1. Kapitel

Angel

Es ist weit nach Mitternacht. Der Himmel ist schwarz, keiner der vielen Sterne zeigt sich, nicht mal der Mond ist zu sehen. Aus den Lautsprechern dröhnt in einer ohrenbetäubenden Lautstärke eine raue, heisere Männerstimme, die über das Leben, den Tod und die Liebe singt. Wenn ich den Songtext richtig verstanden habe, und das ist dank der Party, die um mich herum stattfindet, nicht gerade leicht, hat er sein Leben lang die Liebe gesucht und sie bis zu seinem Tod nicht gefunden - das tut mir leid für ihn.

Zu meinem Pech weiß ich ganz genau, wie er sich fühlt. Erst als ich aufgehört habe nach der Liebe zu suchen, wurde ich von ihr gefunden...

Dank des Rockers, der sich auf der anderen Seite des Geländes der Dead Riders befindet, dem bekanntesten und zugleich gefürchtetsten Motorcycle-Club des Landes, weiß ich, wie es sich anfühlt zu lieben, und könnte daher dem Sänger auch sagen, dass es nicht immer einfach ist.

Vor neun Monaten habe ich all meinen Mut zusammengekratzt, die Flucht ergriffen und mein altes Leben inklusive Taylor, meinem gewalttätigen Ehemann, hinter mir gelassen. Mit ihm war ich seit dem College zusammen, insgesamt habe ich sechs Jahre meines Lebens an ihn verschwendet.

Vor vier Jahren war ich dann so dumm und habe ihn geheiratet. Jetzt im Nachhinein weiß ich, dass wir nie eine Chance auf ein glückliches gemeinsames Leben hatten. Taylor und ich sind viel zu unterschiedlich.

Ich liebe das Individuelle, glaube an das Schicksal und bin alles andere als durchschnittlich, während er in seinem Anzug und mit seinen perfekt aufpolierten Schuhen in der Masse untergeht, steche ich mit meinen schneeweißen Haaren, die von blauen Strähnen durchzogen sind, aus der breiten Masse heraus.

Während Taylor Tattoos hasst, liebe ich diese Art der Körperkunst. Vor einem Jahr habe ich mir auf die linke Schläfe drei kleine Sterne tätowieren lassen. Doch das hat mir nicht gereicht, jetzt schmückt eine Sonne meinen linken Handrücken und ein sichelförmiger Halbmond den rechten. Als meine Mom mich nach meiner Geburt Angel genannt hat, konnte keiner verstehen, warum sie mir keinen normalen Namen gegeben hat, jetzt bin ich vierundzwanzig und kann nur sagen, dass dieser Name absolut perfekt zu mir passt.

Es muss ein Wink des Schicksals sein, dass ich in dieser sternenlosen Nacht hier in Tacoma sitze und Ghost, den Mann, den ich vor drei Monaten unter ziemlich heftigen Umständen kennengerlernt habe, dabei beobachte, wie er sich mit Ace, dem Präsidenten des MCs, unterhält.

Es hat mehrere Wochen gedauert bis ich kapiert habe, dass mir keiner dieser Rocker etwas antun will, im Gegenteil, sie haben mich vorbehaltlos in ihrer Mitte akzeptiert. Jeder dieser Harley fahrenden Männer würde mich mit seinem Leben beschützen.

Ganz am Anfang hatte ich panische Angst vor allem und jedem. Gerade Razzor und Skorpion, zwei Dead Riders, die wirklich zum Fürchten aussehen, haben mich unglaublich eingeschüchtert.

Ich war es gewohnt, geschlagen und misshandelt zu werden, es hat lange gedauert, bis ich nicht mehr bei jeder Kleinigkeit zusammengezuckt bin.

Skorpion und seine Frau Nora haben drei echt tolle Jungs. Erst vor kurzem haben sie uns verraten, dass Nora schon wieder schwanger ist. Während sie hofft, dass es dieses Mal ein Mädchen wird, ist sich Skorpion sicher, dass er wieder einen kleinen Rocker gezeugt hat. Dieser furchteinflößende Mann, der sich auf seinen Glatzkopf einen überdimensional großen schwarzen Skorpion tätowieren hat lassen, ist einer der liebevollsten Väter, die ich je gesehen habe.

Der älteste seiner Rasselbande ist Ryan. Er ist sieben Jahre alt und kommt dieses Jahr in die Schule. Der jüngste, Owen, ist gerade mal sechzehn Monate alt. Mason, der mittlere der drei, ist erst letztes Wochenende sechs geworden, er ist zwar der hübscheste von allen, aber er hat es faustdick hinter den Ohren.

Bevor ich nach Tacoma zu den Dead Riders gekommen bin hatte ich keine Ahnung davon, wie es in einem Rockerclub zugeht, so langsam fühle ich mich aber wie zuhause.

Tacoma ist eine mittelgroße Hafenstadt im Pierce County im Bundesstaat Washington. Die Stadt liegt am südlichen Ende des Puget Sounds.

Die alte Fabrikhalle, die als Clubhaus dient, befindet sich so nah am Hafen, dass ich das Salzwasser, je nachdem wie der Wind geht, schmecken kann. Das Revier der Dead Riders erstreckt sich bis zum Mount-Rainier-Nationalpark.

Ace, der von allen nur Rocker Dämon genannt wird, legt großen Wert darauf, dass das große Gelände des MCs zu jeder Tages- und Nachtzeit bewacht wird. Die Prospects, so werden die Anwärter genannt, die dem Club beitreten wollen, kontrollieren genau, wer kommt und wer geht.

Am Anfang konnte ich nicht verstehen, warum das riesige Areal der Riders komplett von einem meterhohen Zaun umschlossen ist, mittlerweile habe ich es kapiert.

Das Leben, für das sich all diese Männer und Frauen entschieden haben, ist verflucht gefährlich. Sie leben jenseits der Gesellschaft in einer Schattenwelt, von der ich, bis ich Ghost begegnet bin, nicht einmal wusste, dass sie existiert.

Dieser Motorcycle-Club ist wie ein eigener Stamm. Sie halten sich nicht an die Gesetze, scheren sich einen Dreck um Richtig und Falsch und interessieren sich nur für ihre eigenen Regeln. Es hat lange gedauert, bis ich die Dynamik und die Sprache des MCs verstanden habe.

Begriffe wie Member, Supporter und Patch habe ich nicht gekannt.

Jetzt weiß ich, dass ein Member ein vollwertiges Clubmitglied ist, ein Supporter ist ein Unterstützer und Patch werden die verschiedenen Aufnäher genannt, die die Kutten der Rocker zieren. Jeder der Dead Riders trägt seine eigene Lederweste und obwohl sich diese Lederwesten vom Schnitt her gleichen, ist jede individuell.

In diesem Club herrscht eine strenge Hierarchie. Jedes Mitglied hat seine festen Aufgaben. Slide, der Vizepräsident des Clubs, hat schulterlange blonde Haare und ist Aces rechte Hand. Er und seine Frau Ellen haben einen sechs Monate alten Sohn namens Ethan. Tick ist einer der ältesten Mitglieder, ich schätze ihn auf Anfang fünfzig, er ist nicht nur der Tätowierer der Riders, sondern auch der Sergeant at Arms des Clubs. Soweit ich das verstanden habe, ist er für die Sicherheit und die Bewaffnung zuständig. Amy, Aces Old Lady, so werden die Frauen der Rocker bezeichnet, hat mir erklärt, dass Tick eine Vorliebe für Sprengstoff hat und bei jeder sich bietenden Gelegenheit etwas in die Luft sprengt.

Eine Frau, die nichts weiter trägt als einen silbernen, glitzernden BH, stolpert an mir vorbei und übergibt sich keine drei Meter von mir entfernt auf den Boden.

Igittt...

Spider kommt auf mich zu, wirft ein Holzscheit in das Ölfass, setzt sich neben mir auf die Holzbank und reicht mir seine letzte Kippe. Ich nehme sie dankbar entgegen und starre in die tanzenden Flammen. Die leere Schachtel wirft er in das Feuer, zischend verschmort die dünne Plastikfolie, wenige Sekunden später ist die Zigarettenschachtel nur noch Asche.

„Hey Angel, alles klar?“

Spider war, als ich ihn das erste Mal gesehen habe, noch ein Nomad, das bedeutet, dass er ein Rider ohne festes Mutterchapter war. Als Nomad hat man kein Zuhause, man lebt aus den Satteltaschen seines Bikes, schläft in billigen Absteigen und führt Aufträge für den Club aus. Seit er fest zu den Tacoma Riders gewechselt ist, wirkt er ruhiger und nicht mehr so gehetzt. Im Gegensatz zu den meisten Mitgliedern lebt er nicht hier auf dem Gelände, sondern zusammen mit Abigail, seiner Old Lady, in einem kleinen Haus am Stadtrand.

Damals, vor einem Vierteljahr, war vieles noch anders. Ghost war noch ein Prospect und ich, tja, ich war eine verängstigte Stripperin aus dem ‚Devils Point’.

Wann immer ich daran denke, wie Ghost und ich uns kennengelernt haben, läuft mir ein unangenehmer Schauder über den Rücken.

In dieser verhängnisvollen Nacht wurden nicht nur unzählige Menschen getötet und das ‚Devils Point’ dank mehrerer Handgranaten in die Luft gesprengt, oh nein, ich habe auch Ghost das Leben gerettet, indem ich einem Chinesen das vierzig Zentimeter lange Messer, das Ghost immer an seinem Oberschenkel trägt, in den Bauch gerammt habe.

Wie so oft rufe ich mir in Erinnerung, dass dieses Schlitzauge es nicht anders verdient hat, trotzdem fällt es mir noch immer schwer damit klarzukommen, dass ich einen Menschen getötet habe.

Dieser Chinese war ein Killer, der den Auftrag hatte, Ghost und seine Brüder umzubringen. Er und seine Landsleute haben unzählige unbeteiligte Personen in die Luft gesprengt und erschossen. Dasselbe hätten sie auch mit mir gemacht, wenn ich nicht so schnell reagiert hätte. Ich hatte die Wahl. Ich konnte wie all die Jahre davor ein hilfloses Opfer sein, das zulässt, dass es verletzt wird oder endlich damit anfangen, mich zu verteidigen.

Die Geschichte, wie Ghost und ich uns kennengelernt haben, ist weder schön noch romantisch, doch sie ist unsere. Es mag sein, dass die Sache zwischen ihm und mir blutig begonnen hat, doch ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit wir beide unser Happy End bekommen. Ellen, Slides Old Lady, hat mir, kurz...