985 unterrichtet Peter Schneider als Gastdozent an amerikanischen Universitäten, unter anderem in Stanford, Princeton, Harvard und an der Georgetown University in Washington D.C.

Der Fall der Mauer und die Folgen


Was wäre, wenn die Mauer fällt?


(Juni 1989)

Welcher große Traum stand dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan vor Augen, als er im Frühling 1987 unter dem Beifall der Westberliner ausrief: »Mr. Gorbatschow, tear down this wall«? Oder dem Präsidenten Bush, als er ganz in der Tonart seines Vorgängers in Mainz 1987 erklärte: »the brutal wall … must come down«?

Der Vorschlag, die Mauer einzureißen, ist so alt wie die Mauer selbst und gehört seit 28 Jahren zur Rhetorik jedes alliierten Staatsbesuchers in Berlin. Niemand musste bisher fürchten, dass er beim Wort genommen würde; man konnte auf die Schwerhörigkeit der sowjetischen Adressaten zählen. Seit der Adressat Mr. Gorbatschow heißt, ist der Vorschlag riskant geworden. Was würde eigentlich passieren, wenn der Angesprochene heute oder morgen antworten würde: »Glänzende Idee, Mr. President. Packen wir’s an, weg mit dem Ding!«?

Ich glaube, nicht nur der alte und der neue amerikanische Präsident, vor allem unsere weniger entfernten westlichen Nachbarn und die Westberliner selbst wären leicht entsetzt. Seit Jahrzehnten haben Deutschlands Freunde im Westen ein pflichtschuldiges Amen zum westdeutschen Nachtgebet für die Wiedervereinigung beigetragen. Aber wer möchte im Ernst, dass sich die zwei deutschen Staaten – jeder die führende ökonomische Macht in seiner Hälfte Europas – zusammentun und eine ökonomische Supermacht werden? Wer möchte 80 Millionen Deutsche im Herzen Europas unter einem Dach vereint sehen?

Ich überlasse die Antwort auf diese Frage gern den Franzosen, den Italienern, den Engländern und den Holländern – die Polen, die Tschechoslowaken und die Ungarn nicht zu vergessen. Und kann ihnen nur raten, dieselbe Frage an die Westdeutschen weiterzureichen: Seid ihr wirklich sicher, dass ihr die Mauer weghaben wollt?

Empörte Zurufe von den Bänken des Bundestags, eilige Beteuerungen, dass solche Fragen geschmacklos seien. Dass die Deutschen die Einheit wünschen müssen, steht fest, nämlich in der Verfassung. Aber es wäre nicht das erste Mal, dass deutsche Verfassungen und deutsche Wünsche weit auseinandergehen.

Seit Jahren geht mir ein Satz im Kopf herum, den ich von einem Beamten der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin hörte: »Manchmal kommt es mir so vor, als sei die Mauer nach 40 Jahren Teilung das Einzige, was die beiden Deutschlands noch verbindet.«

Wird der offizielle Glaube an die Einheit aller Deutschen womöglich nur noch durch die Mauer aufrechterhalten? Und würde folglich der Abriss der Mauer nicht auch diesen Glauben zu einem guten Teil zertrümmern?

Nach 40 Jahren, so meine ich, darf man die Teilung Deutschlands als ein gesellschaftliches Experiment bezeichnen und nach Resultaten fragen. Zweifellos hatten die Alliierten kein Experiment im Kopf, als sie sich auf jene Grenze in der Mitte Europas einigten, die später zur Mauer ausgebaut wurde. Einigen wir uns darauf, dass es sich um ein unfreiwilliges, aus der Not des Siegens geborenes Experiment gehandelt hat. Ein Experiment, in dem die Alliierten als wissenschaftliche Leiter und die Deutschen als außerordentlich kooperationswillige Labormäuse auftreten – oder, um es netter zu sagen: als Testpersonen.

Vielleicht sollte ich hier auf ein verwandtes wissenschaftliches Feld verweisen: auf die Zwillingsforschung. Nehmen wir der Einfachheit halber an, wir haben es mit Zwillingen zu tun, die eine kriminelle Vergangenheit hinter sich haben. Durch gemeinsame alliierte Anstrengungen werden sie endlich gewaltsam getrennt und in zwei extrem verschiedenen Internaten aufgezogen. Der Zwilling namens BRD wächst im Reizklima westlicher Werte auf, er lernt es, erst mit Mühe, dann mit wachsender Begeisterung, Demokratie, Kapitalismus, individuelle Freiheit als Grundwerte zu schätzen; vor allem erlernt er Respekt vor dem westlichen Versuchsleiter.

Der andere Zwilling namens DDR, der öfter geschlagen wird, paukt ebenso beflissen die Grundwerte der östlichen Kultur: »Solidarität«, »soziales Engagement«, »Leidenschaft für den Sozialismus« und »ewige Freundschaft« mit dem östlichen Versuchsleiter.

Nehmen wir weiter an, dass zwischen den Zwillingen eine Mauer errichtet und eine seltsame Besuchsregel etabliert wird: Der westliche Zwilling kann sich in jede beliebige Richtung bewegen, einschließlich Osten. Für den Zwilling im Osten gelten andere Regeln. Er hat eine gewisse Bewegungsfreiheit in Richtung Norden und Süden – im Osten steht ihm ein schier unerschöpflicher Spielraum zur Verfügung. Aber der Zugang nach Westen ist versperrt. Da gibt es die berühmte verbotene Tür von gut 1400 Kilometern Breite. Legal öffnet sie sich nur im Ausnahmefall – nach einer Wartezeit von mindestens zwei Jahren; wer nicht so lange warten will, muss unter Lebensgefahr springen oder graben.

Nehmen wir weiter an, dass der Zwilling im Westen dank des Marshallplans und der westlichen Marktwirtschaft allmählich reich wird. Sein Zwillingsbruder im Osten muss nicht nur allein die Kriegsschulden an den weit ärmeren Versuchsleiter aus dem Osten zahlen; er muss auch dessen ineffizientes Wirtschaftssystem übernehmen.

Zumindest ein Ergebnis ist vorhersehbar: Der Zwilling im Osten wird eine unstillbare Neugier für alles entwickeln, was sich hinter der verbotenen Tür abspielt. Hinzu kommt, dass sich der östliche Zwilling in der undankbaren Lage sieht, auf seinen westlichen Verwandten warten zu müssen.

Eine gewisse Vorwurfshaltung ist vorprogrammiert: »Der da drüben könnte ruhig öfter kommen. Zumindest könnte er öfter anrufen oder schreiben. Und er könnte ein bisschen großzügiger sein, da es sich herausgestellt hat, dass er, rein geografisch, das bessere Los erwischt hat. Es war einfach Glück, dass er zur richtigen Zeit auf der richtigen Seite der Elbe lebte und dort gemeldet war. Aber inzwischen ist ihm der Erfolg zu Kopf gestiegen. Statt zu teilen, tut er so, als hätte er mehr Talent und würde härter arbeiten. Mir kann er nichts vormachen, ich kenne ihn, wir kommen aus demselben Elternhaus – er ist genauso faul und tüchtig wie ich!«

Inzwischen bastelt der Zwilling aus dem Westen an einem anderen Monolog. Er fühlt sich gestört durch etwas, was er »die ewige Erwartungshaltung« seines Verwandten nennt.

»Ich sehe doch, dass der Ärmste hinter seiner Mauer es nicht leicht hat. Aber seine Ansprüche, seine unausgesprochenen Vorwürfe belasten den Dialog. Weiß Gott, ich gebe gern, aber ein Geschenk zu machen, wenn ein Geschenk erwartet wird, macht keinen Spaß! Der da glaubt offenbar, dass die Autos und die Farbfernseher im Westen auf den Bäumen wachsen! Aber mit einem Mercedes wirst du nicht geboren, du musst ihn dir verdienen, musst Zinsen zahlen – ein Wort, das mein Bruder nur vom Hörensagen kennt!

Ich würde ihm das gern erklären, aber er hört ja nicht zu, er redet und redet! Natürlich ist es nicht seine Schuld, dass er immer noch nach Apfelsinen anstehen muss. Aber er soll wenigstens zugeben, dass das sozialistische Wirtschaftssystem ein Desaster ist, dass er auf das falsche Pferd gesetzt hat – niemand kritisiert ihn als Person! Manchmal bin ich regelrecht erleichtert, wenn der Besuch vorbei ist. Es gibt ein Unbehagen zwischen uns, über das man wirklich einmal reden müsste. Das nächste Mal!«

In Westdeutschland gibt es zwei nationale Feiertage: den 17. Juni und den 13. August. Es sind seltsame Feiertage: Im ersten Fall feiern wir einen Volksaufstand gegen die Diktatur, bei dem die anderen Deutschen den Kopf hinhielten; im zweiten Fall trauern wir über den Tag des Mauerbaus, unter dem vor allem unsere Brüder und Schwestern im Osten leiden – in beiden Fällen arbeiten wir mit geliehenen Gefühlen. Die westdeutschen Feiertagstränen über die Mauer haben nur noch eine ideologische Funktion. Viele Jahre lang diente uns die Mauer als der Spiegel, der uns zeigte, wer der Schönste im Lande war. Inzwischen sind es Besucher aus dem Ausland, die uns daran erinnern, dass die Mauer etwas Unnatürliches, ja Unerträgliches ist. In dem spontanen Entsetzen dieser Mauertouristen erkennen wir das Echo eines Gefühls wieder, das wir einmal hatten, als die Wunde frisch war.

Kaum eine von den Haltungen und Empfindungen, die ich hier beschrieben habe, wird von den Deutschen hinter der Mauer geteilt. Genauer gesagt, sie stellen sich dort in einer Art Spiegelverkehrung dar. 1974, kurz nach dem Amtsantritt von Erich Honecker, wurden alle Hinweise auf eine denk- oder wünschbare Wiedervereinigung aus der Verfassung der DDR gestrichen. Das geschah zu einem Zeitpunkt, als die Teilung Deutschlands bereits ein Vierteljahrhundert alt war und unwiderruflich erschien. Der westdeutsche Trauertag, der 13. August, wurde in der DDR zum Feiertag ernannt.

So findet am 13. August ein gespenstisches Schauspiel statt: Im Westfernsehen sieht man Jugendorganisationen der CDU, aggressiv Fahnen schwenkend und zu keiner Träne fähig, an den Grabsteinen erschossener Mauerspringer trauern. Im Ostsender sieht man, vier Meter weiter, die Betriebskampfgruppen der DDR Kränze an den Grabsteinen von Grenzpolizisten niederlegen, die »bei der Wahrnehmung ihrer verantwortungsvollen Aufgabe gefallen« waren.

Offenbar verhält es sich beim Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen exakt umgekehrt, wie die beiden deutschen Regierungen behaupten: Die offizielle Trauer...

Erscheint lt. Verlag 8.4.2020
Zusatzinfo 11 s/w Abb.
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte 11. September • 68er • Finanzkrise • Lenz • Mauerfall • Politik • Populismus • Rebellion und Wahn • Vivaldi und seine Töchter • Wiedervereinigung
ISBN-10 3-462-32062-9 / 3462320629
ISBN-13 978-3-462-32062-6 / 9783462320626
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