Symbolbilder des Holocaust (eBook)

Fotografien der Vernichtung im sozialen Gedächtnis
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2019 | 1. Auflage
324 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-44298-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Symbolbilder des Holocaust -  Sebastian Schönemann
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Die Erinnerungskultur an den Holocaust befindet sich im Umbruch. Nur noch wenige Überlebende können von ihren Erfahrungen berichten und schon heute ist das kollektive Gedächtnis im hohen Maße medial vermittelt. Im Zuge dieses Wandels nehmen Bilder an gesellschaftlicher Bedeutung weiter zu. Doch obwohl die gedächtnisbildende Macht von Bildern außer Frage steht, ist über ihre soziale Wirkung bislang kaum etwas bekannt. In seiner Studie untersucht Sebastian Schönemann die Formen medialen Erinnerns empirisch: Wie erinnern wir uns an den Holocaust über Bilder und wie prägen sie das soziale Gedächtnis? Anhand vergleichender Fallanalysen werden dabei nicht nur die Wirkungsweisen der Symbolbilder, sondern auch ihr sozialer Sinn aufgezeigt.

Sebastian Schönemann ist Soziologe und Politikwissenschaftler. Er promovierte an der Universität Koblenz-Landau. Seit 2020 ist er Leiter Wissenschaft und Ausstellung sowie stellvertretender Leiter der Gedenkstätte Hadamar.

Sebastian Schönemann ist Soziologe und Politikwissenschaftler. Er promovierte an der Universität Koblenz-Landau. Seit 2020 ist er Leiter Wissenschaft und Ausstellung sowie stellvertretender Leiter der Gedenkstätte Hadamar.

Inhalt
1Einleitung9
Teil I: Forschungsgegenstand und Methode
2Bildgedächtnis und Holocaust21
2.1Geschichte und Gebrauch der Fotografien21
2.1.1Quellen der Bildüberlieferung21
2.1.2Wandlungsphasen des Bildgedächtnisses30
2.2Form und Formen der Symbolisierung40
2.2.1Rituelle Wiederholung und symbolische Verdichtung40
2.2.2Symbolformen43
2.3Aufbau des visuellen Gesprächsanreizes49
3Erinnern im Alltag: Das soziale Gedächtnis63
3.1Gedächtnis und Generation63
3.1.1Soziales Erinnern63
3.1.2Generationelle Lagerung und Erfahrung67
3.2Empirische Generationen70
3.2.1Historische Generationen nach 194570
3.2.2Genealogische Beziehungen74
3.3Erhebungsschema: Generationen im Vergleich77
4Methodische Herangehensweise und empirischer Zugang81
4.1Forschungsansatz und -prinzipien81
4.2Datenerhebung86
4.2.1Methode und Anwendung des Gruppendiskussionsverfahrens86
4.2.2Feldzugang und Durchführung der Gruppendiskussionen89
4.2.3Sampling92
4.3Auswertung94
4.3.1Sequenzanalyse und Fallrekonstruktion94
4.3.2Idealtypenbildung97
4.3.3Vergleichende Fallkontrastierung und -generalisierung99
Teil II: Empirische Analysen
5Leerstelle, Latenz und Konfrontation: die Gruppe »Möwe«105
5.1Profil der Gruppe105
5.2Familiäre Tradierungsbrüche:
»was ich im Nachhinein […] gehört habe«106
5.3Gedächtnisort Buchenwald: »die meisten Bilder […] hat man da das erste Mal gesehen«128
5.4Der Gedenkstättenbesuch als geschichtskulturelles Schlüsselerlebnis137
5.5Zusammenfassung der Fallstruktur und Typenbildung147
6Die Vergangenheit zwischen Gedächtnis und Geschichte: die Gruppe »Schwalbe«151
6.1Profil der Gruppe151
6.2Rationalisierung des Sehens und seine Krise152
6.3Belastende Bilder: »da habe ich immer Alpträume gehabt«165
6.4Irritation und Interpretation: »Bei diesem Bild hier verstehe ich was nicht.«174
6.5Zusammenfassung der Fallstruktur und Typenbildung180
7Erinnerung und Moral: die Gruppe »Pelikan«185
7.1Profil der Gruppe185
7.2Die Unvorstellbarkeit der Verbrechen: »ist für mich nicht nachvollziehbar«186
7.3Gedankenexperiment: »und du hast keine Vorkenntnisse«196
7.4Täuschung und Moral: »(d)a haben sie uns […] einen mit in die Tasche gelogen«206
7.4Zusammenfassung der Fallstruktur und Typenbildung217
8Exkurs: Das Foto des Torhauses als visueller Trauerort223
8.1Profil der Gruppen223
8.2Kontrastiver Fallvergleich223
8.3Zusammenfassung: Repräsentation der Abwesenheit228
9Geschichte als ästhetische Erfahrung: die Gruppe »Kolibri«231
9.1Profil der Gruppe231
9.2Die Suche nach Affektion: »Das Spannende ist eigentlich«232
9.3Punctum und Ästhetik: »Und die zweite Frau habe ich erst gar nicht gesehen«243
9.4Zusammenfassung der Fallstruktur und Typenbildung258
10Vergleich und Generalisierung der Ergebnisse265
10.1Sinnhorizonte der Vergangenheit266
10.2Leerstellen der Sinnbildung272
10.3Rezeption und Repräsentation278
11Schluss und Ausblick281
11.1Zeitgebundenheit des Deutens und Sehens282
11.2Symbolische Kommunikation285
11.3Kulturbedeutung und Wirkung der Bilder287
Dank291
Anhang293
Bildübersichten294
Abbildungsnachweise300
Transkriptionszeichen303
Literatur304

1Einleitung Seit den 1980er Jahren hat sich der Holocaust zum zentralen historischen Referenzereignis und zur »negative(n) Ikone« der Gegenwart entwickelt. Dieser unter anderem als »memory boom« bezeichnete Bedeutungszuwachs der Geschichte des Holocaust fällt mit zwei erinnerungskulturellen Wandlungsprozessen zusammen: die Ära der Zeitzeugen und die Medialisierung der Vergangenheit. Während die Begegnungen mit den Überlebenden immer seltener werden, nimmt die visuelle Präsenz der historischen Ereignisse im Alltagsleben durch die fortschreitende Verbreitung technischer Medien weiter zu. Die Vergangenheit tritt uns - ob in Filmen, im Fernsehen oder auf Webangeboten - vor allen Dingen in Bildern entgegen. Sie ist dadurch sichtbarer geworden, als sie es jemals war, und es entsteht das Phänomen der gesteigerten Gegenwart der Geschichte: Obwohl sich die Vergangenheit zeitlich entfernt, rückt sie medial näher und dies insbesondere durch Bilder. Vor allem die historischen Fotografien dienten und dienen als Blaupausen der öffentlichen Visualisierung der Vergangenheit. Von den mehr als zwei Millionen überlieferten Fotografien des Holocaust gelangten jedoch immer nur dieselben in den medialen Umlauf. Infolge ihrer wiederholten Vervielfältigung bildete sich ein Bilderkanon der historischen Ereignisse heraus, dem sich insbesondere geschichts- und kulturwissenschaftliche Untersuchungen in den vergangenen Jahren zuwandten. Zu diesem Bildgedächtnis des Holocaust gehören Symbolbilder und Bildsymbole, die sich tief in das öffentliche Bewusstsein eingeschrieben haben und vor dem inneren Auge unmittelbar abrufbar sind: die Fotografien des Torhauses von Auschwitz-Birkenau, des Jungen aus dem Warschauer Ghetto oder von Anne Frank, genauso wie der gelbe Stern, der Stacheldraht oder der gestreifte Häftlingsanzug. Wie diese Bilderwelt aber gesehen und gedeutet wird, ist trotz der umfänglichen Forschungen über das kollektive Gedächtnis zum Holocaust ein weitgehend unbekanntes Terrain. Von dieser offenen Frage und ihrer empirischen Beantwortung handelt das vorliegende Buch. Dass Bildern eine überaus bedeutsame Rolle im Prozess des Erinnerns zukommt, steht gemeinhin außer Frage. Zumeist unter Verweis auf Aby Warburg und Walter Benjamin wird ihre gedächtnisstrukturierende Wirkung hervorgehoben. So spricht Jan Assmann von der »mnemische(n) Energie«, die Bildern innewohnt, Erinnerungen anzustoßen und affektuell aufzuladen. Sie lassen sich sogar als die konstitutive Prägeinstanz des Gedächtnisses betrachten, wie Walter Benjamins Wendung »Geschichte zerfällt in Bilder, nicht Geschichten« betont. Und Harald Welzer expliziert: »Das Gedächtnis braucht die Bilder, an die sich die Geschichte als eine erinnerte und erzählbare knüpft.« Die Bilder erscheinen den Einzelnen dabei in der Regel als gegeben, als Teil ihrer »world taken for granted«, und nehmen als »soziale Tatsache« im Sinne Émile Durkheims Einfluss auf ihre Deutungen der Vergangenheit. Doch obwohl die Bilder unsere Vorstellungen der Vergangenheit des Holocaust strukturieren und ihre gedächtnisbildende Macht unbezweifelt ist, ist bislang kaum etwas darüber bekannt, auf welche Art und Weise die Bilder wirken und wie wir uns über sie erinnern. Das vorliegende Buch widmet sich daher dem »erinnernden Sehen« und fragt danach, welcher »subjektiv gemeinte Sinn« den Symbolbildern des Holocaust zugeschrieben wird und wie diese Bilder wiederum die Sinngebungen ihrer Betrachter/innen »objektiv« strukturieren. In Form einer empirischen Studie nähert es sich dem medialen Erinnern und zeichnet die »Kulturbedeutung« der Bilder im sozialen Gedächtnis Deutschlands nach. Während die geschichtswissenschaftlichen Studien zum Bildgedächntis des Holocaust zumeist die Entstehung und den späteren Gebrauch der überlieferten Fotografien untersuchen, setzt diese Arbeit anders an. Sie versteht die Bilder als Symbole. Durch ihre wiederholte Reproduktion haben die Bilder einen nicht selten beklagten historischen Informationsschwund erfahren, doch dieser geht mit einem symbolischen und das heißt vor allen Dingen sozialen Bedeutungszuwachs einher. Als Symbole - um mit Hans-Georg Soeffner zu sprechen - harmoniseren sie gegenäufige Erinnerungen und ermöglichen dabei zuallerst historische Sinnbezüge. Diese Sinnzuschreibungen und Vergangenheitsdeutungen in ihrer Vielschichtigkeit empirisch zu rekonstruieren, ist das Anliegen meiner Studie. Um das Sehen und Deuten der Symbolbilder nachvollziehen zu können, bedarf es zudem einer weiteren Schärfung des theoretischen Bezugsrahmens. Das Betrachten der Bilder lässt sich dabei mithilfe der visuellen Soziologie und deren Grundannahme von der kulturellen, sozialen und historischen Überformung des Sehens vertiefend beschreiben. Zwar erscheint uns das Sehen durch seine Unmittelbarkeit als natürlich, doch das Auge - so Nelson Goodman - »beginnt immer schon erfahren seine Arbeit«. Der menschliche Blick ist einer medialen wie kulturellen Sozialisation unterworfen. Nur wird man sich dessen kaum gewahr, weil sich das Sehen in Augenblicken vollzieht und kaum reflektiert wird. Der visuelle Sinn ist jedoch einerseits an verschiedene mediale »Sehschulen« (unter anderem Fotografie, Film, Video) gewöhnt und hat für sie entsprechende habituelle Sehroutinen ausgebildet. Anderseits baut er auf kulturell erworbenen Bilderfahrungen auf. So unmittelbar das Sehen also auch erfolgt, es beruht in vielfacher Hinsicht auf dem »visuellen Wissen« der Akteure und den von ihnen gesammelten Erfahrungen. Die Frage nach dem Deuten und Wirken der Symbolbilder des Holocaust richtet sich somit auf die »Sozialität des Sehens« und die Erfahrungen der Akteure im Umgang mit der Vergangenheit. Meine Fragestellung führt damit zu den alltäglichen, beiläufigen und informellen Formen des Erinnerns im sozialen Gedächtnis hin. Um sie zu untersuchen, sind weniger die von Aleida und Jan Assmann beschriebenen Tradierungsformen der Vergangenheit, sondern die Erfahrungshintergründe der Akteure von Belang. Zur Beschreibung und Erschließung ihrer vor allem zeitgeprägten Erfahrungen greife ich dabei auf den Begriff der Generation von Karl Mannheim zurück. Einerseits erlaubt er die Analyse der gemeinsamen Erfahrungssättigung benachbarter Geburtsjahrgänge, die in ihrem Denken, Fühlen, Handeln und eben auch Sehen mitschwingt. Andererseits unterscheiden sich die Erfahrungen mit der Vergangenheit des Holocaust empirisch am stärksten zwischen den Generationen. Die zeitliche wie verwandtschaftliche Nähe und Ferne zu den historischen Ereignissen sind wesentlich dafür, wie sich die Akteure der Vergangenheit nähern. Empirische Untersuchungen zur sozialen Aushandlung und Verarbeitung der Vergangenheit widmen sich daher zumeist der Generationenabfolge und den Beziehungen zur sogenannten Erlebnis- bzw. Ereignisgeneration des »Dritten Reiches«. Auch die hier unternommene Studie greift diese Erkenntnis auf und ist entsprechend altersstrukturiert aufgebaut. Sie untersucht das visuelle Erinnern an den Holocaust und zwar anhand typischer Generationsklassen. Empirisch betritt meine Arbeit Neuland und schließt sich deshalb dem interpretativen Ansatz qualitativer Sozialforschung an. Sie schlägt einen offenen, explorativen und gegenstandsbezogenen Forschungsweg ein. Um das Phänomen der visuellen Erinnerungs- und Sinnbildung in seiner Breite zu erschließen, geht die Untersuchung vergleichend vor und zieht voneinander verschiedene Fälle für die Analysen heran, deren Unterschiede und Gemeinsamkeiten sie rekonstruktiv herausarbeitet. Der empirische Zugang erfolgt über Gruppendiskussionen, weil der soziale Sinn des Erinnerns durch die wechselseitigen Bezugnahmen im Gespräch weitaus deutlicher zutage tritt. Grundlage der Diskussion ist ein visueller Gesprächsanreiz, der aus sechs historischen und zugleich symbolisch überformten Fotografien des Holocaust besteht. Anhand der aufgezeichneten Diskurse werden die geäußerten Vergangenheitskonstruktionen der Gruppen, die ihnen zugrundeliegenden Erfahrungen und Rezeptionsstile sowie deren Sehgewohnheiten über die Sequenzanalyse besonders aussagekräftiger Gesprächspassagen hermeneutisch rekonstruiert und deren Sinn- und Handlungsverlauf idealtypisch beschrieben. Die Einzelfallanalysen werden kontrastiv miteinander verglichen und in einer Typologie zusammengeführt, um fallübergreifende, also strukturelle Sinnmuster des Bildersehens und -deutens fassbar zu machen. Die Typologie ist das Kernergebnis meiner empirischen Studie und soll dabei helfen, Antworten darauf zu geben, was es heißt, sich über und in Bildern an den Holocaust zu erinnern. Der Aufbau dieses Buches gliedert sich in zwei Hauptteile. Die Kapitel 2 bis 4 gehen auf das Bildgedächtnis zum Holocaust, die Analysekategorie der Generation sowie die methodische Herangehensweise meiner Studie ein, während die Kapitel 5 bis 11 die empirischen Fallanalysen, ihre typologische Generalisierung und die Schlussbetrachtung umfassen. Nach der Einleitung beleuchtet das zweite Kapitel zunächst den zentralen Gegenstand meiner Studie näher. Es geht überblicksartig auf die Überlieferung der historischen Fotografien ein und stellt sie entsprechend ihrer Bildproduzenten vor. Anschließend widmet sich das Kapitel der Herausbildung und dem Wandel des kollektiven Bildgedächtnisses nach 1945. Es werden die Phasen des öffentlichen Gebrauchs der Fotografien umrissen und die für sie typischen Symbolbilder aufgezeigt. Der gedächtnisformende Prozess der wiederholten Vervielfältigung einiger weniger Bilder und die zu ihm vorliegenden Erklärungsansätze rücken danach in den Mittelpunkt der Betrachtung. Anhand der Forschungsliteratur werden schließlich mit der Ikone, dem Symbol und dem Sujet die typischen Formen der Symbolisierung im Bildgedächtnis erläutert. An ihnen orientiert sich die abschließende Auswahl und Zusammenstellung des visuellen Gesprächsanreizes für die Gruppendiskussionen. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit dem Gedächtnis der Generationen. Begrifflich-theoretisch stellt es zunächst das soziale Gedächtnis als Ansatz des Verstehens alltäglichen Erinnerns vor. Weil das Erinnern im hohen Maße erfahrungsgebunden und darin zeitgeprägt ist, wird im Anschluss der Begriff der Generation von Karl Mannheim eingeführt. Danach porträtiert das Kapitel die empirischen Generationen in Deutschland nach 1945. Ihrer Beschreibung folgt die Darstellung intergenerationeller Konfliktlagen und Dynamiken in Bezug auf die Zeit des »Dritten Reiches« und seiner Verbrechen. Diese genealogische Perspektive auf eine erste Generation der Zeitgenossen des Nationalsozialismus sowie eine zweite und dritte Generation ihrer Kinder und Enkelkinder hebt die familiären Nachwirkungen des Nationalsozialismus, genauso wie den zunehmenden zeitlichen Abstand zum historischen Geschehen hervor. Sie dient als Grundlage für den Entwurf des Erhebungsschemas der Untersuchung, das am Kapitelende vorgestellt wird. Wie die Untersuchung methodisch umgesetzt wurde, zeigt das vierte Kapitel. Eingangs erläutert es die methodologisch interpretative Grundhaltung meiner Arbeit. Denn um das Sehen der Bilder zu erforschen, muss zuallererst der ihnen zugeschriebene Sinn verstehend rekonstruiert werden. Meine Untersuchung folgt daher dem Forschungsansatz der qualitativen Sozialforschung. Anschließend wird die Methode und Anwendung des Gruppendiskussionsverfahrens sowie der empirische Zugang zum Feld dargestellt. Nach der Darstellung der Erhebung, Transkription und Anonymisierung der Diskussionsdaten geht das Kapitel dazu über, die Prinzipien der sequentiellen Text und Fallinterpretation zu umreißen. Daraufhin wird das Verfahren der Idealtypenbildung vorgestellt, das zur Verallgemeinerung der feinanalytisch herausgearbeiteten Fallstrukturen dient. Zuletzt widmet sich das Methoden-Kapitel dem Vorgehen beim Vergleich der rekonstruierten Ergebnisse und ihrer Generalisierung über die Konstruktion einer Typologie. Der zweite Teil des Buches gibt die empirischen Analysen wieder. Diese beginnen mit der Gruppe »Möwe«, die sich aus Angehörigen der Kriegs- und Nachkriegskinder-Generation zusammensetzte. Sie war die älteste Diskussionsgruppe der Studie, die sich im Gegensatz zu allen anderen so gut wie gar nicht auf die ausgelegten Fotografien einließ. Dieses diskursive Ausblenden der Bilder warf grundlegende Fragen auf, die der vertieften Analyse schon zu Beginn der Studie bedurften. Wie die Fallanalyse im fünften Kapitel aufzeigt, bewegt sich die Gruppe nahezu ausschließlich innerhalb der eigenen Erinnerungen an ihre Kindheit nach dem Zweiten Weltkrieg und die spätere Geschichtssozialisation in der DDR. Die Gruppe spricht über ihre Erfahrungen im Umgang mit der national-sozialistischen Vergangenheit, nicht aber über die Geschichte und klammert vor dem Hintergrund dieser Sinnlogik auch die historischen Fotografien aus. Im Anschluss galt es, die Bedeutung der Familienvergangenheit auf das Rezeptionsverhalten an einem möglichst ähnlichen Fall zu vertiefen. Das sechste Kapitel beschäftigt sich daher mit der etwas jüngeren, aber ebenfalls in der DDR sozialisierten Gruppe »Schwalbe«. Anders als Gruppe »Möwe« geht sie kaum noch auf ihre Familien ein. Von weitaus größerem Gewicht ist die eigene Geschichtssozialisation, die sie rückblickend als überfordernde Konfrontation mit dem Schrecken der Lager und dem Leid der Häftlinge umschreiben. Die Fotografien führen zu diesen beunruhigenden Erinnerungen hin und sie lösen selbst Deutungsprobleme aus, die die Gruppe immer wieder beschäftigten und die sie nur in Teilen lösen konnten. Die Einhegung dieser sich wiederholt einstellenden rezeptiven Krisen ist das strukturierende Muster der Sinngebungen von Gruppe »Schwalbe«. Der offenkundige Nachhall der antifaschistischen Geschichtssozialisation bei Gruppe »Schwalbe« musste kontrastiv verglichen werden. Das siebte Kapitel wendet sich daher der gleichaltrigen, aber in Westdeutschland aufgewachsenen Gruppe »Pelikan« zu. Ähnlich der Gruppe »Schwalbe« thematisierte auch die Gruppe »Pelikan« nur noch am Rande ihre Familien. Die westdeutsche Herkunft führte allerdings zu einem gänzlich anderen Gesprächsverlauf. Gruppe »Pelikan« beschreibt die Auseinandersetzungen mit den Zeitgenossen des »Dritten Reiches« in der Bundesrepublik und mahnt auf der Grundlage dieser Erfahrung ein Erinnern an die nationalsozialistische Vergangenheit an. In einem hoch symbolischen Diskurs bezieht sie sich unter anderem auf die Ikone des Torhauses von Auschwitz-Birkenau und bindet sie in ihre Sinngebungen ein. Die Verweise auf die Fotografie dienten der Gruppe dazu, die für sie typische rituelle Erinnerung an den Holocaust und so auch die Trauer um die Toten auszudrücken. Diese besondere Symbolik des Torhaus-Fotos vertieft das achte Kapitel anhand eines selektiven Fallvergleiches. Wie sich zeigt, wirkt die Fotografie vor allen Dingen als symbolischer Trauerort, dessen Menschenleere ein Gedenken an die Toten ermöglicht und zugleich den Anblick von Leid erspart. Mit dem neunten Kapitel und der jüngsten Gruppe »Kolibri« enden schließlich die empirischen Fallanalysen. Anders als alle anderen Gruppen stellte die Gruppe »Kolibri« keine verwandtschaftlichen Bezüge zur Zeit des Nationalsozialismus mehr her. Sie nähert sich einer fern gewordenen Vergangenheit an, zu der sie einen Zugang sucht. Die Gruppe befasste sich dabei eingängig mit den Fotografien, die sie deutete, hinterfragte und auf sich wirken ließ. Vor allem eine Fotografie aus dem Ghetto Lodz sollte ihre Aufmerksamkeit bannen. Das Foto galt ihnen als ein echtes, weil dokumentarisches Bildzeugnis, das die historischen Geschehnisse so zeigt, wie sie waren, und an dem die Gruppe das für sie typische Bedürfnis nach historischer Authentizität stillen konnte.

Erscheint lt. Verlag 20.11.2019
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte 1918 bis 1945
Schlagworte Alternative zu Zeitzeugeninterviews • Bildgedächtnis • Empirische Analyse • Erinnerung • Erinnerungskultur • Foto • Funktion von Gedenkstädten • Gedenken • Generationen • Judenverfolgung • Judenvernichtung • kollektive Erinnerung • Krieg • Kulturelles Gedächtnis • Massenvernichtung • Nachkriegsgeneration • Nationalsozialismus
ISBN-10 3-593-44298-1 / 3593442981
ISBN-13 978-3-593-44298-3 / 9783593442983
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