Vergesst unsere Namen nicht (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
350 Seiten
Eichborn AG (Verlag)
978-3-7325-7843-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vergesst unsere Namen nicht -  Simon Stranger
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Eine wahre Familiengeschichte, die zeigt, wie nah Dunkelheit und Hoffnung beieinanderliegen können

In der jüdischen Tradition heißt es, dass ein Mensch zwei Mal stirbt. Das erste Mal, wenn das Herz aufhört zu schlagen und die Synapsen im Gehirn erlöschen wie das Licht in einer Stadt, in der der Strom ausfällt. Das zweite Mal, wenn der Name des Toten zum letzten Mal gesagt, gelesen oder gedacht wird, fünfzig oder hundert oder vierhundert Jahre später. Erst dann ist der Betroffene wirklich verschwunden, aus dem irdischen Leben gestrichen.

Ein auf wahren Begebenheiten basierender Roman, der achtzig Jahre Geschichte und vier Generationen umfasst. Eine Erzählung über den Holocaust, über Familiengeheimnisse und über die Geschichten, die wir an unsere Kinder weitergeben.





Simon Stranger wurde 1976 geboren und lebt mit seiner Familie in Oslo. Sein Roman "Vergesst unsere Namen nicht" war in Norwegen ein durchschlagender Erfolg und wurde in vierzehn Länder verkauft.

Simon Stranger wurde 1976 geboren und lebt mit seiner Familie in Oslo. Sein Roman "Vergesst unsere Namen nicht" war in Norwegen ein durchschlagender Erfolg und wurde in vierzehn Länder verkauft.

A


A wie Anklage.

A wie Aussage.

A wie Arrest.

A wie alles, was verschwinden und in Vergessenheit fallen wird. Alle Erinnerungen und Gefühle. Alle Habseligkeiten und Besitztümer. Alles, was den Rahmen eines Lebens gebildet hat. Die Stühle, auf denen man saß, und das Bett, in dem man schlief, werden hinausgetragen und in andere Wohnungen gebracht. Teller, mit denen andere Hände einen Tisch decken, und Gläser werden an die Lippen anderer Menschen geführt, die das Wasser oder den Wein trinken, bevor sie sich jemand anderem zuwenden und das Gespräch fortsetzen. Dinge, an denen viele Geschichten hängen, werden irgendwann ihre Bedeutung verlieren und in reine Form verwandelt werden, wie ein Konzertflügel, der von einem Hirsch oder einem Käfer betrachtet wird.

Eines Tages wird es geschehen, eines Tages wird für uns alle der letzte Tag kommen, ohne dass wir wissen, welcher es ist oder auf welche Weise das Leben enden wird. Ich weiß nicht, ob ich die letzten Stunden meines Lebens in einem Pflegeheim zubringen werde, mit röchelndem Husten und mit einer Haut, die mir weiß und schlaff wie Brotteig von den Oberarmen hängt, oder ob ich plötzlich und unerwartet sterben werde, mit fünfundvierzig oder sechsundvierzig, durch eine Krankheit oder bei einem Unfall.

Vielleicht werde ich von einem Eiszapfen getötet, der von der Dachkante eines Häuserblocks fällt, gelockert von den Vibrationen eines Handwerkers, der im darunterliegenden Stockwerk einen Badezimmerboden aufbohrt, oder von einer warmen Meeresbrise, sodass der Eiszapfen an den Fenstern vorbeischießt. An Wohn- und Schlafzimmern vorbei, bis er meinen Kopf trifft, der sich über die Nachrichten in meinem Handy beugt, und das Telefon gleitet mir aus den Händen und bleibt leuchtend auf dem Bürgersteig liegen, während entsetzte Passanten sich in einem Halbkreis um mich scharen. Zufällige Zeugen, die unvermittelt an den Abgrund erinnert werden, der sich stets neben jedem Einzelnen von uns befindet, aber nur selten zum Vorschein kommt: Alles, was wir sind und was wir haben, kann weggerissen werden, direkt aus dem alltäglichen Leben.

In der jüdischen Tradition heißt es, dass ein Mensch zweimal stirbt. Das erste Mal, wenn das Herz aufhört zu schlagen und die Synapsen im Gehirn erlöschen wie in einer Stadt, in der der Strom ausfällt.

Das zweite Mal, wenn der Name des Toten zum letzten Mal gesagt, gelesen oder gedacht wird, fünfzig oder hundert oder vierhundert Jahre später. Erst dann ist der Betroffene wirklich verschwunden, aus dem irdischen Leben gestrichen. Dieser zweite Tod war der Ausgangspunkt für den deutschen Künstler Gunter Demnig, als er die Idee entwickelte, Pflastersteine aus Messing herzustellen und darauf die Namen von Juden einzugravieren, die während des Zweiten Weltkriegs von den Nazis ermordet wurden, und sie vor den Häusern, in denen diese Familien gewohnt hatten, in den Bürgersteig einzulassen. Er nennt sie »Stolpersteine«. Diese Kunstwerke sind der Versuch, diesen zweiten Tod hinauszuschieben, denn indem er die Namen der Opfer in den Weg ritzt, sorgt der Künstler dafür, dass sich in den folgenden Jahrzehnten Passanten über die Steine beugen und damit die Toten am Leben erhalten, wodurch gleichzeitig die Erinnerung an eines der schlimmsten Kapitel der europäischen Geschichte lebendig gehalten wird, als sichtbare Narben im Gesicht der Städte. Bis jetzt sind 67000 Stolpersteine in zahlreichen Städten Europas eingelassen worden.

Einer von ihnen ist deiner.

Einer der Steine trägt deinen Namen und ist dort in den Bürgersteig versenkt worden, wo du gewohnt hast, in der mittelnorwegischen Stadt Trondheim. Vor ein paar Jahren ging mein Sohn vor diesem Stolperstein in die Hocke und wischte die Kiesbrocken und den Dreck mit seinem Handschuh von dem Metall. Dann las er laut.

»Hier wohnte Hirsch Komissar.«

Mein Sohn war in jenem Jahr zehn geworden, und er ist einer deiner Ururenkel. Wie auch meine Tochter, die in jenem Frühling sechs war und ihre Arme um meinen Hals schlang. Meine Frau Rikke hockte neben uns, und in dem Kreis, der sich wie bei einer Urnenbeisetzung gebildet hatte, standen auch meine Schwiegermutter Grete und ihr Mann Steinar.

»Ja, er war mein Großvater«, sagte Grete. »Genau hier hat er gewohnt, im zweiten Stock«, sagte sie und drehte sich zu den Fenstern in dem Haus hinter uns um, hinter denen du manchmal standst und nach draußen schautest, in einer anderen Zeit, als andere Menschen als wir gelebt haben. Ich hatte immer noch die Arme meiner Tochter um den Hals, während mein Sohn weiter die nüchternen Tatsachen vorlas, die in das Messing graviert waren.

HIER WOHNTE

HIRSCH KOMISSAR

JG. 1887

VERHAFTET 12. 1. 1942

FALSTAD

ERMORDET 7. 10. 1942

Grete sagte etwas über den überraschenden Einmarsch, erzählte noch einmal die Geschichte, wie ihr Vater plötzlich am Morgen des 9. April 1940 die Soldaten sah, die mit graublauen Mänteln und Stiefeln im knallenden Gleichschritt durch die Straßen marschierten. Rikke stand auf, um sich an dem Gespräch zu beteiligen, und meine Tochter stellte sich neben sie. Nur mein Sohn und ich blieben vor dem Stolperstein hocken. Er wischte mit dem Handschuh über die letzte Zeile, bevor er zu mir aufschaute.

»Warum wurde er ermordet, Papa?«

»Weil er Jude war«, antwortete ich.

»Ja, aber warum?«

Ich spürte Rikkes Blick von der Seite, wie sie gleichzeitig an beiden Gesprächen teilnahm.

»Tja … die Nazis wollten alle umbringen, die anders waren. Und sie hassten die Juden.«

Mein Sohn schwieg.

»Sind wir auch Juden?«, fragte er. Die braunen Augen waren ganz klar, konzentriert.

Ich blinzelte mehrere Male, während ich darüber nachdachte, was ich über die Geschichte der Familie wusste. Was wussten meine Kinder überhaupt über den jüdischen Zweig ihrer Familie? Wir hatten bestimmt darüber gesprochen, dass ihre Ururgroßeltern mütterlicherseits vor über hundert Jahren aus unterschiedlichen Teilen Russlands eingewandert waren. Wir hatten über den Krieg gesprochen, über die Flucht ihres Urgroßvaters Gerson, den sie beide noch kennengelernt hatten, bevor er starb.

Rikke holte Luft, um etwas zu sagen, wurde dann aber in das Gespräch mit Tante Grete hineingezogen, und ich schaute meinem Sohn in die Augen.

»Du bist Norweger«, antwortete ich, spürte aber, dass eine Art von Verrat in dieser Antwort steckte, und spürte Rikkes Blick. »Ein Teil von dir ist auch jüdisch, aber wir sind nicht gläubig«, sagte ich und stand auf, hoffte, dass Rikke oder Grete etwas sagen würden, dass sie eine bessere Antwort darauf wüssten, aber ihr Gespräch hatte sich bereits weiterentwickelt, war der Logik der Gedankensprünge gefolgt und hatte sich weit entfernt.

Warum wurde er ermordet, Papa?

Diese Frage verfolgte mich noch monatelang, und es stellte sich heraus, dass sie schwierig zu beantworten war, die vergehende Zeit legt sich in immer dickeren Schichten des Vergessens über das, was vorbei ist. Und dennoch. Je mehr man in verschiedenen Archiven recherchierte und mit anderen Familienmitgliedern über die Vergangenheit sprach, desto deutlicher traten die damaligen Ereignisse hervor.

Bald konnte ich den Schnee im Zentrum von Trondheim sehen.

Den dampfenden Atem der Menschen, die an den kleinen, schiefen Holzhäusern vorbeigehen.

Bald konnte ich sehen, wie an einem Mittwochmorgen das Ende deines Lebens beginnt, mitten im Alltag.

Es ist der 12. Januar 1942. Du stehst hinter dem Ladentisch des Modegeschäfts, das dir zusammen mit deiner Frau gehört, umgeben von Hutständern und Schneiderpuppen mit Mänteln und Kleidern. Du hast gerade die erste Kundin hereingelassen und sie über die aktuellen Angebote informiert, als das Telefon dich zwingt, die Zigarette und das Bestellformular zur Seite zu legen.

»Paris–Wien, wie kann ich Ihnen helfen?«, sagst du, ganz automatisch, wie du es schon tausende Male davor getan hast.

»Guten Morgen«, sagt ein Mann am anderen Ende der Leitung auf Deutsch. »Spreche ich mit Herrn Komissar?«

»So ist es«, antwortest du, ebenfalls auf Deutsch, und denkst für einen Augenblick, dass es einer der Lieferanten aus Hamburg sein könnte. Vielleicht hat es wieder Probleme mit dem Zoll gegeben. Vielleicht geht es um die Sommerkleider, die du bestellt hast, aber dann muss es sich um einen neuen Mitarbeiter handeln, denn diese Stimme ist dir vollkommen unbekannt.

»Hirsch Komissar, verheiratet mit Marie Komissar?«

»Ja …? Mit wem spreche ich denn gerade?«

»Ich arbeite für den Sicherheitsdienst der Gestapo.«

»Aha.«

Du blickst von dem Bestellformular auf. Die Kundin hat offensichtlich bemerkt, dass etwas Ungewöhnliches vorgeht, und du drehst das Gesicht zur Wand, während dein Puls rast. Gestapo?

»Es gibt da etwas, über das wir gerne mit Ihnen reden würden«, sagt der andere Mann leise.

»Aha«, antwortest du knapp, zögerst, bevor du nach dem Grund fragen möchtest, und wirst vorher unterbrochen.

»Wenn Sie sich bitte heute um vierzehn Uhr im Missionshotel einstellen würden, damit wir Ihre Aussage aufnehmen können«, sagt die Stimme am anderen Ende.

Missionshotel. Eine Aussage? Warum um alles in der Welt wollen sie dich vernehmen, denkst du, den Blick auf die Wand gerichtet. Hat es irgendetwas mit Maries Bruder David und seinen kommunistischen Sympathien zu tun? Die Spitze eines kopflosen Nagels ragt aus dem Türrahmen. Du legst den Daumen gegen das Metall, drückst dir die Spitze...

Erscheint lt. Verlag 30.8.2019
Übersetzer Thorsten Alms
Sprache deutsch
Original-Titel Bandeklosteren
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. - 21. Jahrhundert • Bandeklosteret • Bande-Klosteret • Besatzung • Drittes Reich • Familienroman • Generationenroman • Holocaust • Juden • Kollaborateur • Lola • Nationalsozialismus • Nazis • Norwegen • Oslo • Rinnan • Rinnanbande • Rinnanbanden • Sonderabteilung • Sonderabteilung Lola • Sonstige Belletristik • SS • Trondheim • Waffen SS • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-7325-7843-7 / 3732578437
ISBN-13 978-3-7325-7843-6 / 9783732578436
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