Und ich war da (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
192 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2166-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Und ich war da -  Martin Beyer
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Wie kommt es, dass der eine Widerstand leistet, während der andere zum Mitläufer wird? August Unterseher haben sich im Laufe seines Lebens viele Möglichkeiten geboten, sich gegen das Nazi-Regime zu stellen. Doch keine davon hat er genutzt. 'Und ich war da' ist die Geschichte eines Mannes, der hineinstolpert in die Dunkelheit seiner Zeit: erst in die Hitlerjugend, dann als Wehrmachtssoldat in den Russlandfeldzug. Und später, als Kriegsversehrter zurück auf dem Bauernhof seines Vaters, verdingt er sich als Henkershelfer der NS-Schergen bei den Hinrichtungen der Geschwister Scholl. Ein Mann ohne Eigenschaften, der am Ende seines Lebens zu verstehen sucht, weshalb alles so gekommen ist, weshalb er überlebt hat, wo andere gefallen sind, weshalb er zum Täter wurde, wo andere für ihre Ideale gestorben sind.

Martin Beyer, geboren 1976, ist promovierter Germanist und lebt und arbeitet in Bamberg als freier Autor und Dozent für Kreatives Schreiben. 2009 erschien sein Debütroman Alle Wasser laufen ins Meer. Im selben Jahr erhielt er den Walter-Kempowski-Literaturpreis, 2011 den Kultur-Förderpreis der Stadt Bamberg.

Martin Beyer, geboren 1976, ist promovierter Germanist und lebt und arbeitet in Bamberg als freier Autor und Dozent für Kreatives Schreiben. 2009 erschien sein Debütroman Alle Wasser laufen ins Meer. Im selben Jahr erhielt er den Walter-Kempowski-Literaturpreis, 2011 den Kultur-Förderpreis der Stadt Bamberg.

Vater und das Maifräulein


Der Vater mochte die Hitlerjugend nicht. Am Stammtisch in der Alten Post sagte er mit Sicherheit nichts darüber, so schlau war er. Der Krinner Toni trug jedes verdächtige Wort an die Gestapo weiter, und der Krinner Toni saß an fast jedem Stammtisch im Umkreis, als gäbe es von ihm so manchen Doppelgänger. Jedenfalls mochte der Vater die Hitlerjugend nicht, weil er wegen ihr Konrad und mich mit einer anderen Person teilen musste – mit einem dahergelaufenen Mittzwanziger, der besonders zackig auftrat in der braun-schwarzen Uniform und dabei noch nichts vom Leben wusste und noch nichts von der Welt gesehen, geschweige denn irgendetwas gearbeitet hatte. Max, der HJ-Führer. So einer konnte den Vater gernhaben, ein Gscheidhaferl, ein brauner Hanswurst. Und nicht nur, dass der Hanswurst nun anfing, seinen Söhnen zu erzählen, wie die Welt funktionierte, wer gut und wer böse war. Er raubte ihm kostbare Zeit, mehrere Stunden in der Woche. Zeit, in der er Konrad und mich gut am Hof hätte brauchen können, was heißt gut, es stand einfach außer Frage, dass er und nur er über seine Söhne verfügen konnte und niemand anderes.

Doch er hütete sich, etwas zu sagen, würgte alles hinunter, knirschte mit dem Kiefer, wenn die Leute groß daherredeten am Stammtisch, wenn sie von der Mechanisierung der Landwirtschaft fabulierten, der Rückgewinnung deutscher Ernteflächen im Osten. »Das Entscheidende, Hermann, das sind die Bauern. Ihr werdet Deutschland ernähren, wenn unsere Söhne sich aufmachen, die alten Grenzen wiederherzustellen.« Der Vater nickte kaum merklich. »Freilich«, sagte er dann, oder er schwäbelte »so isch des«. Beim Abschied nuschelte er das »Heil Hitler!« kaum hörbar in den Mantelkragen hinein.

Am Stammtisch war der Vater nicht der Wortführer wie zu Hause, war nur Mitsitzer und Mittrinker; er durfte froh sein, dass er den Platz bekommen hatte. Für die anderen war er noch immer der Zugezogene. Außerdem war er nicht einmal ein Veteran, den leichten Hinkefuß hatte er sich mit der Sense beigebracht. Ich gehe davon aus, dass der Vater sich selbst nach dem vierten oder fünften Bier nicht sonderlich wohlfühlte in dieser lauten und rauchschwangeren Versammlung der Dorfwichtigsten, doch er ließ nicht einen einzigen Abend aus. Er war beharrlich in solchen Dingen, nach ein paar Jahren würden sie ihn für voll nehmen, und er würde mit seinen Auffassungen Gehör finden. So saß er schweigend am Tisch, der kolossale Hermann Unterseher mit dem fettigen schwarzen Haar, ungeschnitten wie je, gräuliche Bartstoppel im Gesicht, noch in der Arbeitskluft aus einfachem Leinen, darüber ein wärmendes Wams, das er in der Wirtsstube schnell ablegen konnte.

Die neue Regierung interessierte ihn nur deshalb, weil sie Einfluss nahm auf sein Geschäft, und sein Geschäft bestand nun einmal darin, Getreide und Kartoffeln zu ernten und ein bisserl Vieh zu halten. Darin war er gut, und dazu hatte er den anderen einiges zu sagen, denn sie waren ja in mancher Hinsicht völlig auf dem Holzweg, wie er dachte. Wenn sie anfingen – und sie fingen an –, die jungen Männer zur Wehrmacht zu schicken und zu verheizen, dann würde bald niemand mehr da sein, der die Arbeit macht. So einfach war das. Doch er biss sich auf die Zunge, und solange er am Stammtisch noch nicht akzeptiert wurde, blieben der Bruder und ich die Ableiter seiner Gedankenblitze, und wehe, wir hörten ihm nicht zu.

Eine typische Nachtszene, wenn der Vater von den Stammtischabenden zurückkehrte: Konrad und ich arbeiten im Stall, arbeiten im Haus, kümmern uns um die Tiere oder reparieren etwas, es ist nach Mitternacht, wir müssen die Zeit in der HJ nachts nacharbeiten. Funzellicht, die Augen brennen, der Magen knurrt, wir leisten uns eine gemächliche Gangart, träumen von Kleinem und Großem, doch als wir den Vater heranpoltern hören, straffen sich unsere Körper, und wir täuschen vor, eifrig zu sein, seit Stunden schon. Je mehr er getrunken hat, desto eindrücklicher ist seine Lektion, das wissen wir. »Das eigene Feld, das muss man im Griff haben, und nicht von irgendwelchen Ländereien in Russland träumen, von Hunderttausenden Rindern, die zusammen wahrscheinlich so viel Milch geben wie tausend deutsche Kühe. Weil unterernährt, weil keine Maschinen, weil derbe Winter. Versteht’s ihr des?« Manchmal, wenn er den eigenen Worten nicht genug Wirksamkeit beimaß oder vielmehr unseren Köpfen nicht die angemessene Aufnahmefähigkeit, packte er seine beiden Kaninchen am Schlafittchen und schüttelte sie ordentlich durch, begleitet von einem nahezu dialektfreien »Was wisst’s ihr denn schon?«.

Es war allerdings so, dass Max trotz dieser nächtlichen Lektionen eine erhebliche Wirkung auf uns hatte. Auf den Bruder noch mehr als auf mich. Konrad vernarrte sich in die Symbole und Rituale, vernarrte sich in alles Militärische, als hätten wir zu Hause nicht schon eine Art Regimentszeit zu durchleben. Doch die HJ war ein Regiment, dem er zwar einerseits unterworfen war, auf dessen Rekruten er aber selbst nach und nach Einfluss nehmen konnte, das war der Unterschied. Max fand Gefallen an meinem Bruder, vermutlich mehr an seinen Muskeln als an seinem Verstand, er sah in ihm einen leistungsfähigen Kriegskörper. Er übertrug Konrad die eine oder andere Aufgabe, so durfte er kleinere Ertüchtigungs- und Wehrübungen leiten; alles Weltanschauliche, auch das Loben und das Strafen, blieben natürlich in Max’ Verantwortung. »Was sind wir? Pimpfe! Was wollen wir werden? Soldaten!« Und so wurde Konrad Max’ Jünger in braun-schwarzer Uniform, sichtbar geschmückt mit den Bändern seiner Erfolge. Von solchem Lob und solchen Auszeichnungen konnte er daheim nur träumen.

Was mich betraf, so war ich für all das durchaus empfänglich, was auch daran gelegen haben mag, dass wir dem Hof zweimal in der Woche fernbleiben konnten. Ich hatte keine Schwierigkeiten, den Leibesübungen zu folgen, schießen mochte ich gerne und konnte es gut, und was Max über die Ordnung und Unordnung der Welt erzählte, verstand ich zwar, aber es berührte mich kaum, genauso wenig wie das, was uns der Lehrer versucht hatte einzubläuen, als wir noch zur Schule gingen. Was mir gefiel, war das singende und pfeifende, schleichende und schnaufende, krabbelnde und rennende Sich-Ausleben in Feld, Wald und Wiese, häufig mit Lagerfeuer und Fackelzügen feierlich zu Ende gebracht. Eigentlich waren das nichts weiter als gemeine Pfadfindertage, allerdings von Max mit einer höheren Bedeutung geadelt; an solchen Tagen lief er zur Hochform auf. Dann kamen wieder diese raunenden Worte, und sie waren sicher treffend, denn sie trafen den Bruder, und ich konnte doch sehen, wie wichtig sie ihm waren. Ich dachte, da ich zu ihm aufblickte, es müsste mir genauso gehen, allein ich empfand die gewünschte Kameradschaft zu den anderen nicht oder vielleicht nicht so, wie Max sich das vorstellte, und ich wollte nicht für die anderen durch Himmel und Hölle gehen, für niemanden meine Hand ins Feuer legen, und ich wusste nicht, warum ich auserwählt sein sollte, diesen Planeten von Schmarotzern und Brandstiftern zu befreien.

Vater hatte nach solchen Tagen, an denen wir ihm bis auf wenige Stunden ganz fehlten, eine noch spürbar schlechtere Laune als nach gewöhnlichen HJ-Treffen, wir mussten diese Ausflüge lange büßen.

Da Max Konrad aufgrund seiner braunen Begeisterung und seines beharrlichen Fleißes eine Sonderstellung einräumte, wurde er von den anderen im Bunde respektiert, wenn auch manchmal widerwillig. Als sein Bruder genoss ich ebenfalls einen gewissen Schutz. Waren Hänseleien und Schlägereien mit dem zugezogenen schwäbischen Bauerntrampel in der Schule ein beliebtes Ritual gewesen, hörte dies mit dem Eintritt in die Hitlerjugend und der damit verbundenen Karriere des Bruders rasch auf.

Die Hitlerjugend machte keinen großen Unterschied, was Rang und Herkunft eines Kindes betraf: Jungarbeiter, Arbeitslose und Mittelschüler krochen mit den wenigen Oberschülern der Gegend, zumeist Lehrersöhne, durch den Dreck und pfiffen Kann denn Liebe Sünde sein. Man verachtete sich wechselseitig, doch man blieb stumm, und Max verstand es auf die ihm eigene Art, alle beisammenzuhalten.

Wundersamerweise fand ich in einem dieser Söhne aus besserem Haus einen Freund. Es war der Junge, der nicht nur bei allen körperlichen, sondern auch bei allen geistigen Anforderungen in der Gemeinschaft am meisten zu leiden hatte. So viele Erinnerungen, so viele Bilder, die mich manchmal sogar schmunzeln lassen: Paul schafft es nicht, vierhundert Meter am Stück zu rennen. Er stößt die Kugel, sie bleibt vielleicht zwei Meter vor ihm liegen und schämt sich, »von so einem Degenerierten« (Max) in den Matsch geschmissen worden zu sein. Das Lied Nun lasst die Fahnen fliegen bereitet ihm körperliche Schmerzen, wenn er es schmettern soll, er zuckt und windet sich, sein Gesicht spricht Bände. Überhaupt konnte Paul nur schwer seinen Unwillen verbergen, was Max zu immer neuen Ermahnungen, Drohgebärden und tatsächlich verübten Strafmaßnahmen verleitete. Dass Paul durchhielt und seine Tränen verdrückte, bewundere ich noch heute. Dass wir uns näher kennenlernen würden, war...

Erscheint lt. Verlag 30.8.2019
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte ausnahmefall • Bauernhof • Bruder • Deutschsprachige Literatur • Erinnerungen • Geschwister Scholl • Hans Scholl • Hinrichtung • Hitlerjugend • Johann Reichhart • Junge deutsche Literatur • Klartraum • Krieg • Mitläufer • München • Nationalsozialismus • Nationalsozialismus Literatur • Nazi • Nazi-Deutschland • Politischer Widerstand (Drittes Reich) • Rechtspopulismus • Roman • Russland • Schuld • Sohn • Soldat • Sophie Scholl • tote Mutter • Vater • Vater-Sohn-Beziehung • Versagen • Widerstand
ISBN-10 3-8437-2166-1 / 3843721661
ISBN-13 978-3-8437-2166-0 / 9783843721660
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