Die Bedeutung des Glaubens (eBook)

Religion aus der Sicht eines Atheisten

(Autor)

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2019 | 1. Auflage
150 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76312-4 (ISBN)

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Die Bedeutung des Glaubens -  Tim Crane
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Die gegenwärtige Debatte über Religion tritt auf der Stelle, und häufig beschleicht einen das Gefühl, dass Gläubige und Ungläubige einfach aneinander vorbeireden. Der britische Philosoph und Atheist Tim Crane bietet in seinem von der Kritik gefeierten Buch einen Ausweg aus dieser Pattsituation. Nicht die Wahrheit oder Falschheit der Religion wird bewertet, vielmehr untersucht Crane die Bedeutung des Glaubens im Leben der Menschen. Dadurch ermöglicht er es Atheisten, eine intellektuell verantwortungsvollere und praktisch wirksamere Haltung gegenüber dem Phänomen der Religion einzunehmen.



<p>Tim Crane, geboren 1962, ist ein britischer Philosoph und einer der führenden Vertreter der Philosophie des Geistes. Nach Professuren am University College London und der University of Cambridge ist er seit 2017 Professor für Philosophie an der Central European University in Wien.</p>

131. Religion und der Standpunkt des Atheisten


Religion und Glaube


Als Papst Franziskus im Januar 2015 die Philippinen besuchte, nahmen zwischen sechs und sieben Millionen Gläubige an der Abschlussmesse in Manila teil. Im selben Jahr pilgerten zwei Millionen Muslime im Rahmen des obligatorischen Haddsch nach Mekka und ließen sich das insgesamt acht Milliarden Dollar kosten. Geradezu zwergenhaft nehmen sich diese Zahlen allerdings im Vergleich mit den 26 Millionen schiitischen Muslimen aus, die ebenfalls 2015 an der Al-Arba'in-Wallfahrt nach Kerbela im Irak teilnahmen, um des Todes von al-Husain ibn 'Alī zu gedenken, der ein Enkelsohn des Propheten Mohammed war. 26 Millionen Menschen: das ist das Fünffache der Bevölkerung Dänemarks. Zwei Jahre zuvor kamen bei einem mehrwöchigen religiösen Fest des Hinduismus, der Kumbh Mela in Allahabad im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh, 120 Millionen Menschen zusammen. An einem Tag während dieses Festes haben geschätzte 25 Millionen Menschen an einem rituellen Bad am Zusammenfluss von Ganges und Yamuna teilgenommen. Diese Ereignisse, die sämtlich in den letzten Jahren stattfanden, gehören zu den größten temporären Menschenansammlungen aller Zeiten.

14Die Zahlen sind atemberaubend und geben uns einen Eindruck vom gegenwärtigen Ausmaß der religiösen Zugehörigkeiten auf unserem Planeten. Dem Pew Research Center zufolge gibt es aktuell 2,2 Milliarden Christen, 1,6 Milliarden Muslime und eine Milliarde Hindus weltweit.1 Das bedeutet, dass 4,8 Milliarden der 7,16 Milliarden Menschen auf der Erde Anhänger dieser drei riesigen Religionen sind. Und dann gibt es natürlich auch noch all die »kleineren« Religionen: Judentum, Buddhismus, Shintoismus, Jainismus, Sikhismus und viele andere. Etwa 1,1 Milliarden Menschen bezeichnen sich als Säkulare, Atheisten, Agnostiker oder Nichtreligiöse. Das heißt auch: Sechs Milliarden Menschen betrachten sich als Anhänger der einen oder anderen Religion – das sind mehr als 80 Prozent der Weltbevölkerung.

Was ist Religion, und warum bewegt sie die Menschen? Das ist natürlich eine viel zu große Frage, zumal für eine Person, um sie in einem einzigen Buch zu beantworten. Allerdings sind viel zu große Fragen – à la »Was ist das Gute?«, »Was können wir wissen?«, »Was ist die Wirklichkeit?«, »Wie sollen wir leben?« – das Geschäft der Philosophie, die nichts wäre, würde sie nicht versuchen, sie zu beantworten. In diesem optimistischen Geist gehe ich daher die eben gestellte nach der Religion an.

Dieses Buch ist von einem atheistischen Standpunkt aus geschrieben, unterscheidet sich aber von einigen neueren atheistischen Schriften zum Thema Religion in zwei Hinsichten. Erstens beschäftigt es sich nicht mit der Wahrheit religiöser Überzeugungen, sondern mit deren Bedeutung: damit, was es bedeutet, an religiöse Ideen zu glauben, damit, was dies wiederum für die Gläubigen bedeutet, und auch damit, was es für Nichtgläubige bedeuten sollte. Es 15soll um das Wesen und die Bedeutung religiösen Glaubens im Allgemeinen gehen und nicht um eine Diskussion spezieller religiöser Doktrinen, wie sie von einzelnen Glaubensrichtungen oder religiösen Traditionen vertreten werden. Zweitens werde ich in diesem Buch ein Bild der Religion zeichnen, das sich von den neueren atheistischen Darstellungen unterscheidet. Diese Ansätze haben die Neigung, die Religion entweder als eine Art primitiver Kosmologie zu präsentieren – als eine unterentwickelte oder protowissenschaftliche Theorie des ganzen Universums – oder als einen schlichten Moralkodex oder als eine Kombination aus beidem. Ich glaube zwar, dass religiöser Glaube sowohl kosmologische als auch moralische Elemente beinhaltet, weise jedoch seine Reduktion auf eines dieser Elemente oder gar auf deren Kombination zurück. Religiöser Glaube erschöpft sich weder in Kosmologie noch in Moral, und er ist auch keine Kosmologie-plus-Moral. Es wird uns nicht gelingen, dieses so grundlegende menschliche Phänomen zu verstehen, wenn wir versuchen, es in diese vorgefertigten Schubladen zu pressen.

Womöglich fordert die Leserin nun von mir eine Definition dessen, was ich unter Religion verstehe. Hier muss ich passen, jedenfalls wenn damit »Definition« in einem strengen Sinn gemeint ist. Friedrich Nietzsche hat gesagt, dass nur Dinge, die keine Geschichte haben, definiert werden können, und wenn er recht hat (was gewiss der Fall ist), dann lässt sich Religion nicht definieren.2 Religion ist derart verwoben mit der Menschheitsgeschichte und der Prähistorie, dass eine präzise Definition, wie wir sie aus der Mathematik kennen – die mit ihren Zahlen, Funktionen, Mengen usw. das Musterbeispiel einer geschichtslosen Angelegenheit abgibt –, nichts ist, worauf wir hoffen sollten. 16Anstatt also nach einer strengen Definition zu suchen, sollten wir uns um ein Verständnis der Religionen bemühen, indem »wir in der Geschichte die Art und Weise verfolgen, wie sie sich allmählich zusammengesetzt haben«, wie Emile Durkheim es ausgedrückt hat.3

Die meisten großformatigen Versuche, Religion zu definieren, bekommen es früher oder später mit irgendeinem Gegenbeispiel zu tun – weil eine Religion ins Spiel kommt, auf die die Definition nicht zutrifft, oder weil man auf etwas stößt, auf das sie zwar zutrifft, das aber keine Religion ist. Dies ist einer der Gründe, warum die Definitionsunmöglichkeit fast schon zu einem Allgemeinplatz unter Theoretikern der Religion geworden ist. In seinem klassischen Werk Die Vielfalt der religiösen Erfahrung zerbricht sich William James über die Vielzahl der in Umlauf befindlichen Definitionen den Kopf und kommt zu dem Schluss, dass »uns allein die Tatsache, daß es so viele und daß sie voneinander so verschieden sind, als Beweis dafür dienen [soll], daß das Wort ›Religion‹ nicht für ein bestimmtes Prinzip oder Wesen steht«.4 Einige heutige Autorinnen und Autoren pflichten dem bei. Karen Armstrong etwa hält fest, dass »es keine allgemein gültige Definition von Religion gibt«, und argumentiert, dass es sich bei dem Begriff nicht unbedingt um einen handelt, der in Gesellschaften früherer Epochen geläufig war: weder im Altgriechischen noch im Lateinischen oder im Tanach findet sich ein einzelnes Wort, dass wir mit »Religion« übersetzen können.5 Tatsächlich ist der Ursprung des Begriffs des Religiösen, verstanden als Gegensatz zum Säkularen, Gegenstand von Kontroversen und nach wie vor ein Stück weit unklar.

Um einen anständigen Überblick über unseren Untersuchungsgegenstand zu gewinnen, sollten wir aber dennoch 17versuchen, so genau wie möglich anzugeben, worüber wir sprechen – selbst wenn wir die Frage nach dem historischen Ursprung des Begriffs nicht beantworten können und es sich zudem herausstellt, dass das, was am Ende herauskommt, keinerlei Ähnlichkeit mit einer strengen mathematischen Definition hat (was, wenn wir ehrlich sind, für die allermeisten Dinge gilt). James war auf der richtigen Spur: »[Wir] wollen lieber gleich zu Anfang freimütig zugeben, daß wir sehr wahrscheinlich nicht ein Wesen von Religion finden werden, sondern viele Charakterzüge, die abwechselnd gleichermaßen wichtig für eine Religion sein können.«6 Hier also mein erster Anlauf, diese Merkmale zu bestimmen.

Religion, so wie ich das Wort verwende, ist ein systematischer und praktischer Versuch, den Menschen unternehmen, um Sinn und Bedeutung in der Welt und ihren Platz in dieser zu finden, und zwar in Form einer Beziehung zu etwas Transzendentem. Diese Beschreibung beinhaltet vier wesentliche Komponenten: Religion ist erstens etwas Systematisches; zweitens ist sie etwas Praktisches; sie ist drittens der Versuch einer Sinnfindung; und sie rekurriert viertens auf das Transzendente. Lassen Sie mich kurz etwas über diese vier Ideen sagen, denn in ihrer ausbuchstabierten Form bilden sie die Substanz, von der das ganze restliche Buch zehrt.

Zuerst zum Systematischen. In einem genuinen Sinn religiös zu sein heißt nicht nur, über eine wie auch immer...

Erscheint lt. Verlag 11.11.2019
Übersetzer Eva Gilmer
Sprache deutsch
Original-Titel The Meaning of Belief. Religion from an Atheist's Point of View
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Atheismus • Philosophie • Religion • STW 2349 • STW2349 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2349
ISBN-10 3-518-76312-1 / 3518763121
ISBN-13 978-3-518-76312-4 / 9783518763124
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