Die Familie (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
166 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76123-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Familie -  Andreas Maier
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Andreas Maier schildert in hochkomischer und abgründiger Weise die komplette Selbstzerstörung eines Familien-Idylls. Tranken die Vorfahren noch in scheinbar gemütlichster Weise familieneigenen Apfelwein miteinander, umgeben von Obstbäumen und Hühnern und Ziegen, geht es in den späteren Generationen - ebenso scheinbar - ständig um Erbfälle, ein riesiges Grundstück, ein böswilliges Denkmalschutzamt mitsamt Baggerführer, um schräge Kinder und chaotische Enkel. Irgendwann wird dem 1967 geborenen Erzähler stellvertretend für seine Generation klar: »Wir sind die Kinder der Schweigekinder.« Das Begreifen der eigenen Familiengeschichte setzt vor einem Grabstein ein, weit außerhalb der Stadt Friedberg in der Wetterau.



<p>Andreas Maier, 1967 im hessischen Bad Nauheim geboren, studierte Philosophie und Germanistik, anschlie&szlig;end Altphilologie. Er lebt in Frankfurt am Main.</p>

1


Die Familie besaß das mit Abstand größte Grundstück am Usa-Ufer. Es war so riesig, daß auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Mühlweg mindestens zehn Häuser Platz hatten. Das Gelände maß über zweihundert Meter in der Länge und nahm fast die ganze Strecke von den Vierundzwanzig Hallen, unserem Eisenbahnviadukt, bis hin zur Barbarastraße ein. Von dem Viadukt waren wir in meiner Kindheit nur durch eine kleine Gerberei getrennt, die zwischen uns und der Bahnstrecke lag. Alles andere gehörte uns.

Die Familiensage lautete so: Die Bolls waren in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts aus dem Vogelsberg oder der Rhön in die Wetterau gekommen und hatten hier den Steinmetzbetrieb gegründet, der Gründer hieß Melchior Boll. Die Firma war am Usa-Ufer angesiedelt, an dem ich später aufgewachsen bin. Mein Urgroßvater Karl hatte auf dem Gelände einen großen Obstgarten, hielt dort Hühner und Ziegen, hatte zahlreiche Apfelbäume und ein riesiges Faß, aus dem er den Anwohnern Apfelwein ausschenkte. Die Nachbarn brachten ihre Gläser mit, und dann saßen sie auf Bänken im Schuppen neben dem Faß, aßen Walnüsse und tranken Süßen und im neuen Jahr den fertigen Apfelwein.

1970 zogen meine Eltern auf das Grundstück. Vorher hatten wir im Haus meiner Großeltern in Bad Nauheim gewohnt, woran ich mich allerdings nicht erinnern kann. Mein bewußtes Leben setzt mit der ersten Zeit auf dem Friedberger Grundstück ein.

Ich habe nur fragmentarische Erinnerungen an den Anfang. Die Steinwerkefirma meines Großvaters (Wilhelm), Urgroßvaters (Karl) und Ururgroßvaters (Melchior) war noch in Betrieb; unser Teil mit dem neuen Wohnhaus war von dem Firmengelände durch nichts abgegrenzt, es gab keinen Zaun, keine Mauer, nicht einmal eine optische Begrenzung, man konnte einfach über das Feld nach drüben zur Firma spazieren, ohne das Trottoir betreten zu müssen. Meistens sah ich meine Mutter in ihrem hellen Übergangsmantel hinüberlaufen, sie war zu der Zeit Direktorin der Firma, das Büro wurde von der alten Falkschen Mühle beherbergt, einem Fachwerkgebäude aus unvordenklichen Zeiten, das ebenfalls auf dem Grundstück stand und dem das Mühlrad fehlte. Es fehlte auch der Flußlauf, denn dieser war um die Jahrhundertwende verlegt worden. Die mühlradlose Mühle stand jetzt einfach an der Straße, fünf Meter von dieser entfernt. Sie war das älteste Gebäude im Viertel.

Um unser neues Haus herum befand sich ein freies Geländestück, das am Anfang noch fast unbepflanzt war, bis auf einige übriggebliebene Apfelbäume. Die Obst- und Gemüseplantagen, die laut der Familiensage Urgroßvater Karl dort gehabt haben soll, mußten offenbar alle im Zuge des Hausbaus verschwunden sein. Nun war überall bloß neuangelegte grüne Wiese.

Alles, was ich auf diesem Gelände erlebte, hatte für mich mythische Züge und kam mir vielfach vergrößert vor. Zum Beispiel grub mein Vater mit ein paar Leuten eines Tages eine Grube von vielleicht zwei oder drei Metern Länge, mehr als einem Meter Breite, und in die Tiefe ging es ebenfalls einen Meter. Wozu diese Grube diente, weiß ich nicht mehr, aber für uns Kinder war sie tagelang eine urtümliche Behausung, wir überdachten sie, legten Decken hinein, fantasierten Abenteuer … Wie andere ihre Baumhäuser bestiegen, kletterten wir in jene Grube hinab. Vor allem war es abenteuerlich, in diese Grube hinunterzugelangen, denn für mich war sie immens tief. Auch das Herauskommen war nicht einfach, ich mußte immer auf etwas hinaufklettern, und meistens zog mich irgendwer nach oben. Es muß die früheste Zeit im Mühlweg gewesen sein, bevor mich die große Angst befiel, die mich dann meine ganze Kindheit über weitgehend von meiner Umwelt (und solchen Grubenabenteuern) fernhielt.

Vielleicht war ich damals noch frei für Eindrücke, und der Grubenaufenthalt bedeutete für mich den ersten Eindruck von »unter der Erde sein«. Ich hatte mit Sicherheit keine Assoziation mit »Grab«, aber ich hatte mich noch nie zwischen »Wänden« aufgehalten, die ausschließlich aus Erde bestanden, und ich hatte auch noch nie ein Leben unterhalb der Grasnarbe erlebt.

Eine andere Situation, ebenfalls ganz früh: ein Zelt im Garten, eines ohne Zweck, nur für uns Kinder hingestellt, vermutlich am ehesten für meine Schwester, denn das Zelt (eine Art Partyzelt für Kinder) wurde hauptsächlich von den Freundinnen meiner Schwester und ihr frequentiert, es stand einige Tage, heute muß ich bei der Erinnerung an damals an das jüdische Laubhüttenfest denken. Es war ein rituelles Draußensein. Was da so alles passierte, weiß ich natürlich ebenfalls nicht mehr. Ich habe nur das Zelt vor Augen. Wie die Grube die erste in meinem Leben gewesen war, so war auch das Zelt das erste.

Dann: Feuer. In die Erde gerammte brennende Fackeln. Nacht, Sterne, vermutlich eine Gartengesellschaft meiner Eltern auf Plastikstühlen mit Salzstangen, Gervais-Dip und Bier, aber für mich waren es ausschließlich diese riechenden, schmauchenden, wie Geister emporwehenden und umherflackernden Fackeln. Vielleicht mein erstes bewegtes Feuer überhaupt, denn im Haus meiner Großmutter gab es keinen Kamin, und Gartenfackeln kannte ich ebenfalls nicht. So sammelten sich auf diesem Gelände Urbilder: Erde, Grube, Feuer, aber auch: Sterne, Mond, Nacht.

Von Anfang an gab es welche, die im Garten »mithalfen«. Einer ganz dunklen Erinnerung nach könnte eine Hilfe mein Onkel Heinz gewesen sein. Damals, als wir auf das Grundstück zogen, war das Verhältnis zu ihm noch unbelastet. Das kam mir zumindest so vor, ich spürte keine Dissonanzen oder Belastungen irgendeiner Art. Natürlich wurde mir, dem Kleinkind, die Welt und die Beziehungen der Familie untereinander immer als heil dargestellt.

Mein Onkel J., der geburtsbehinderte, dem seine an den Kopf angesetzte Zange zeitlebens die heile Welt verhindert hatte, auch wenn er sich zur Hälfte seines Wesens in einer solchen gefühlt haben mochte, half (wenn überhaupt) nur zwangsweise im Garten mit. Im Grunde habe ich nur eine Szene mit ihm vor Augen, nämlich wie er mit einem Spaten auf Maulwurfsjagd ging. Wir hatten manchmal zahllose Maulwurfshügel im Garten, und mein Vater erzählte mitunter etwas angegriffen davon, wie begeistert J. auf die Maulwürfe einschlug, um sie zu töten und anschließend in die Usa zu werfen. Sonst tötete er nie und neigte auch nicht dazu, Tiere zu quälen. Hier aber ging es um Jagd, Erfolg und Anerkennung. Ich selbst habe damals immer nur die Hügel gesehen, nie einen Maulwurf selbst. Meinen ersten Maulwurf sah ich überhaupt erst Jahrzehnte später, in der Pfalz, beim Joggen. (Kaum bemerkte er mich, da verschwand er unter die Grasnarbe in die Erde, wie wir damals in unserer temporären Gartengrube.)

Ich bin aber dennoch, auch wenn ich nur dieses solitäre Bild vor mir habe, felsenfest davon überzeugt, daß Onkel J. anfänglich im Garten geholfen hat. Ob sie das Gelände damals schon Garten nannten, offen wie es war gegen die ganze Umwelt, kann ich nicht sagen.

Seltsam nahm sich die Terrasse hinter dem Haus aus, eine Plattform aus Waschbeton, ohne jede Umrahmung, sie ging einfach in die weite Wiese hinein, wie eine Anlegeplattform in die offene See.

Dann kam der Zaun zur Straße, erste Rosenbeete wurden angelegt, Rhododendren um die Terrasse herum gesetzt, jeden Samstag der Geruch gemähten Rasens und um 17.15 Uhr stets die Frage meines Vaters, wie Eintracht Frankfurt gespielt habe. Für ihn war das Grundstück ein Idyll und eine Aufgabe zugleich.

Später wurde ein Plastikrohrsystem im Garten verlegt, damit man überall Sprengwasser zur Verfügung hatte und nicht fünfzig Meter lange Schläuche hinter sich herziehen mußte. Die Anlage war generalstabsmäßig geplant, Hunderte von Metern Strecke wurden rings um das Haus aufgegraben und wieder verschlossen. Eine Gartenlaube kam dazu, und im Sommer rieselten nun allerlei Sprenklergeräte im Garten, deren mechanisches Ticken und Tacken bei Dämmerungsbeginn mit dem Ticksen der Amseln konkurrierte.

Hier nun also wohnte meine...

Erscheint lt. Verlag 17.6.2019
Reihe/Serie Ortsumgehung
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Brüder • Das Haus • Das Zimmer • Der Kreis • Der Ort • Die Straße • Die Universität • Frankfurt • Gesellschaftsspiel • Kindheit • Ortsumgehung • ST 5144 • ST5144 • suhrkamp taschenbuch 5144
ISBN-10 3-518-76123-4 / 3518761234
ISBN-13 978-3-518-76123-6 / 9783518761236
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