Die Frau des Obersts (eBook)

Roman

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
224 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-24174-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Frau des Obersts -  Rosa Liksom
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Die grausame Verbindung von Ideologie und Liebe
In einer Nacht lässt eine Frau ihr langes Leben in einem Dorf im Norden Finnlands Revue passieren. Schon mit vier Jahren schien ihr Schicksal besiegelt zu sein, als sie im Haus der Eltern den Oberst kennenlernt, ihren späteren Ehemann. Achtundzwanzig Jahre älter als sie, macht er aus ihr eine glühende Nationalsozialistin. Beide verehren sie Hitler, und mit seinen Erfolgen wächst ihre alles verzehrende Liebe zueinander. Doch mit dem Fall Nazideutschlands zieht die Gewalt in die Ehe ein - und sie muss alle Kräfte aufbieten, um sich zu befreien, von ihrem tyrannischen Mann und den falschen Versprechungen.

»Die Frau des Obersts« ist ein messerscharfes, unerbittliches Zeugnis über die Allmacht der ideologischen Verblendung, über Abhängigkeit und Unterwerfung und die Kraft der wahren Liebe.

Rosa Liksom, 1958 in Lappland geboren, lebt heute in Helsinki. Sie debütierte 1985 und zählt zu den innovativsten Gegenwartsautor*innen Finnlands, ihr Werk ist vielfach preisgekrönt. »Abteil Nr. 6« wurde 2011 mit dem wichtigsten finnischen Literaturpreis, dem Finlandia-Preis, ausgezeichnet, und die Verfilmung wurde 2021 in Cannes mit dem Grand Prix gewürdigt. Von einem wahren Schicksal inspiriert, hat ihr neuester Roman, »Die Frau des Obersts«, Kritiker wie Leser gleichermaßen begeistert. 2020 wurde Rosa Liksom von der Schwedischen Akademie mit dem Nordischen Preis für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet. Neben dem literarischen Schreiben verfolgt die Autorin eine künstlerische Karriere und malt, macht Comics und Kurzfilme.

Das Sommerlager der Lottas stand an. Ich fuhr mit dem Bus nach Kittilä und wanderte mit meinen Siebensachen tief in den Wald hinein bis zu einer Heide zwischen einer Flussschleife und einem See. Mehrere Mädels und Frauen waren dort schon bei der Arbeit, und ich machte mich mit den anderen daran, das Lager aufzubauen. Ein Stück weiter südlich lag ein Teich, der im Eiltempo von Moos erobert wurde, und im Norden ein hübscher, stiller Wildmarksee mit klarem Wasser und einem sandigen Südufer. Mich im Wald herumzutreiben war mir sehr vertraut. Mein Vater hatte sich in Deutschland für die Pfadfinderbewegung begeistert, das Ganze nach Rovaniemi mitgebracht und mich mit sieben Jahren zu den Pfadfindermädchen mitgenommen. Bei den Wölflingen lernte ich, was ein anständiger Mensch ist: zuverlässig, hilfsbereit, wohlerzogen, gehorsam, pflichtbewusst, arbeitsam, mutig und patriotisch.


Trotz all der hehren Lehren prügelten wir uns, piesackten uns gegenseitig, ärgerten die Kleineren und lernten zu leben. Weil ich eine eifrige Pfadfinderin war, durfte ich mehrmals zum Sommerlager nach Deutschland und lernte so auch die deutsche Sprache. Juden raus! Wie schön das damals in meinen Ohren klang – und wie schlimm es jetzt klingt. Wir Mädchen der Familie waren außer Pfadfinderinnen auch kleine Lottas, und zwar schon zehn Jahre bevor die eigentliche Kleine-Lotta-Organisation gegründet wurde. Unsere Familie hatte der Weißen Garde angehört und war ein Vorbild für alle Finnen.

Bei den Kleinen Lottas lernte ich, wie man einen Tisch deckt und Spitzendeckchen häkelt. Nach dem Befreiungskrieg achtzehn sammelten wir Knochen für die Seifenherstellung und Löwenzahnwurzeln als Kaffee-Ersatz. Ich klaubte überdies Zapfen zusammen, und zwar so viele, dass ich einen Stern an die Brust meines Lottakleids bekam. Die Kleider habe ich alle aufgehoben, obwohl nach dem Friedensschluss der Befehl erging, sie zu vernichten. Stattdessen habe ich sie ganz zuunterst in die Aussteuertruhe gestopft, die drüben in der Bettkammer in der Ecke steht.

Im Lager von Kittilä war die Frau des Propstes unsere Lottageneralin. Sie war fürsorglich, scharfsinnig, sorgfältig und genau, stellte sich immer auf die Seite des Lebens und gegen den Tod und war so gesehen Pazifistin. Sie brachte uns bei, wie man guten Kaffee kocht, wie man tausend Mann auf einen Schlag verproviantiert, wie man Verwundeten medizinische Hilfe leistet, wie man Geld für die Weißen Truppen sammelt. Ich lernte, dass eine Frau fleißig bis zur Selbstaufopferung und gehorsam sein und sich gründlich auf ihr künftiges Los als Soldatenmutter vorbereiten muss. Dass zum Mannsein ein Stück Tyrannei gehört und dass der Mann der Frau moralisch überlegen sein soll, dass die Liebe ein Kampf ist, der aufseiten des Mannes mit Hass anfängt und mit dem moralischen Sieg des Mannes aufhört, und dass die Frau lernen muss, das zu akzeptieren und den Mann trotzdem in aller Unschuld und Reinheit zu lieben.

Eines Tages hatten wir im Lager ein paar Stunden frei und durften machen, was wir wollten. Manche lasen in der Bibel, andere sangen Kirchenlieder, wieder andere spielten Nachlaufen. Ich spazierte zum nächstgelegenen Sumpfmoor, um zu sehen, was für ein Moltebeerenjahr es werden würde. Ob die Moltebeeren schon blühten. Ich schob mich gerade durchs Erlengestrüpp, als der trockene Heideboden unter meinen Füßen nachgab und die ganze Welt schwankte, als säße ich in einem Schaukelstuhl. Vor meinen Augen tat sich ein schrecklich schöner, weiter Sumpf auf. Wie ein Reh sprang ich von einem Bleichmoosfloß zum nächsten und kreischte wie eine Fanatikerin. Mein Gehüpfe rührte das Wasser auf, und dadurch entstiegen den Tiefen der Erde solche Gerüche und Gase, dass ich mich am Ast einer Krüppelkiefer festhalten musste, um nicht ohnmächtig zu werden. Verschiedenste Farben flimmerten in meinem Kopf, ich sah Lichter und Schatten in allen erdenklichen Spiegelungen. Kiefern mit braunen Stämmen rauschten, mit Flechten überzogene Fichten brausten, von den Felsen hallte es wider, und am Firmament kreischten Kraniche. Ich war wie im Fieber, mein Kopf hatte sich vom Hals gelöst, und ich lachte unbändig. Dann watete ich einfach weiter, planschte mit den bloßen Füßen im Wasser und spürte den Hauch des permafrostigen Sumpfes an meinen zarten Zehen. Ich war bereits bis zur Hüfte nass; zwischendurch tauchte ich sogar richtig ins Sediment ein, in die Sumpfpflanzen und in den Schlick. Unterschiedlichste Riedpflanzen und Fossilien hingen mir im Haar, aber nichts hielt mich mehr auf, die Moltebeerenblüte war längst vergessen, ich fühlte mich so frei und grenzenlos, dass der Saft aus mir herauslief und ich mir dachte, wenn jetzt der Tod kommt, dann heiße ich ihn mit offenen Armen willkommen. Ich bestand von vorn bis hinten aus überirdischer Kraft und Herrlichkeit. Die Mistkäfer, die Rosskäfer, die Schnaken, die Gnitzen und ein paar Rentierdasselfliegen summten, die Frösche quakten einladend, und die Kraniche kreischten, als hätte man ihnen in den Bauch geschossen. Ich machte die Augen zu und schwebte mit den bloßen Instinkten voran. Mein Geruchsinn zog mich nach Süden, der Tastsinn nach Westen, und als ich bei Anbruch des Abends völlig entkräftet anhielt und die Augen aufschlug, wusste ich nicht mehr, wo ich war. Trotzdem bekam ich es nicht mit der Angst zu tun, sondern betrachtete bloß meine schlammigen Beine. Sie waren voller blutiger, dunkelroter Schrammen; die scharfrandigen Blätter der Sumpfpflanzen und die Bisse verschiedener Viecher hatten sie aufgerissen. Mein ganzer Leib war mit Matsch überzogen, ich war schwarz wie eine alte Föhre nach einem Waldbrand. Als ich mir zwischen die Beine fasste, weil es da irgendwie brannte, ertastete meine Hand einen schleimigen Wulst, der dort hing. Ich hob den Rock hoch, und mir dämmerte, dass da ein Egel Blut aus dem Rand meiner Fut saugte. Er musste schon ein Weilchen genuckelt haben, weil er so prall und so prächtig war. Vorsichtig zog ich ihn ab und warf ihn auf eine grasige Bülte. Ich war vollkommen erledigt, legte mich auf ein Floß aus Torf, und da sah ich kurz die Welt so aufleuchten, wie sie irgendwann einmal sein könnte. Diese Welt wäre gleichzeitig Mann und Frau, übervoll von Spiel und Liebe, Zärtlichkeit und Genuss, alle Menschen wären zueinander nett, und jeder würde so genommen, wie er wäre, es gäbe kein Gut und kein Böse, es gäbe überhaupt keine Wörter, nur noch Wahrnehmungen.

Mit dieser herrlichen Vision schlief ich ein. Das Torffloß trug mich durch die Nacht, und als ich aufwachte, war der abnehmende Mond schon verblasst und ich ans Ufer des Teichs geworfen worden. Das Wasser im Teich war pechschwarz, ich blickte in seine bodenlose Tiefe und sah die Lichter und Schatten der Wolken sowie mich selbst auf der zitternden Oberfläche. Ich sah das gelassene Gesicht einer schönen jungen Frau und dazu einen falsch herum aufgepflanzten Fahnenmast. Daran wehte die Lottafahne. Ich drehte mich um und sah ein Stück weiter hinten unser Lager am Ufersaum. Dort lagen alle im warmen Schlaf. Ich schlich zur Feuerstelle, klaubte kreuz und quer Reiser auf, entzündete sie mithilfe von Birkenrinde und kochte eine große Kanne Kaffee. Als die anderen aufwachten, waren sie froh, weil sie sofort an die heiße Kanne konnten.

Nach dem Kittilä-Lager hatte ich einen solchen Auftrieb, dass mich nichts mehr hielt. Ich war erfüllt von der Lottaidee und der Sache der Weißen. Beide gründeten auf dem deutschen Idealismus und Überlegenheitsgefühl sowie auf Russenhass und der Vorstellung, dass es unsere Aufgabe sei, sämtliche Finnisch sprechenden Völker unserem Finnland anzuschließen. Das Fundament von alledem bestand jedoch in der heiligen Dreifaltigkeit: Heimat, Glaube, Vaterland. War mir nur recht. Ich machte es mir zur Aufgabe, alle Menschen zum Weiße-Garde-Glauben zu bekehren. Nirgendwo konnte ich den Mund halten, nicht mal am Esstisch. Meine Mutter war schlimm dran mit mir und meinen Reden, weil sie sich von Haus aus den weniger radikalen Jungfinnen zugehörig fühlte, so wie es auch bei meinem Vater als jungem Mann gewesen war. Dann kamen die Lottatage in Kemi, und da wollte ich unbedingt hin. Meine Mutter sagte erst Nein, doch als meine Schwester Rebekka versprach, auf mich aufzupassen, lenkte sie ein. Ich machte Rebekka nach, zog mir ein Lottakleid an und hielt dort die erste kleine Rede meines Lebens, in der ich behauptete, das Vaterland sei ein Wert an sich und ein Opfer, das man dafür bringe, niemals umsonst. Das Fest gipfelte in einer Parade, an der außer den Lottas stattliche, mit Uniformen ausstaffierte Angehörige der Weißen Truppen teilnahmen. Die harmonische Schönheit der Parade beflügelte unseren Kampfeswillen und inspirierte uns für den bevorstehenden Krieg gegen den Russen.

Mein Vater Juho war ins reichste Bauerngeschlecht und gleichzeitig in die einzige Kaufmannsfamilie von Kittilä hineingeboren worden. Er wurde der erste Agronom im Ort. Mein Großvater Fransi war gestorben, bevor ich zur Welt kam, und meine Oma Elve, also die Mutter meines Vaters, war eine reinblütige Samin. Sie wurde hunderteins. Sie war nicht etwa der Spross einer armseligen Fischerfamilie, sondern stammte aus einer Sippe von Rentiernomaden und hatte sich schon als Kind wie eine Prinzessin von einem Rentier die Hänge der Fjälls rauf- und runterziehen lassen. Wenn der härteste Winter vorbei war, verspritzte Oma Elve Rentiermilch in Richtung Sonne, weil das nach der Dunkelheit und Kälte Licht und Wärme brachte. Der Pfarrer von Kittilä beschimpfte sie als fleischeslüsterne Sau und als vom Teufel verhexte Hündin, weil sie sich nichts aus seinen todernsten, eintönigen Predigten machte. Ich war Elves Lieblingskind, und sie brachte mir allerhand alte Kniffe bei. Meine Mutter Ida stammte aus Helsinki und gehörte...

Erscheint lt. Verlag 24.2.2020
Übersetzer Stefan Moster
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Everstinna
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2. Weltkrieg • Abteil Nr. 6 • Beziehungsdrama • Bolschewismus • Cannes 2021 • eBooks • Emanzipation • Faschismus Finnland • Fegefeuer • Filmfestspiele Cannes • finnische Autorinnen • finnische Literatur • Finnland • Frauenschicksal • Grand Prix Cannes 2021 • Großes Preis der Jury Cannes 2021 • Hanya Yanagihara • Juho Kuosmanen • Katja Kettu • Lappland • Nationalsozialismus • Riika Pulkinnen • Sibylle Berg • Sofi Oksanen • Weltkrieg
ISBN-10 3-641-24174-X / 364124174X
ISBN-13 978-3-641-24174-2 / 9783641241742
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