Gemma Habibi (eBook)

Roman
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2019 | 1. Auflage
224 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2178-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Gemma Habibi -  Robert Prosser
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Ein fulminantes Portät der Jetztzeit. In Syrien wütet Krieg, Flüchtlinge erreichen Europa, die Gesellschaft gerät in Aufruhr. All das streift das Leben von Lorenz. Er trainiert für die Meisterschaft, will siegen, will frei sein und reist dafür bis nach Westafrika. Sein Freund, der nach Wien geflohene Zain, genannt Z, träumt von einem Schlag, der ihn als Boxer unsterblich macht. Zwischen den beiden steht die Fotografin Elena. Mit ihrer Kamera hält sie die unruhige Gegenwart fest. Und den finalen Kampf.  Kurdistan, Wien, Ghana: Drei Welten, drei Leben, drei Runden im Boxring. Ein dichter, intensiver Roman über Obsession und Freundschaft, Engagement und Aufbruch, geschrieben von einem der wortgewaltigsten Schriftsteller seiner Generation.

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Robert Prosser, geboren 1983 in Alpbach/Tirol, lebt dort und in Wien. Er studierte Komparatistik und Kultur- und Sozialanthropologie. Der Autor ist Träger etlicher Auszeichnungen, unter anderem des Grenzgänger Stipendiums der Robert Bosch Stiftung und des Aufenthaltsstipendiums am Literarischen Colloquium Berlin LCB. Sein zweiter Roman "Phantome" war auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2017. robertprosser.at

1.


Links, rechts. Simon bandagiert meine Hände, führt das schwarze Band abwechselnd ums Gelenk und zwischen den Fingern hindurch, fest genug, um Schutz zu sein für die Knochen unter der Haut. Langsam, gewissenhaft, er hält die Augen auf meine Linke, meine Rechte, ich weiß, dass in seinem Blick eine besondere Zärtlichkeit liegt.

Simon tippt mir auf die Schulter, und zur Antwort forme ich eine Faust. Es ist ein stummer, einzig aus Berührung bestehender Dialog. Er kontrolliert sein Werk, blickt hoch. Keine Zuneigung mehr in seinen Augen, nur Kalkül, mit diesen Augen wird er bald in der Ecke stehen. Du machst ihn fertig, kein Problem, sagt er und zieht meinen Kopf zu sich, Stirn an Stirn sagt er: Du hast Herz, Junge.

Alter Boxer-Sprech, dein Herz, mein Herz, vor jedem Kampf eine Anrufung dieses besonderen Organs, Metapher für Willen oder Irrsinn, was auch immer dich gegen einen übermächtigen Gegner durchhalten lässt; eine Litanei, die in jeder Umkleide jeder Mehrzweckhalle millionenfach geflüstert oder rausposaunt wurde, vor jedem Fight, der je zwischen hier und Kapstadt oder Reykjavík stattgefunden hat. Der Raum ist erfüllt von den zischenden Atemstößen schattenboxender Gestalten. Österreichische Staatsmeisterschaft 2015, zweiter Tag. Aus dem Saal dringt Geschrei, aufgrund eines Knock-outs vielleicht, dessen Anblick das Publikum von den Plätzen gerissen hat. Alle horchen auf. Auch Simon hält inne, sagt: Christine ist gerade dran.

Als ich zu boxen anfing, bläute sie mir das Wichtigste ein, mich bei einem Angriff nicht wegzudrehen, die Augen auf den Gegner zu halten und ständig eine Hand zur Deckung am Gesicht. In ihrer ruhigen Art wies sie mich auf falsch ausgeführte Haken oder schlampige Schritte hin; als ich sie erstmals bei einem Turnier sah, überraschte mich die nahezu halsbrecherische, jagende Kampfweise, die sie innerhalb der Seile zeigte. Hoffentlich bedeutet das Schreien nicht, dass sie am Boden liegt.

Jetzt, mit bandagierten Händen, ist es definitiv, unausweichlich. Nervosität, Vorfreude, kribblige Mischung, mein Körper muss warm werden, mein Kopf kühl bleiben. Jemand fährt mir von hinten durch die Haare, es ist Z, ganz aufgeregt: Mann, Halbfinale, zeig, wie gut du bist. Z kann nicht ruhig bleiben, keine Chance, nicht jetzt, nicht, wenn er selbst unbedingt in den Ring will. Er läuft Idris entgegen, ruft: Bruder, ich wäre heiß auf die Show. Idris hat Kopfhörer auf, bekommt nichts mit. Sein Oberkörper pendelt, die Fäuste deuten Schläge an. Simon sieht Z kopfschüttelnd nach, sagt: Der ist wie ein junger Hund.

Mit Fingerspitzen streicht er Vaseline über meine Stirn, Augenbrauen und Schläfen, die mit einem Tausendstel Adrenalin vermischte Salbe hilft, allfällige Blutungen zu stillen. Zweiter Tag, zweiter Auftritt. Nach der gestrigen Abwaage wurde mir für den Auftakt ein Salzburger zugelost. Bleiben wir locker, sagte er, Kohle gibt’s keine, also warum uns die Schädel einschlagen. Übern angebotenen Fistbump hinweg erwiderte ich: Klar, machen wir so. Plumpe Finte, kaum war der Kampf freigegeben, schlug er harte Geraden, um mich mit der ersten Attacke von den Füßen zu fegen. In der nächsten Runde erwischte ihn mein rechter Haken, ich glaubte die Wucht zu spüren, die durch ihn jagte, mit diesem Schlag holte ich den Sieg.

Die Metalltür in den Gang öffnet sich, Jubel, Klatschen, Christine bahnt sich ihren Weg, Umarmungen, anerkennendes Schulterklopfen. Knapp dahinter ihr Betreuerduo: Andi, ein vormaliger Kämpfer, und Jo, der Besitzer meines Gyms. Habt ihr sie gesehen, strahlt er uns entgegen, habt ihr gesehen, wie stark sie war? Sie löst den Knoten ihrer braunen Haare, fährt sich mit den Fingern durch die Strähnen. Der überstandene Kampf zeigt sich am linken verschwollenen Auge und dem leichten Zittern, das durch ihren Körper läuft. Simon wirft ihr ein Handtuch zu. Hör mal, wendet sich Andi an mich, der Boden ist hart, die Seile sind locker, vergiss das nicht. Ich nicke. Bei festem Grund musst du mehr Kraft für die federnden Schritte aufwenden, bei lockeren Seilen kannst du dich weit rauslehnen, hast aber wenig Spannung im Rücken. Glückwunsch, sage ich, und Christine wischt sich mit dem Handtuch übers gerötete Gesicht. Danke. Gleich bist du dran, das schaffst du. Sie tänzelt rückwärts, bis in die Haarspitzen erregt von ihrem Erfolg. Bleib in Bewegung, sagt Simon zu mir, ich hole dir was zu trinken.

Klipp klapp, die Springschnur knallt. Schnalzt übern Boden, klipp klapp, nur auf dem linken Fuß, an der Wand Poster vergangener Turniere, mit finsterer Visage verfolgen die Boxer mein Springen, den Wechsel auf den rechten Fuß, der Sekundenzeiger rennt, klipp tack, klapp tick. Linke Gerade, linker Haken, rechte Gerade. Jab Hook Punch. Der Spiegel zeigt 1,84 Meter und 75 Kilo in roten Shorts und rotem Leibchen. Endlich. Bald ist es vorbei. Jedes Mal überrascht es, wie schnell drei Runden vergehen. Um mich entspannte Großmäuler, die ihren Auftritt hinter sich haben – ich bin nicht zu schlagen, ich marschiere durch bis zum Titel –, die ihre Heldentaten oder die Niederlagen anderer kommentieren: Meine Fresse, Janko lag nach dreißig Sekunden.

Spiegel, komm, einmal noch, 1,84 Meter, 75 Kilo. In der nächsten Garderobe mein Gegner. Linksausleger wie ich, zwei Kilo leichter. Nachdem ich in der Sporthalle eingetroffen war, kam Simon mit der Liste der heutigen Paarungen zu mir. Deiner hat bereits 26 Kämpfe, sagte er, der hat Erfahrung, pass auf. 26 stehen meinen 18 gegenüber. Links, links und rechts, Jab, Jab und Punch, im Takt sag ich mir vor: Ich schick ihm Schock in den Kopf. Jab und Punch, Hook. Und: Er wird nur Schwarz vor den Augen haben.

Mehrere Wochen Vorbereitung liegen hinter mir, Wochen, in denen das Schnalzen der Springschnur den Takt vorgab. Sparring, Krafttraining, Laufrunden um den Block oder durch den Park. Es war, ehrlich gesagt, fürchterlich langweilig. Wenn Simon noch einmal verlangt hätte, diese oder jene Kombi auf die Pratzen zu knallen, ich hätte ihm den Zahnschutz vor die Füße geworfen und wäre abgehauen. In den Nächten träumte ich vom tickenden Sekundenzeiger, und wenn ich tagsüber durch die Stadt ging oder auf die Straßenbahn wartete und mich unbeobachtet glaubte, spielte ich schattenschlagend die Taktiken durch. Das Boxen übernahm mein Gehen, Reden, Denken. Das war’s wert, ich bin bereit für drei mal drei. Drei Runden à drei Minuten.

Quer durch den Raum Simons Stimme: Lorenz, es geht los. Ein aufmunternder Blick von Christine, Z ruft: Gemma habibi. Simon folgt mir in den Kellergang, hinter ihm Jo; die beiden werden in meiner Ecke sein. Am Ende des Flurs die Metalltür.

Nichts ist heftiger als das, sagte Z, als wir darüber sprachen, was für uns am Boxen das Einmalige, das Unübertreffliche, das Allerbeste ist, nichts ist heftiger, als zuzugehen auf dieses Schreien und Stampfen. Die Metalltür vibriert vom Bass eines Lieds, ein Security drückt die Klinke, der Lärm wird zu Applaus und aus dem Wummern ein Klassiker von Wu-Tang: Cash rules everything around me. Vor mir die Halle mit Sprossenwänden, Basketballkörben, Spielfeldmarkierungen, auf der Tribüne verstreut die Zuschauer. Im Gegensatz zu Z stört mich das Treiben um den Ring. Aber mich fasziniert, was innerhalb der Seile passieren wird. Ich treffe auf einen, den ich nicht kenne, dem ich höchstwahrscheinlich nie wieder begegne, und für drei Runden wird er das einzig Bedeutsame sein. Z hielt mich für verrückt, als ich ihm erzählte, dass ich am liebsten ohne Publikum boxen würde. Nur der Ring und der Gegner, aber kein Johlen und Klatschen und Pfeifen, keine Zeltfest-Atmosphäre. Nur das Wesentliche. Zwei Typen, einer rot gekleidet, der andere blau, links und rechts, Sieg oder Niederlage, ein simples System, das eindeutig klärt, auf welchem Level du kämpfst. Ich halte den Blick unten, auf meiner Schulter Simons Hand. Sein fester Griff gibt mir die Gewissheit, dass er bei mir ist, als wir die Stufen hoch zum Ring nehmen; er spannt die Seile, und ich gleite hindurch, lasse die Dreifaltigkeit los, Jap Cross Hook, eins zwei drei. Auf dem Boden dunkle Flecken, Spuren der vorigen Kämpfe. Der andere beobachtet mich aus der Ecke. Er ist kleiner, stämmiger, tritt für einen Bregenzer Club an. Blonde Haare, braun gebrannte Haut, Schublade Sonnyboy: Ich werde mir dein Herz schnappen. Zahnschutz rein, der Schiedsrichter holt uns in die Mitte, wir stehen uns gegenüber, und an seinem starren Blick errate ich, dass er mehr zu bieten hat als ein Sportstudent, der gern Surflehrer wäre. 26 Kämpfe, ich muss vorsichtig sein. Ich werde mir dein Herz schnappen, werde über dich kommen wie ein Aztekenpriester. Ich spüre seine lauernde Gewalt und bin bereit dafür. In meinen Augen ein kaltes Fuck you. Da endlich: der Gong.

In der Pause massiert Jo mir die Schultern, Hammer Doublette, sagt er, richtig gut. Eine Linke auf den Körper und Kopfhaken sofort nachgelegt. Erst traf ich den Bregenzer unterhalb der Rippen in die Leber. Kein Organ ist anfälliger, die Übelkeit, die der Schlag hervorrief, brachte ihn ins Wanken, seine schützende Rechte sank herab und gab die Schläfe frei. Simon hält mir den Trinkbecher hin, ich schnappe mit den Lippen nach dem Strohhalm, mir ist kalt und gleichzeitig schwitze ich und zieh die Schultern...

Erscheint lt. Verlag 26.7.2019
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Accra • Ankommen • Boxen • Damaskus • Deutsche Literatur • Familie • Flucht • Flüchtling • Flüchtlingswelle • Fotografie • Freundschaft • Ghana • Junge deutsche Literatur • Literaturpreis • Longlist Deutscher Buchpreis 2017 • Neues Leben • Österreich • Palmyra • Politik • Protestbewegung • Proteste • Reise • Sport • Subkultur • Syrien • syrienkonflikt • Syrien Krieg • Vertriebene • Wien • willkommenskultur
ISBN-10 3-8437-2178-5 / 3843721785
ISBN-13 978-3-8437-2178-3 / 9783843721783
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