Nur im Dunkeln leuchten dir Sterne (eBook)
232 Seiten
Europa Verlag GmbH & Co. KG
978-3-95890-283-1 (ISBN)
Felix Leibrock, Jahrgang 1960, hat Germanistik, Geschichte und Evangelische Theologie studiert. Er leitet das Evangelische Bildungswerk in München, ist Seelsorger bei der Bayerischen Bereitschaftspolizei und spricht das Format 'Nachgedacht' bei Antenne Bayern. Felix Leibrock hat selbst zweieinhalb Jahre als Wohnungsloser in München gelebt. Heute fährt er für eine Münchner Obdachloseninitiative regelmäßig Suppe, Brot, Tee und Kleidung aus. Auch hat er das Café ohne Klischee für Obdachlose und Bedürftige in der Münchner Innenstadt gegründet. Zudem ist er als Krimiautor erfolgreich und veranstaltet regelmäßig Literaturabende. Felix Leibrock lebt in München und Weimar.
Felix Leibrock, Jahrgang 1960, hat Germanistik, Geschichte und Evangelische Theologie studiert. Er leitet das Evangelische Bildungswerk in München, ist Seelsorger bei der Bayerischen Bereitschaftspolizei und spricht das Format "Nachgedacht" bei Antenne Bayern. Felix Leibrock hat selbst zweieinhalb Jahre als Wohnungsloser in München gelebt. Heute fährt er für eine Münchner Obdachloseninitiative regelmäßig Suppe, Brot, Tee und Kleidung aus. Auch hat er das Café ohne Klischee für Obdachlose und Bedürftige in der Münchner Innenstadt gegründet. Zudem ist er als Krimiautor erfolgreich und veranstaltet regelmäßig Literaturabende. Felix Leibrock lebt in München und Weimar.
KAPITEL 2
Der Hundebesitzer, der eine filterlose Zigarette in der Hand hält und einen lila Kapuzenpullover trägt, murmelt ein »Dertutnix« und zieht weiter. An Einschlafen ist jetzt nicht mehr zu denken. Ich brauche eine andere Schlafstätte, die nicht so zentral gelegen und wo nicht jederzeit mit Publikumsverkehr zu rechnen ist.
Ich erhebe mich, während es zu dämmern beginnt. Wie eine Figur aus der Augsburger Puppenkiste bewege ich mich langsam und ungelenk, um meinem Körper ein paar koordinierte Bewegungen abzuringen. Irgendetwas registriere ich positiv, ohne in diesem Augenblick klar zu wissen, was. Auf meinem Handy drücke ich die Selfie-funktion, um mich anzuschauen. Graue Bartstoppeln sprießen aus meinen leicht eingefallenen Wangen und am Kinn hervor. Unter den Augen zeichnen sich ein Netz von Fältchen und dunkle Furchen ab. Bin ich schon durch diese eine Nacht gealtert? Manchmal schauen wir in den Spiegel und haben das Gefühl, schlagartig um Jahre gealtert zu sein. Heute ist für mich so ein Tag. Ich überlege, ob ich zum Hauptbahnhof gehe, um zu duschen. Am Vortag habe ich gesehen, dass das dort sieben Euro kostet. Viel zu teuer angesichts meiner Finanzlage. Ich brauche eine preiswertere Variante. Auch muss ich mich an den Gedanken gewöhnen, nicht mehr wie die letzten Jahrzehnte fast täglich zu duschen. Als ich mein Handy öffne, um eine Duschgelegenheit zu googeln, sehe ich zu meinem Schrecken den Ladezustand, der auf zehn Prozent abgerutscht ist.
Im Familienchat ist eine Nachricht angezeigt. Sie ist am Abend zuvor eingegangen.
Frohe Ostern, Papa. Wo bist du? Was machst du?
LG Leon und Lisa
Als Erstes muss ich einen Weg finden, das Handy aufzuladen. Ich gehe zum Burger King in der Sonnenstraße, der aber noch geschlossen ist. Ob es dort ungeschützte Steckdosen zum Aufladen gibt, ist ohnehin ungewiss. Bei Google finde ich den Hinweis auf Sankt Bonifaz. In dem Benediktinerkloster nahe dem Königsplatz ist es Obdachlosen möglich, sich zu duschen. Auch etwas zum Essen steht dort bereit. Ich mache mich auf den Weg. Duschen, das Handy aufladen, was essen, dann werde ich den Kindern etwas länger schreiben.
Wenn wir ziellos vor uns hin leben, drohen wir uns zu verlieren, ins Beliebige zu verfallen. Wie eine im Meer treibende Plastikflasche werden wir hin und her geworfen. Darum ist es wichtig, dem Tag eine Struktur zu geben. Erst tue ich dies, dann das, dann jenes.
Als ich an Sankt Bonifaz ankomme, ist die Tür verschlossen: Ostermontag, erst am nächsten Morgen ist Duschen möglich. Aus der Kirche strömen einige Gottesdienstbesucher. Ein älterer Mann mit hellbrauner Hornbrille sieht mich zusammengekauert seitlich auf den Kirchenstufen sitzen und schiebt mir mit reglosem Gesicht einen Zehneuroschein zu. Ich nicke, murmele ein »Danke« und schäme mich abgrundtief. Ich frage mich, ob ich nach einer Nacht im Freien auf Menschen mit einem geregelten Leben schon wie ein Bettler wirke.
Der Akku meines Handys ist inzwischen leer. Ich werde den Kindern erst morgen schreiben können, falls dann in Sankt Bonifaz das Aufladen möglich ist.
Mit Koffer und Rucksack stapfe ich wieder zum Hauptbahnhof und beobachte die Reisenden. Viele, die über Ostern Verwandte besucht haben, fahren jetzt wieder in ihre Orte zurück. Diese Familienleute leben in ihrer Welt, und ich lebe in einer neuen Welt, die gar keine Welt ist. Oder besser: eine Unwelt. Eine Unwelt des Überlebens, eine Existenz mit den Elementarzielen Essen, Trinken, Waschen, Aufwärmen, Handyaufladen. Eine Unwelt, weil sie keinen höheren Zweck, keine über das blanke Überleben hinausgehenden Ziele kennt. Eine Unwelt ohne Lachen, Hoffen und freudigem Erwarten. Einfach nur die Stunden fristen, die Tage herunterleben, bis es dann hoffentlich irgendwann vorbei ist. So blicke ich in die Zukunft und merke, wie eine unsichtbare Kraft mich in meinem Inneren nach unten zieht. Stiche im Herzen, mein Kopf wiegt zehn Tonnen.
Am Mittag verzehre ich einen Döner. Den Rest des Tages lege ich mich auf eine Bank hinter der Glyptothek und sehe in den grauen Himmel. Eine Wolkendecke wie ein verwaschenes farbloses Bettlaken. Nach einer Stunde Sinnieren fällt mir ein, was mich in der Morgendämmerung positiv berührt hat: das Vogelgezwitscher. Der vielstimmige Frühlingschor, wie er aus den Hecken und Sträuchern an der Matthäuskirche hervorgestiegen ist. In den noblen Büroräumen in der Nymphenburger Straße, die ich mir mit Galkowski und Kleinert geteilt habe, habe ich mich oft bis in die Morgenstunden aufgehalten. Gut möglich, dass beim Verlassen des Büros irgendwo auch Vögel zu hören waren. Aber meine Gedanken spazierten auch beim Verlassen des Büros durch offene Kundenrechnungen, Kreditraten und Mahnbescheide. Die Natur existierte für mich nicht.
In trostlosen Lagen brauchen wir kleine Freuden, Dinge, die wir im Alltagsgetriebe übersehen, überhören oder als selbstverständlich erachten. Ich nehme mir vor, mich beim nächsten Einschlafen auf den Gesang der Vögel im Morgengrauen zu freuen.
Trotz gerade erfolgter Umstellung auf die Sommerzeit fällt die Dunkelheit schnell wie ein Theatervorhang über den Königsplatz. Es beginnt zu nieseln. Ich flüchte mich zur Technischen Universität, unter das Vordach der Mensa. Die Straße ist fast menschenleer. Nur ein paar Studierende mit asiatischen Gesichtszügen parken ihre Fahrräder vor der gegenüberliegenden Musikhochschule und tragen ihre Instrumentenkoffer wie eine Monstranz vor sich her. Ich setze mich auf den Boden und starre in die Regenpfützen auf der Straße. Die Nacht werde ich auf einer der Bänke hinter der Glyptothek verbringen. Nicht nur weil Ostern ist, habe ich mir eine Flasche bulgarischen Rotweinfusel am Bahnhof gekauft, an der ich jetzt nippe und warte, bis ich richtig müde bin und der Regen aufhört.
Kurz vor zweiundzwanzig Uhr fährt ein dunkelblauer Bus mit der Aufschrift Sternenexpress an der Mensa vor. Ein junger Mann mit Flaumbart und eine Frau um die vierzig mit offenem lockigem Haar, ebenen, nur von einer beiläufigen Falte über der Nasenwurzel durchbrochenen Gesichtszügen wuchten einen großen Stahlbehälter aus dem Laderaum und stellen ihn auf einen ebenfalls mitgebrachten Hocker. Als ich mich abwende, um mich still zu verdrücken, ruft die Frau nach mir.
»Hallo, möchten Sie nicht auch eine Suppe essen?«
Die Stimme klingt etwas rau, aber nicht unsympathisch. Ich drehe mich um und sehe in ein Paar sanftblaue Augen.
»Gestatten, Amelie«, sagt sie und strahlt mich warm an. Ihre Jeans ist an mehreren Stellen eingerissen, und ich bin mir nicht sicher, ob das Mode oder ein Zeichen der Solidarität mit den Obdachlosen und ihren teils zerrissenen Kleidern ist. Denn sie selbst ist, wie ihr zwar freundliches, aber auch dominantes Auftreten verrät, aus einer anderen Welt als die der Obdachlosen. Über einem schwarzen kragenlosen Pullover trägt sie ein rotes Regencape. Sie drückt mir eine Plastikschale mit stark duftender Gemüsesuppe in die Hand. Ihr Helfer, ein Student namens Benno, wie ich aus den kurzen Gesprächen schließe, die er mit den anderen Obdachlosen führt, gibt mir eine trockene Semmel dazu.
Die anderen Obdachlosen. Jetzt erst nehme ich sie richtig wahr, während sie gierig die Suppe in sich hineinlöffeln. Im Schutz der Dunkelheit sind sie scheu wie Stadtfüchse aus den umliegenden Hecken herbeigehuscht. Niemand soll sie länger als nötig im Licht der Öffentlichkeit sehen. Wirke ich etwa jetzt auch schon so wie ein Großstadtfuchs?
»Sorry, wir haben nicht mehr so viel Suppe. Leider ist kein zweiter Teller mehr drin. Am Anger und am Isartor, da gibt’s immer mehr. Dort fängt unsere Tour ja an.«
Amelie drückt mir noch einen Apfel in die Hand, dann setzt sie sich ans Steuer und fährt mit Benno davon. Ich sehe dem Bus hinterher, bis er hinter den Propyläen verschwindet. In diesem Augenblick fällt mir ein, an wen mich Amelie erinnert. Ihre sanfte Art, das wallende Haar, der achtsame Blick führen mich gedanklich in meine Kindheit zurück. Entfernte Verwandte aus der DDR hatten mir ein Buch geschenkt, als ich vielleicht acht Jahre alt war. Der Zauberer der Smaragdenstadt hieß es, geschrieben von Alexander Wolkow. Die kleine Elli und ihr Hund gelangen auf wundersame Weise in eine Zauberwelt, vermissen dort aber ihr Zuhause. Die Fee Stella, Herrscherin über das Rosa Land, ordnet die Dinge schließlich so, dass es Elli und ihrem Hund gelingt, in ihre alte Heimat und zur Familie zurückzukehren.
Auch ich möchte in meine alte Familie oder in eine ähnliche Konstellation zurück. Das kleine Glück des bürgerlichen Lebens. Ein wieder irgendwie geregeltes Leben mit einem Dach über dem Kopf. Ich muss die Dinge so ordnen, wie es Stella damals für Elli und ihren Hund getan hat. So weit ist mir das klar. Aber das ist leichter gesagt als getan. Mir fehlt jeglicher Schwung, die Dinge anzupacken.
Ich werfe mich auf die Bank hinter der Glyptothek. Nicht mal ein letzter Schluck bulgarischer Rotwein...
Erscheint lt. Verlag | 5.7.2019 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Abstieg • Absturz • Amelie • Ausgestoßener • Betrug • Entwicklungsgeschichte • Erfolg • Geld • Geschäftsmann • Geschichten • Geschichtenerzählen • Glück • Glückssuche • Halt • Hartz IV • heilsame Kraft • Hoffnung • Isar • Isartor • Jagd nach Erfolg • Jagd nach Geld • John Strelecky • Jorge Bucay • Lebenhilfe • Lebensmut • Lebensweisheit • Liebe • Märchen • Märchenerzähler • Miete • Misstrauen • München • Mut • Obdachlosenhilfe • Obdachloser • Obdachlosigkeit • Paulo Coelho • Psychische Verletzungen • Rückschläge • samir • Sendlinger Tor • Sergio Bambaren • Sinn im Leben • Sinnsuche • Stabilität • Stalter • Sterne • Sternenexpress • Straße • Straßenleben • Trauer • Unbehaustsein • unbezahlbar • Vasile • Verlust • Verzweiflung • Wiederaufstehen • Wohnungsloser • Wohnungslosigkeit • Wohnungsnot • Zusammenbruch |
ISBN-10 | 3-95890-283-9 / 3958902839 |
ISBN-13 | 978-3-95890-283-1 / 9783958902831 |
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