Die Offenbarung (eBook)

Roman
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2019 | 1. Auflage
285 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1881-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Offenbarung - Robert Schneider
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Das Mysterium der Musik.

Am Heiligabend des Jahres 1992 entdeckt der Naumburger Organist Jakob Kemper im morschen Gehäuse der Kirchenorgel ein unbekanntes Oratorium von Johann Sebastian Bach: ein Jahrhundertfund, der sein Leben völlig aus der Bahn wirft. Je genauer der eigenbrötlerische Musikforscher und Organist die Melodien analysiert, desto Unerklärlicheres trägt sich zu. Bald ahnt er, dass die Partitur ein Geheimnis birgt: Sie ist nicht allein Musik, sondern vermag Erinnerungen an Vergangenes, Verdrängtes und Zukünftiges zu beschwören. Bach schien am Ende seines Lebens eine Art kosmisches Gesetz entdeckt zu haben, an dem die Seele des Menschen gesunden kann - oder in die tiefste Verzweiflung stürzen.

Noch hält Kemper seinen Fund geheim. Doch dann treffen vier Experten der Bachgesellschaft ein - sie überwachen die Restaurierung der Orgel, auf der Bach selbst einmal gespielt hat - und die Geschichte nimmt einen rasanten Lauf ...

Robert Schneider, der mit 'Schlafes Bruder' einen Welterfolg erzielte, eröffnet uns in diesem Roman durch seinen liebenswürdig verschrobenen Helden einen erstaunlichen Blick auf die Macht der Musik und nicht zuletzt auf den großen Meister Bach selbst.

'Robert Schneider bleibt ein Stilmagier.' Die Welt.

'Ein literarisches Glanzstück.' W. A. Z.

'Entwaffnender Humor, bissige Ironie und ein verblüffender Sinn für Situationskomik.' DeutschlandRadio Kultur.



Robert Schneider, geboren 1961, lebt in einem Bergdorf im vorarlbergischen Rheintal. Nach seinem Debütroman »Schlafes Bruder« (1992), der zum Welterfolg wurde, veröffentlichte er u. a. die Romane »Die Luftgängerin«, »Die Unberührten«, »Schatten«, »Kristus. Das unerhörte Leben des Jan Beukels«, »Die Offenbarung«  sowie die Erzählung »Der Papst und das Mädchen«. Zuletzt erschien »Buch ohne Bedeutung«.

»Wieso hast du die Vorhänge zugezogen?«, fragte Eva, indem sie die Vorhänge aufzog.

»Er hat Dreck am Stecken«, bemerkte der Vater.

Jakob schwieg, kniff die Lider zusammen und stöhnte, weil ihn das Tageslicht schmerzte.

»Sieht schon viel gemütlicher aus«, fuhr Eva fort, wobei sie die Arme zum Kopf hob und ein Hohlkreuz machte, so dass Jakob unweigerlich auf ihre Brüste sehen musste, die sich groß und rund unter dem T-Shirt abzeichneten. Evas Augen blitzten kurz auf, weil sie erreicht hatte, was sie wollte.

»Das sind also alles Noten«, wiederholte der Vater. »Nicht ein Buch über Geschichte.«

»Ich kann euch nichts anbieten«, entgegnete Jakob hastig, um vom verhassten Thema abzulenken.

»Anbieten konntest du noch nie etwas.«

»Walter, bitte!«, zischte Eva.

»Wie gesagt: Es ist nichts im Haus«, sagte Jakob und ignorierte den Sarkasmus des Vaters.

»Bloß keine Umstände!«, beruhigte Eva ihn. »Setz dich einfach zu uns. Weißt du, wir haben uns richtig Sorgen gemacht.«

»Der Junge«, sprach der Vater unbeirrt weiter, »ist da zum Glück ganz anders. Das ist ein richtiger Kemper. Der hat Rasse. Und zäh ist er wie …«

Eva schnitt ihrem Mann das Wort ab. »Macht Leo gute Fortschritte im Klavierspielen? Man sagt, dass die musischen Fächer wieder sehr im Kommen sind, von daher.«

»Wir sind zufrieden«, antwortete Jakob. »Nicht wahr, Leo?«

Der Junge nickte und drehte sich weg. Jakob konnte nicht länger seinen Gesichtsausdruck studieren, um herauszufinden, auf welcher Seite Leo nun wirklich stand. Auf der Seite der Bachgesellschaft oder auf seiner, Jakobs, Seite.

»Der Kleene hat einen Mordsspaß mit dem Dings … Boydings!«, sagte Eva nach einer Weile, um das peinliche Schweigen zu durchbrechen, das entstanden war. »Hier ist es aber wirklich ungemütlich. Jakob, warum heizt du nicht?«

»Um die Kempersche Rasse abzuhärten. Nicht wahr, Vater?«, erwiderte er, und seine ansonsten ruhigen braunen Augen wurden giftig.

»Jakob! Sollst du so mit deinem Vater reden? Walter liebt dich. Er liebt dich wirklich. Wann werdet ihr endlich Frieden machen?«

»Beim Zapfenstreich im Rosengarten«, sagte der Vater mit einer wegwerfenden Handbewegung in Richtung Eva, »wird man dich vermutlich nicht sehen.«

»Bestimmt nicht!«, antwortete Jakob und lachte dabei fast schmerzlich laut heraus.

»Was gibt es da zu lachen? So ein Fackelzug ist was Erhebendes. Leo wird zum ersten Mal die Fackel tragen. Schöne, stramme Sache.«

Es entstand wieder ein bleiernes, fast unerträglich langes Schweigen. Eva blickte immerzu auf die chinesische Porzellanuhr über Tschaikowskys Klavier. Leo spielte mit dem Gameboy, und der Alte starrte, die Hände auf dem Rücken, zum Erkerfenster hinaus. Plötzlich erinnerte sich Eva, dass sie einen wichtigen Anruf machen wollte. Zu dumm, dass Jakob noch immer kein Telefon besitze, sagte sie erleichtert und stand vom Sofa auf, dann hätte sie von hier anrufen können. Es sei wirklich schade, dass man sich so selten sehe, wo man so nahe beieinander wohne, von daher…

Etwas überstürzt trat die Familie Kemper den Heimweg an. Zwar verstand der Vater die Eile seiner Frau nicht, wusste auch von keinem Anruf, fügte sich aber.

Im Weggehen zwinkerte Leo dem Bruder vielsagend zu. Jakob wusste nicht, wie er es deuten sollte. War es als Zeichen ihrer Komplizenschaft gedacht, oder war es als Warnung zu verstehen?

Jakob wollte gerade die Wohnungstür schließen, als er im Treppenhaus Eva keifen hörte.

»Walter, mit deiner braunen Scheiße gehst du mir langsam auf den Keks!«

Kemper spitzte die Ohren, vernahm keinen Laut von Verteidigung. Der Alte musste Eva völlig verfallen sein. Andererseits war sie ihm verfallen. Davon war er ebenfalls überzeugt.

»Primaten!«, flüsterte er.

Aufatmend drehte er den Schlüssel herum und rückte den Garderobenschrank wieder vor die Tür. Er fühlte sich auf einmal stark. Vielleicht war es die Jämmerlichkeit des Vaters gewesen, die ihm plötzlich Kraft gab, der Anblick dieses verbohrten verbitterten Mannes, der sich nie mit Schuld und Scheitern auseinandergesetzt hatte.

»Wenn einer von uns beiden rückfällig geworden ist«, flüsterte Kemper, »bist es du.«

Er holte noch einmal tief Luft, schlurfte ins Wohnzimmer, räumte den Arbeitstisch leer – eine ehemalige Tür auf zwei Holzböcken –, wischte die Platte mit einem feuchten Tuch ab, zog die weißen Seidenhandschuhe über, die er sich zugelegt hatte, um in Berlin P 25 zu sehen, ging zum Wäscheschrank, kramte den Fund hervor, wickelte das Bettlaken auf, trug die Tasche ins Wohnzimmer und stellte sie mitten auf den Tisch.

Jetzt fühlte er sich der Sache gewachsen. Er war bereit. Er öffnete die Tasche. Ehrfurcht ergriff ihn, aber kein Händezittern mehr. Er tat etwas, das ihn selbst überraschte. Er bekreuzigte sich.

Ein weiches graues Winterlicht fiel durch das schmale Erkerfenster auf den Schreibtisch. Das Haus war nordseitig gelegen, weshalb die Sonne selbst bei strahlendem Himmel kaum ins Fenster schien. Außerdem schattete die gebirgige Fassade von St. Wenzel nahezu den ganzen Topfmarkt ab. Der winzige Platz mit dem großen Nussbaum und den zierlichen Bürgerhäusern aus dem achtzehnten Jahrhundert, von deren Fronten der Putz abgeplatzt war, lag still und vereist. Nur aus den tiefer liegenden Straßen drang das Summen der Autos herauf in die Wohnung. Die Turmuhr hatte soeben heiser die Mittagsstunde geschlagen.

Kemper stand am Schreibtisch und blickte mit feierlichem Gesicht auf die Reisetasche. Hatte sie wirklich der Anna Magdalena gehört? War ihr Mann, als er im September 1746 nach Naumburg gekommen war, um die neue Orgel zu prüfen, überstürzt aufgebrochen? Hatte er seine sieben Sachen nicht gefunden und deshalb flugs ihre Tasche geschnappt? Gut möglich, zumal es bei den Bachs oft drunter und drüber ging und ihr Haus einem Taubenschlag glich, wie die Quellen berichten.

Der Forscher lächelte verträumt, zeichnete mit den Fingern die Stickereien auf der Tasche nach, folgte den Konturen des Hündchens mit dem blauen Halsband, wie es keck aus einem Bukett von Rosen hervorluchste. Diesmal war er ruhig, als er den Fund in Augenschein nahm. Die auferlegte Akribie und Nüchternheit des Wissenschaftlers, der nur glaubte, was er beweisen konnte, bot ihm Schutz vor dem Unglaublichen.

Als er in die Tasche blickte, wurde er gewahr, dass neben der blauen Mappe noch andere Dinge lagen. Stofffetzen kamen zum Vorschein, vermutlich verrottete Kleidungsstücke. Die Lumpen rochen nach fauligem Holz. Vorsichtig zog er ein Stück nach dem andern heraus, breitete jedes auf dem Tisch aus und betrachtete es. Er fand etwas, das aussah wie eine langärmelige Weste. Sie schien aus dunkelbraunem Samt genäht, mit teils blinden, teils echten Knopflöchern. Die Annahme, dass es sich um eine Weste handelte, bestätigte sich, als ihm fünf silberne Knöpfe entgegenpurzelten. Die Weste oder was davon noch übrig war, schien in der Taille eng geschnitten. Der Forscher stutzte. War sie eingegangen oder war Bach im Alter ein schlanker Mann gewesen und nicht der feiste, aufgedunsene, wie es das bekannte Portrait von Elias Gottlob Haußmann glauben machte? Auch die Kniehose aus vermutlich einmal gelbem, jetzt fahl bräunlichem Damast deutete auf einen nicht eben beleibten Träger hin, zumindest, was den Bundumfang betraf. Während er ein völlig neues, revolutionäres, ja Maßstäbe setzendes Bachbild im Kopf skizzierte, kramte Kemper weiter in der Tasche und holte ein anderes Stoffbündel hervor. Es bestand aus einem schwarzen löchrigen Kniestrumpf, einigen Fetzen aus grauem Barchent – vermutlich die Leibwäsche – sowie etwas Filzigem, das sich nach Haaren anfühlte. Behutsam löste er das Objekt heraus und tat einen kurzen, kehligen Aufschrei.

»Seine Perücke! Ich fasse es nicht! Kemper, du hältst Bachs Perücke in der Hand! Das ist der helle Wahnsinn! Bist du dir bewusst, was unter dieser Perücke gedacht, gefühlt, geliebt, gehasst und geschwitzt wurde?«

Er presste die Hand an den Mund und verbat sich jede weitere unwissenschaftliche Gefühlsäußerung. Dennoch hätte er zu gern die Allongeperücke auf den Kopf gesetzt und sich Bach nahe gefühlt, wie noch kein Mensch zuvor dem Meister nahe gewesen war.

»Sei nicht albern!« Er legte die Perücke auf den Tisch und schritt mit der Inventarisierung des Fundes fort. Er richtete den Arm der Tischleuchte so aus, dass die Lampe einen blassen gelben Lichtkreis auf den Boden der Tasche warf und ein kleines Rasieretui mit winzigem Messer und einem flachen, ovalen Schleifstein beschien sowie den Kopf einer Tabakspfeife samt abgebrochenem, langem Schaft. Die Pfeife war aus weißem Ton gebrannt. Vorsichtig fügte er die beiden Teile zusammen. Sie passten genau aufeinander. Der Forscher grinste spitzbübisch, lugte wieder auf den Boden der Tasche und kramte ein letztes Fundstück hervor. Es war ein schwarzer kleiner Beutel, dessen Öffnung mit einer schwarzen, wohl ehemals silbernen Kordel festgezurrt war. Auf dem Beutel standen die mit Silberfaden gestickten, ineinander verschlungenen Initialen »JCA«.

»Jott-Tse-Ah«, sagte Kemper leise vor sich hin, knotete mit gerunzelter Stirn die Kordel auf, öffnete den Beutel, steckte seine Stupsnase hinein. Er roch nichts, drückte die Nase tiefer in den Beutel und roch nichts. Er nahm einen Briefumschlag, klopfte den Beutel vorsichtig darüber aus. Feines...

Erscheint lt. Verlag 3.6.2019
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1992 • Bachgesellschaft • Erinnerung • Heiligabend • Humor • Johann Sebastian Bach • Musik • Musikforscher • Musikforschung • Oratorium • Organist • Orgel • Restaurierung • Robert Schneider • Roman • Schlafes Bruder • Sensationsfund • Spannung • Vergangenheit • verschollen • Weihnachten • Werk
ISBN-10 3-8412-1881-4 / 3841218814
ISBN-13 978-3-8412-1881-0 / 9783841218810
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