Kritische Theorie der Politik (eBook)

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2019 | 1. Auflage
709 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75984-4 (ISBN)

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Kritische Theorie der Politik -
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Die Kritische Theorie prägt eine ganze Epoche des akademischen Denkens und strahlt bis in öffentliche Debatten aus. Ihr gesellschaftstheoretischer Anspruch weist über den geschichtlichen Entstehungskontext hinaus, und so geht von ihr nach wie vor eine große Anziehungskraft aus. Doch im Felde der Politik klafft im Zentrum der historischen Frankfurter Schule eine Theorielücke. Dieser Band fragt, was das für die Gegenwart bedeutet: Ist eine Kritische Theorie der Politik heute noch möglich? Woran kann sie anknüpfen? Wo muss sie sich neu erfinden? Was sind ihre Antworten auf die Fragen unserer Zeit? Der Band versammelt Beiträge einschlägiger Expertinnen und Experten wie Amy Allen, Wendy Brown, Hauke Brunkhorst, Rainer Forst, Nancy Fraser, Raymond Geuss, Oliver Marchart, Hartmut Rosa und Martin Saar und bietet ein reichhaltiges Panorama aktueller theoretischer Entwürfe, Streitfragen sowie Konstellationen.

9Zur Kritischen Theorie der Politik heute


Ulf Bohmann/Paul Sörensen*

»Die Welt ist verrückt und das bleibt so.«

(Max Horkheimer)[1]

Von der Kritischen Theorie der Politik zu sprechen ist weder voraussetzungslos noch vorbehaltlos möglich. Denn die Politik, so lautet ein weit verbreitetes Urteil, hat im Kosmos der Kritischen Theorie keinen Ort. Zwar würden nur wenige vehement behaupten wollen, dass die Kritische Theorie politisch ortlos sei, aber dort, so der immer wieder zu vernehmende Vorwurf, wo der Ort für eine theoretisch reflektierte Analyse von Politik sein könnte oder sollte, klafft im Zentrum der historischen ›Frankfurter Schule‹ um Max Horkheimer und Theodor W. Adorno eine Lücke.[2] Der vorliegende Band und die in ihm versammelten Beiträge wollen dieses 10Urteil kritisch prüfen und sich der unterstellten Leerstelle annehmen.

Dabei soll es freilich nicht (zuvorderst) darum gehen, der ›klassischen‹ Kritischen Theorie bloß ein weiteres Mal ein ›Politikdefizit‹ zu attestieren, sondern performativ zu explorieren, ob und wie eine Kritische Theorie der Politik möglich ist. Dies ist von der Intuition getragen, dass die auf die ›Gründergeneration‹ folgenden Protagonist*innen der Kritischen Theorie ebenfalls – wenn auch mitunter implizit – mit dem Topos der Politik gerungen haben, sich dabei aber einerseits politikaffiner zeigten und sich andererseits eher tentativ um einzelne Aspekte statt um das große Ganze kümmerten.[3] Eine explizite, über Teilaspekte hinausgehende Auseinandersetzung mit der Politik steht jedoch weiterhin aus, wobei es sich dabei womöglich um einen zumindest waghalsigen Anspruch, wenn nicht gar eine unmögliche Aufgabe handeln könnte. Und doch erscheint uns dieses Ansinnen des Versuches wert und angesichts der globalen Entwicklungen – wie beispielsweise die Dauerkrise des Kapitalismus, die Krise der liberalen Demokratie, die anhaltende große Armut in weiten Teilen der Welt oder der grassierende Rassismus – geradezu geboten. Danach zu fragen, ob und wie eine Kritische Theorie der Politik heute möglich ist, heißt gleichwohl nicht allein, aktuelle Entwicklungen zu reflektieren. Es impliziert zugleich zu erkunden, ob und wie unter gegenwärtigen Umständen an die klassische Programmatik der Kritischen Theorie 11politikbezogen angeknüpft werden kann – oder diese womöglich eher abgestoßen oder überwunden werden müsste.

Um die Problematiken zu erhellen, mit denen sich ein zeitgenössisches Nachdenken über die Möglichkeit und Gestalt einer Kritischen Theorie der Politik konfrontiert sieht, wollen wir uns eingangs etwas ausführlicher der Frage nach dem Ort der Politik in der Kritischen Theorie widmen (I.), um anschließend ein Panorama der in diesem Band versammelten, vielfältigen Antworten auf die orientierende Leitfrage »Was bedeutet es heute, eine Kritische Theorie der Politik zu betreiben?« anzubieten (II.). Beschlossen wird die Einführung durch knappe Erläuterungen zum Aufbau des Bandes und Kurzzusammenfassungen der enthaltenen Beiträge (III.).

I. Der Ort der Politik in der Kritischen Theorie


»Wenn Sie sich klarmachen wollen […], was man unter Dialektik, unter gesellschaftlicher Dialektik zu verstehen hat, dann ist dafür wahrscheinlich eine […] Bestimmung des Wesens des Politischen das beste Paradigma, das sich überhaupt finden lässt.«

(Theodor W. Adorno)[4]

Als Selbstbeschreibung eines auf Emanzipation zielenden Wissenschafts- und Forschungsparadigmas wurde das Etikett Kritische Theorie bekanntlich zuerst und maßgeblich von Max Horkheimer in seinem 1937 veröffentlichten Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie geprägt.[5] Dieser Aufsatz ist als Fortführung seiner 1931 gehaltenen Antrittsvorlesung als Direktor des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main zu verstehen, in der er ein interdisziplinäres und empirisch-sozialwissenschaftlich informiertes, von Hegel, Marx und Nietzsche inspiriertes Programm einer Sozialphilosophie entfaltete. Deren Gegenstandsbereich wird dabei von Horkheimer durchaus weit gefasst:

12Als ihr letztes Ziel gilt […] die philosophische Deutung des Schicksals der Menschen, insofern sie nicht bloß Individuen, sondern Glieder einer Gemeinschaft sind. Sie hat sich daher vor allem um solche Phänomene zu bekümmern, die nur im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Leben der Menschen verstanden werden können: um Staat, Recht, Wirtschaft, Religion, kurz um die gesamte materielle und geistige Kultur der Menschheit überhaupt.[6]

Diese weite Bestimmung ist insofern folgerichtig, als die Arbeit des Instituts für Sozialforschung, wie ebenfalls von Horkheimer im Vorwort zur ersten Ausgabe der Zeitschrift für Sozialforschung formuliert, auf eine »Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft als ganzer«[7] zielt. Anstatt der ›traditionell-theoretisch‹ praktizierten akademischen Arbeitsteilung in einzelne Fachwissenschaften anheimzufallen, gelte es, einen disziplinintegrativen Ansatz zu elaborieren, da nur ein solcher in der Lage sei, Gesellschaft in ihrer Totalität zu erfassen, zu begreifen und zu kritisieren. Wurden Staat und Recht sowie die zugehörigen Disziplinen in der Antrittsvorlesung von 1931 noch umstandslos als Gegenstandsbereiche und Bestandteile eines Projekts ›Kritische Theorie‹ genannt und die Arbeit Carl Grünbergs, Horkheimers Vorgänger auf dem Posten des Direktors, als Professor für »wirtschaftliche Staatswissenschaften«[8] gewürdigt, so finden Staats-, Rechts- und Politikwissenschaft in besagtem »Vorwort« der Zeitschrift für Sozialforschung von 1932 schon keine explizite Nennung mehr – anders als Philosophie, Soziologie, (Sozial-)Psychologie, Ökonomie und Geschichtswissenschaft.[9] In dieser (impliziten) Aussparung politik- bzw. staatswissenschaftlicher Zugänge scheint eine Ausrichtung des Projekts ›Kritische Theorie‹ bereits angelegt, die von späteren Untersuchungen des ›Schulzusammenhangs‹, wie eingangs erwähnt, auch vielfach diagnostiziert wurde. So konstatierte etwa Furio Cerutti eine »ausgebliebene Fortführung der kritischen Theorie auf dem Terrain einer Theorie der Politik« sowie ein »Ausblenden jeglicher staatsrechtlichen 13Überlegungen«,[10] und auch Helmut Dubiel, von 1989 bis 1997 selbst Direktor des Instituts für Sozialforschung, gelangt zu der Schlussfolgerung, dass »Reflexionen über Institutionen politischer Willensbildung […] in der klassischen kritischen Theorie keinen Ort«[11] haben. Flankiert wurden derartige Einschätzungen von Vorwürfen der Politikabstinenz gegen die Vertreter der sogenannten ersten Generation der Kritischen Theorie, die ihren wohl prominentesten Ausdruck in Georg Lukács’ Aperçu vom ›Grand Hotel Abgrund‹ fanden, in das sich die linke Intelligenz zurückgezogen habe und von wo sich der Niedergang der Welt zwar trefflich analysieren, nicht aber politisch bekämpfen oder gar abwenden lasse.[12]

Der Ort der Politik in der Kritischen Theorie scheint demzufolge in mehrerlei Hinsicht eine Leerstelle zu sein. Diese Diagnose ist jedoch nicht ohne weiteres überzeugend und basiert womöglich auf Verkürzungen, die der spezifischen Anlage der Kritischen Theorie nicht gerecht werden. Insofern die spezifische Form der Kritischen Theorie als dialektisches Theorieprojekt auch ein dialektisches Verständnis von Politik nahelegt, welches ›notwendigerweise‹ auch widersprüchliche Folgerungen, Haltungen und Konsequenzen im 14Umgang mit sowie dem Nachdenken über das Politische bedingt, wäre unseres Erachtens treffender wohl zumindest von Ambivalenzkonstellationen zu sprechen, die sich mitunter in Form divergierender...

Erscheint lt. Verlag 27.10.2019
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Politische Theorie
Schlagworte Frankfurter Schule • Hartmut Rosa • Rainer Forst • STW 2263 • STW2263 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2263 • Wendy Brown
ISBN-10 3-518-75984-1 / 3518759841
ISBN-13 978-3-518-75984-4 / 9783518759844
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