Tanz mit mir, Aurelia (eBook)
176 Seiten
adeo (Verlag)
978-3-86334-807-6 (ISBN)
Titus Müller studierte in Berlin Literatur, Mittelalterliche Geschichte, Publizistik und Kommunikationswissenschaften. Mit 21 Jahren gründete er die Literaturzeitschrift 'Federwelt'. Seine Ratgeber und historischen Romane begeistern viele Leser. Titus Müller ist Mitglied des PEN-Club und wurde u.a. mit dem 'C. S. Lewis-Preis' und dem 'Sir Walter Scott-Preis' ausgezeichnet. Seine Bücher werden regelmäßig zu Bestsellern. 'Der Schneekristallforscher' z.B. hat sich über 10.000 mal verkauft.
Titus Müller studierte in Berlin Literatur, Mittelalterliche Geschichte, Publizistik und Kommunikationswissenschaften. Mit 21 Jahren gründete er die Literaturzeitschrift "Federwelt". Seine Ratgeber und historischen Romane begeistern viele Leser. Titus Müller ist Mitglied des PEN-Club und wurde u.a. mit dem "C. S. Lewis-Preis" und dem "Sir Walter Scott-Preis" ausgezeichnet. Seine Bücher werden regelmäßig zu Bestsellern. "Der Schneekristallforscher" z.B. hat sich über 10.000 mal verkauft.
John
Ich wappnete mich innerlich, bevor ich nach oben ging, um mir meinen Lohn abzuholen. Als mir Aurelia den Farthing gab, schaffte ich es sogar, Abneigung ihr gegenüber zu empfinden. Ich hielt mir den Wohlstand der Familie vor Augen, der sicher nicht rechtmäßig erworben war. Tausende litten Hunger in London. Die Folgen des Krieges waren überall zu spüren: Waisen und Halbwaisen standen bettelnd am Straßenrand und froren, junge Kerle wie ich heuerten aus Verzweiflung wegen ihres ständig knurrenden Magens auf Schiffen an, alte Mütterchen waren tagaus, tagein dem fauligen Rauch der Seifenmacher und Leimkocher ausgesetzt. Mancher Handwerksmeister musste, um seiner hungernden Familie etwas zu essen zu kaufen, Teile seines Werkzeugs ins Leihhaus bringen, in der Hoffnung, dass er es später wieder auslösen konnte, mit einem Zins von sechs Prozent und mehr.
Der Graveur und seine hübsche Tochter verschlossen die Augen davor, dass wir die drittgrößte Stadt der Welt hinter Paris und Konstantinopel waren, dreihunderttausend Menschen in einem dichten Häusermeer, und die Bewohner darin nicht länger satt kriegten. Eine neue gesetzliche Verordnung verlangte, dass man seinen Müll mittwochs und samstags in Körben vor die Tür stellte, damit die Armen ihn durchsuchen konnten. Ich selbst hatte in schwachen Stunden schon in den Abfällen anderer Leute gewühlt.
Mit Wut im Bauch verließ ich Aurelias Haus und kehrte nach Cornhill zurück, um mit meinen leeren Eimern anzustehen hinter einfachen Leuten und anderen Wasserverkäufern. Das Dach der öffentlichen Wasserpumpe war nicht bloß die Schutzhülle für die Steigrohre, es beschirmte einen regelrechten Versammlungsort.
Ich beschloss, meine übliche Runde zu ändern und als Nächstes zu Eleanor zu gehen, als Widerpart zu Aurelia. Zwei Kunden habe ich, denen erlasse ich das Geld. Eleanor ist uralt, sie könnte unmöglich selbst das Wasser in ihr Haus schleppen, und bezahlen kann sie mich auch nicht. Sie schafft mit Mühe und der Unterstützung der Nachbarn die Jahresmiete. Manchmal glaube ich, sie ernährt sich bloß von Luft und Erinnerungen. Ab und zu wird eine Schale Grütze dabei sein, aber ein Leben ist das nicht mehr.
Ganz in der Nähe lebt Joane Slowe. Sie hat vier kleine Kinder, und ihr Mann ist bei der Schlacht von Naseby umgekommen. Ich hab ihr selbst angeboten, ihr jeden zweiten Tag kostenfrei Wasser zu bringen. Selbst wenn sie mal ausruht, wenn ich gerade ankomme, ärgert mich das nicht. Ich weiß, dass sie vom Morgengrauen bis spät abends auf den Beinen ist, um über die Runden zu kommen.
Ich schleppte also meine Eimer an Frauen mit Milchkannen und an Messerschleifern vorüber. Ein Quacksalber rief: »Ich heile Pocken, Lethargie, Fleckfieber, Würmer, Zahnweh, Husten und Liebeskummer!« Ich machte einen Bogen um drei dampfende Pferdeäpfel, sah wieder hoch und blieb abrupt stehen. Ich hatte das Lachen meines Bruders gehört. Keine zwei Menschen auf der Welt lachen gleich. Ich musste nicht lange meinen Blick schweifen lassen, schon entdeckte ich ihn in der Menschenmenge.
Acht Jahre hatte ich Oliver nicht gesehen. Er war mit zwölf vom Waisenhaus »Christ’s Hospital« direkt auf ein Schiff gegangen, um als Schiffsjunge anzuheuern.
Er schielte ein wenig, so wie früher, und besaß immer noch einen fülligen, fast weibischen Mund. Sein Körper aber war der eines Mannes geworden. Die breiten Schultern beeindruckten mich.
Was suchte er in London? Als Jahr um Jahr kein Schiff ihn wiedergebracht hatte, war ich davon ausgegangen, dass er in die Kolonien nach Übersee gegangen war. Der Blick, den er mit einem abgerissenen Eckensteher wechselte, gefiel mir nicht. Sie folgten mit einem Abstand von einigen Schritten einem jungen Kerl mit Reisebündel, der die Auslagen jedes Händlers betrachtete, ohne etwas zu kaufen – sicher einer vom Land, der nach London gekommen war, um als Dienstbote Fuß zu fassen und sich allmählich hochzuarbeiten. Er würde heute Abend ohne Bündel dastehen, mit einem zerschundenen Gesicht und Schrammen und blauen Flecken am ganzen Körper, wenn ich nichts unternahm.
Ich trat in den Laden eines Eisenwarenhändlers, stellte meine Eimer ab und rief: »Ich komm gleich wieder!« Dann eilte ich die Straße hinunter.
Mein Bruder und der Hagere hatten den Landjungen fast erreicht. »Oliver, bist du das?«, sagte ich und rührte ihn von hinten an.
Mein Bruder blieb stehen und wandte sich um. »John.« Feindselig musterte er mich.
Auch der Hagere ließ vom Landjungen ab und kam zurück. »Wer ist das?«
»Mein Bruder.« Oliver spuckte auf den Boden. »Bist groß geworden. Aber du hast immer noch nichts auf den Rippen.«
»Vater ist tot«, sagte ich.
Es war nicht zu erkennen, ob die Nachricht Oliver irgendwie berührte. Aus ihm war ich noch nie schlau geworden.
Ich sagte: »Dass er Stimmen gehört hat, weißt du, oder? Vom Suff.«
Wieder schwieg er.
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass der Landjunge sich weiter entfernte. »Ist schlimmer geworden, nachdem du weg warst. Er war ein paar Jahre im ›Bedlam‹.« So nannten wir St. Mary of Bethlehem, Englands einziges Hospital für Verrückte. »Dann ist er abgehauen. Hat sich noch ein letztes Mal volllaufen lassen und ist im Rausch in die Themse gestürzt.«
Ich weiß, dass meine Brüder es nicht so gut hatten wie ich. Onkel Nehemiah hat nur mich aufgenommen, den Jüngsten. Oliver, Peter und Vincent kamen ins Waisenhaus. In der Schule haben wir uns noch gesehen, bis sie einer nach dem anderen die Schule verließen. Oliver heuerte als Schiffsjunge an, Peter begann eine Lehre als Leimsieder, Vincent kam bei einem Kaminkehrer unter. Das Lehrgeld für Peter und Vince zahlte die Stadt. Ich habe Vince noch ein paar Mal gesehen mit dem langstieligen Reisigbesen über der Schulter.
»Hast du Geld?« Oliver musterte mich.
Ich zog mein Beutelchen hervor.
Er wartete nicht, bis ich es geöffnet hatte, sondern riss es mir aus der Hand und sah selbst hinein.
Ich kann nicht sagen, dass ich meinen Bruder hasse. Manchmal, wenn Vater unsere Mutter schlug und ich vor Furcht zitterte, hat er mich getröstet. »Ich pass auf dich auf«, hat er dann gesagt und versucht, mir die Augen zuzuhalten, damit ich nicht zusehen musste. Ich habe trotzdem durch seine Finger geblinzelt, nur die Geräusche zu hören, ohne hinzusehen, wären für mich noch schlimmer gewesen – aber dass er für mich da war, hat mir damals viel bedeutet.
Ohne ein Wort wandten die beiden sich ab und zogen weiter, mit meinem Geldbeutel.
»Ich schenk’s euch«, rief ich ihnen nach. »Ihr könnt das Geld haben.«
Sie reagierten nicht darauf.
Sieben Viertelpfennige waren im Geldbeutel. Davon würden sie sich einen Brotlaib und ein Pfund billigen Käse kaufen oder fünf Heringe oder sie tranken jeder ein dünnes Bier. Wahrscheinlich Letzteres.
Onkel Nehemiah wird mich schon nicht hungern lassen, sagte ich mir. Das Geld zu verlieren, schmerzte mich. Zugleich empfand ich es wie eine Art später Wiedergutmachung, eine ausgleichende Gerechtigkeit.
Ich kehrte in den Eisenwarenladen zurück und holte meine Eimer. Der Ladeninhaber schimpfte, was das solle, hier einfach Zeug abzustellen.
Geld entscheidet über alles. Wenn man genug davon hat, kann man sich sogar einen Adelstitel kaufen. Für tausend Pfund wird man in den Stand eines Baronets versetzt. Klar, das ist niederer Adel, damit sitzt man nicht im House of Lords. Aber selbst in den Hochadel schafft man es mit Geld. Es heißt, man muss tausend Pfund im Jahr durch seine Ländereien verdienen – der Landbesitz ist denen im Hochadel immer sehr wichtig. Über die Hälfte der Adligen im House of Lords sollen auf diese Weise an ihre Titel herangekommen sein. Also werden wir gar nicht durch namhafte, alteingesessene Familien regiert, sondern durch das Geld. Den einen fließt es zu, die anderen gehen leer aus. Wodurch entscheidet sich, zu welcher Gruppe man gehört?
Geld sammelt sich bei den Tüchtigen, sagt Onkel Nehemiah, und Gottes Segen zeigt sich dadurch. Das ist ein Widerspruch, finde ich. Gesagt habe ich es nicht, bei Glaubensthemen ist er empfindlich. Die Wohlhabenden wie Aurelia – sind sie tüchtiger als ich? Gebildeter, ja, aber tüchtiger? Und ganz unabhängig davon, warum segnet sie Gott mehr?
Selbst nach dem Tod gibt es noch Unterschiede. Die Reichen werden in der Kirche beigesetzt (am meisten kosten die Plätze ganz vorn, die an den Seiten kosten weniger, als würden die Toten weiterhin der Messe lauschen und würden gern vorne sitzen), die Wohlhabenden landen nach dem Tod immerhin noch neben der Kirche und für uns Arme gibt es bloß Friedhöfe außerhalb. Da bezahlt man nichts als den Totengräber, sechs Pence kostet seine Arbeit, die Grabstelle ist kostenlos auf dem New Churchyard außerhalb von Bishopsgate. Sie schubsen uns noch als Leichen weiter weg von Jesus. Ich hoffe, dass das nach der Auferstehung einmal endet.
Ich beendete meine Runde, stundenlanges mühsames Geschleppe, und kehrte nach getaner Arbeit heim. Onkel Nehemiahs Haus steht in einer Nebenstraße des Leadenhall Market, wo die Bleihändler und Gerber ihre Geschäfte haben, weit genug weg von den wichtigen Straßen wie Cornhill oder Gracechurch Street, um nicht teuer zu sein. Leadenhall Market dient als Fleischmarkt. Ausschließlich Rindfleisch wird dort verkauft, eigentlich mittwochs und samstags von fünf Uhr in der Früh bis fünf Uhr am Abend, aber jetzt im Winter von acht Uhr bis drei am Nachmittag. Die ersten zwei Stunden sind immer für die Hausfrauen und die Küchenmägde reserviert, danach dürfen auch die Straßenhändler auf den Markt, um...
Erscheint lt. Verlag | 27.8.2019 |
---|---|
Verlagsort | Asslar |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Schlagworte | Geschenkbuch • Historischer Roman • Oliver Cromwell • Puritaner • Puritanismus • Titus Müller • Weihnachten • Weihnachtsverbot |
ISBN-10 | 3-86334-807-9 / 3863348079 |
ISBN-13 | 978-3-86334-807-6 / 9783863348076 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |

Größe: 1,2 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich