Rosa Riedl Schutzgespenst (eBook)
208 Seiten
Fischer Sauerländer Verlag
978-3-7336-0368-7 (ISBN)
Christine Nöstlinger (1936-2018) wurde in Wien geboren und wuchs im Arbeitermilieu der Wiener Vorstadt auf, wo sie nach eigener Aussage als ?besseres Kind? galt, da ihre Mutter einen Kindergarten leitete und ihr Großvater ein eigenes Geschäft besaß. Sie studierte Graphik und widmete sich seit 1970 ganz dem Schreiben. Sie hat über hundert Bücher für Kinder und Jugendliche veröffentlicht, die in viele Sprachen übersetzt und u. a. mit dem Hans-Christian-Andersen-Preis und dem Astrid-Lindgren-Gedächtnispreis für Literatur gewürdigt wurden.
Christine Nöstlinger (1936-2018) wurde in Wien geboren und wuchs im Arbeitermilieu der Wiener Vorstadt auf, wo sie nach eigener Aussage als ›besseres Kind‹ galt, da ihre Mutter einen Kindergarten leitete und ihr Großvater ein eigenes Geschäft besaß. Sie studierte Graphik und widmete sich seit 1970 ganz dem Schreiben. Sie hat über hundert Bücher für Kinder und Jugendliche veröffentlicht, die in viele Sprachen übersetzt und u. a. mit dem Hans-Christian-Andersen-Preis und dem Astrid-Lindgren-Gedächtnispreis für Literatur gewürdigt wurden.
4. Kapitel, in dem sich die Rosa Riedl zum ersten Mal seit langer Zeit wieder bemerkbar macht, was aber von Nasti falsch gedeutet wird.
In der nächsten Woche – nach dem Schwimmunterricht – kam es zu einem Streit zwischen Nasti und Tina. In der Kabine, beim Umziehen, fing es an. Tina stänkerte. Nasti kämmte vor dem Spiegel die nassen Haare. Tina sagte: »Würden sich das Fräulein Anastasia etwas beeilen? Andere Leute haben auch nasse Haare!« Dabei beeilte sich Nasti ohnehin.
Dann, da waren sie schon in der Wartehalle bei den anderen, sagte Tina: »Das Fräulein Anastasia hat einen verhatschten Schuhabsatz!« Nasti kann ihren vollen Vornamen nicht ausstehen, und das wusste Tina ganz genau! Und weil sie es so genau wusste, sagte sie noch: »Was hat sich deine Mama eigentlich gedacht, wie sie dir den Namen gegeben hat? Hat sie gemeint, sie bringt die letzte Zarentochter auf die Welt?«
Alle, die um Nasti und Tina herumstanden, kicherten. Nur der Michel kicherte nicht. Denn der hieß mit vollem Vornamen: Wladimir Stanislaus Michael. Der verstand etwas vom Kummer mit seltenen Namen. Aber dass eines unter zwei Dutzend Kindern nicht lachte, war kein Trost für Nasti.
Vielleicht wäre es ein Trost gewesen, hätte sie gewusst, warum Tina so bös stänkerte. Tina hatte nämlich eine Wut auf Nasti, weil Nasti viel hübscher und viel schlanker war als sie selber. Und im Schwimmbad war ihr das wieder einmal arg aufgefallen. Außerdem hatte Nasti noch zu Tina gesagt: »Tina, mir scheint doch, du isst zu viel, ich glaub, du hast ein paar Kilo zugenommen!« Nasti hatte sich nichts Böses dabei gedacht. (Aber Tina denkt sich ja auch nichts Böses, wenn sie vor Nasti über Angsthasen lacht.)
Nasti wusste nicht, wie sie sich gegen Tinas Sticheleien wehren sollte, also machte sie ihr hochnäsiges Gesicht, sagte zum Michel »Servus« und ging einfach weg. Sie ging die Straße hinunter, nach Hause, und sie überlegte, ob sie sich nicht umtaufen lassen könnte. Und dabei fiel ihr ein, dass sie ja gar nicht richtig getauft war. Mit Kirche und Taufbecken und Pfarrer. Weil sie ja konfessionslos war. Und da musste sie wieder an den Schutzengel denken. Sie dachte: Hätte ich einen Schutzengel, dann hätte der drauf geschaut, dass ich einen ordentlichen Namen kriege! Schutzengel sind sicher zu so etwas da! Mein Schutzengel hätte es nicht zugelassen, dass sie mich Anastasia nennen! Der hätte es nicht zugelassen, dass ich einen Namen habe, über den alle Kinder lachen!
Nasti stellte sich die Sache mit dem Schutzengel und dem besseren Namen ganz genau vor. Deutlich sah sie die Szene vor sich: Da war das Standesamt, und ihr Papa stand vor der Tür zum Standesbeamten. Einen Zettel hatte er in der Hand, auf den hatte die Mama mit großen Blockbuchstaben ANASTASIA geschrieben. Der Papa schaute den Zettel an und wiegte den Kopf hin und her und murmelte sich selber zu: »Na gut, wenn meine innig geliebte Frau unsere innig geliebte Tochter unbedingt so nennen will, dann soll es mir recht sein!« Und dann klopfte der Papa an die Tür und ging in das Zimmer vom Standesbeamten hinein. Aber hinter dem Papa – ohne dass es jemand merkte – wieselte der Schutzengel nach. Ein langer, bleicher, schmaler Schutzengel war das. Einer mit kräftigen Flügeln, und in den Händen hatte er eine Lilie an einem langen Stängel. »Wie soll das Kind heißen?«, fragte der Standesbeamte den Papa. Der Papa lächelte und schaute auf seinen Zettel. Aber da kam der Schutzengel ganz dicht zum Papa heran und wischte sachte-sachte mit dem Lilienstängel über den Zettel drüber. Und wischte das STASIA aus. Das ANA ließ er stehen. Der Papa wurde ganz verwirrt. Er stammelte »Ana-«, und der Standesbeamte nickte ihm freundlich zu. Der Papa probierte es noch einmal. Und fast hätte er es auch geschafft, aber der Schutzengel hob ein ganz kleines bisschen den einen Flügel und wackelte mit dem Flügel vor Papas Mund herum und wischte ihm ganz einfach das »-stasia« von den Lippen. Und der Standesbeamte nickte wieder und sprach: »Ja, mein Herr, da beglückwünsche ich Sie! Anna ist ein wunderschöner Name!« Und dann trug der Standesbeamte »Anna« in die Geburtsurkunde ein. Und was in eine Geburtsurkunde einmal eingetragen ist, das gilt für immer! Gerade als Nasti mit der Schutzengel-Geschichte so weit gekommen war, schlug ihr etwas gegen die Wade am linken Bein. Das war Tinas Schwimmbeutel, und Tina rief: »Du beleidigte Leberwurst du, man wird doch noch ein bisschen Spaß machen dürfen, oder?«
Nasti gab Tina keine Antwort. Erstens war sie noch immer beleidigt. Und zweitens wollte sie sich die Schutzengel-Geschichte weiter ausdenken. Tina sagte: »Du bist ein langweiliges Stück! Dauernd spielst du beleidigt!« Sie schlug Nasti wieder mit dem Schwimmbeutel gegen die Beine. Das tat zwar kaum weh, aber es machte Nasti wütend, und darum rief sie: »Lass mich gefälligst in Ruhe, du dumme Kuh!«
»Wer ist da eine dumme Kuh!«, schrie Tina. »Du bist eine dumme Kuh, ein dummer Ochs, ein dummes Schaf?« Jetzt schlug sie den Turnbeutel so stark gegen Nastis Beine, dass es wirklich weh tat. Außerdem streckte sie ihr die Zunge raus, und mit der Hand, die den Schwimmbeutel nicht hielt, boxte sie Nasti in die Rippen.
Nasti überlegte, ob sie sich auf eine Rauferei einlassen konnte. Einerseits war Tina doppelt so dick und zumindest doppelt so stark wie Nasti, anderseits aber waren sie von Nastis Haustor nur mehr zehn Schritte weit entfernt.
Nasti beschloss, es auf einen Kampf ankommen zu lassen. Zuerst rief sie: »Halt den Mund, du dicker Luftballon!« Dabei machte sie zwei große Schritte. Dann machte sie noch zwei Schritte, bei denen sie je einen Boxer in die Rippen bekam. Dann machte sie zwei Schritte, bei denen sie rief: »Hau ab, ich will dich überhaupt nie mehr sehen!« Dann machte sie einen Schritt, und da war das Haustor nur mehr drei Schritte weit weg, und da holte sie aus und gab Tina eine Ohrfeige.
Tina ließ vor Staunen ihren Schwimmbeutel fallen, und Nasti rannte ins Haus hinein. Sie lief die Treppen hinauf und klingelte an der Wohnungstür. Schlüssel hatte sie leider keinen mit.
Aber in der Wohnung rührte sich rein gar nichts.
(Nastis Mutter war nämlich in diesem Augenblick in der Trafik und sagte gerade zur Trafikantin: »So, nun muss ich aber laufen, sonst kommt die Nasti aus dem Schwimmen und steht vor der Tür und kann nicht hinein!«)
Nasti klingelte ununterbrochen. Dann begann sie auch an der Nachbartür, bei der Frau Berger, zu klingeln, aber auch da rührte sich nichts. Nur unten, im Hausflur, rührte sich etwas. Da schnaufte Tina empört und kam zur Treppe. Nasti hörte sie heraufkommen und sagen: »Das sag ich ihrer Mama! Das sag ich ihrer Mama!«
Nasti überlegte, ob sie auf den Dachboden hinaufflüchten sollte, aber vor dem Dachboden hatte sie genauso viel Angst wie vor Tina. So blieb sie stehen, zitterte ein bisschen, biss sich mit den Zähnen auf die Unterlippe und hielt ihren Schwimmbeutel mit beiden Händen fest umklammert.
Als Tina ins letzte Stockwerk kam und Nasti sah, überblickte sie die Lage sofort. »Aha«, grinste sie, »keine Mami da, die das Fräulein Anastasia schützen kann!«
Und dann sagte sie noch: »Na warte, allerletzte Zarentochter!«
Sie legte ihren Schwimmbeutel auf den Boden und ging auf Nasti zu. So wie ein Boxer auf seinen Gegner zugeht, ging sie. Und sie machte genauso ein grimmig-siegessicheres Gesicht.
Nasti dachte: Wehren ist sinnlos! Um Gnade bitten ist demütigend!
Nasti schloss die Augen. Gleich, dachte sie, gleich saust mir ihre Faust ins Gesicht. Gleich boxt sie mich in den Bauch! Oder vielleicht tritt sie mir gegen das Schienbein?
Doch es geschah gar nichts. Tina schlug nicht zu. Tina sagte auch nichts. Ganz, ganz still war es. Da machte Nasti die Augen wieder auf. Dicht vor ihr stand Tina. Den rechten Arm hatte sie hoch erhoben. Sie rührte sich nicht. Wie ein Denkmal schaute sie aus. Bloß, dass ein Denkmal nicht weinen kann.
»Tina, was ist denn?«, fragte Nasti erschrocken. »Ist dir nicht gut? Hast du was?«
Tina fing zu schluchzen an. »Ich weiß nicht! Ich wollte dir eine runterhauen, und da hab ich den Arm gehoben, und jetzt kann ich ihn nicht mehr rühren!«
»Das gibt’s doch nicht«, sagte Nasti.
»Doch«, heulte Tina. »Es ist so, als ob mich jemand festhalten würde! Ich spüre es!« Jetzt heulte Tina ganz schrecklich. Ihr Kinn zitterte, und ihre Zähne klapperten.
»Vielleicht hast du einen Krampf im Arm?«, meinte Nasti. (Die Frau Berger hatte manchmal einen Krampf im linken Bein. Das kam vom Kreislauf, hatte der Arzt gesagt. Wenn die Frau Berger einen Krampf im Bein hatte, dann konnte sie das Bein auch nicht bewegen.) »Ein Krampf ist nichts Arges! Der geht wieder vorüber!«
Tina sank erschöpft auf die unterste Dachbodenstufe. Komisch sah sie aus! Schluchzend und ganz zusammengekrümmt. Nur der rechte Arm stand senkrecht in die Höhe. Nasti versuchte, den Arm nach unten zu drücken. Es war unmöglich. Sie setzte sich neben Tina. Dass sie mit ihr mitten in einem bösen Streit war, hatte sie vergessen. Sie streichelte Tina ein bisschen und sagte: »Tina, gleich wird es vorbei sein!«
Und dann – wie lange es wirklich dauerte, können beide nicht mehr angeben – fiel Tinas Arm schlaff herunter. Tina probierte, ob sie alle fünf Finger wieder ordentlich bewegen konnte. Sie konnte es. Auch das Handgelenk und das Ellbogengelenk funktionierten. Aber auf dem Handgelenk, auf der weißen Haut, waren fünf sehr rote Druckstellen; vier Druckstellen dicht beieinander und die fünfte ein...
Erscheint lt. Verlag | 25.9.2019 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre |
Schlagworte | Angst • Axel Scheffler • Deutscher Jugendliteraturpreis • Freundschaft • Furcht • Geist • Gespenst • Kinderbuch-Klassiker • Mut machen • Schulklasse • Schutzengel • Wien • Zivilcourage |
ISBN-10 | 3-7336-0368-0 / 3733603680 |
ISBN-13 | 978-3-7336-0368-7 / 9783733603687 |
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