Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich (eBook)
256 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00415-3 (ISBN)
Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, gestorben 2022 in Berlin, wuchs in Hessen auf und lebte seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit einundzwanzig Bände.
Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, gestorben 2022 in Berlin, wuchs in Hessen auf und lebte seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit einundzwanzig Bände.
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14.1.2018 | Es stimmt, ich kann nicht nicht schreiben.
Einen Monat keinen Computer anschalten, vier Wochen keine Datei füllen, 31 Tage den Meinungsrummel nur von außen verfolgen – ich hab es geschafft, aber es kam mir vor wie ein Vierteljahr. Selbstauferlegte Pause, schlimmer als ein Marathon (den ich nie geschafft habe). War es eine Bußübung, die ich mir da auferlegt habe? Und warum? Der Vogeldeuter wollte wissen, körperlich, wie das ist, ein gesunder Vogel mit gestutzten Flügeln zu sein. Nun weiß ich besser, was ich will und worauf ich nicht verzichten kann. Eine freiwillige Handfessel, dafür bin ich nicht der Typ. Der Schmerz, wenn Hirn und Hände, Kopf und Finger nicht in den Gleichtakt, in Bewegung, in Schwung kommen dürfen. Nie wieder solch ein Experiment! Es lebe die Tastatur!
Auftrieb an Silvester: ein paar Sandsäcke abgeworfen.
Schon beim Neujahrsspaziergang durch den Schlosspark Charlottenburg, aufgeräumt wie immer und fast ohne Restedreck der Feuerwerke auf den Wegen, erklärte ich, verkatert, aber aufgeräumt, Susanne meine neue Devise: Heute beginnt nicht mein Vorruhestand, sondern ein Sabbatical, mindestens ein halbes, höchstens ein Jahr Pause. Keine Veröffentlichungen, nichts. Große Pause, und dann leg ich noch einmal los, vielleicht nicht mehr als Einzelkämpfer, vielleicht in einem Rechercheteam hier oder da, mal sehn. Es war ungewöhnlich warm und meine Gefährtin so erleichtert, keinen Jammerrentner an der Seite zu haben, dass sie mit einer Liebeserklärung antwortete, die gewöhnlichen vier Silben, dazu ihr schönstes Funkeln in den Augen.
«Heiterkeit ist ein wesentlicher Zustand, den man mindestens einmal pro Tag erreichen sollte.» Diesen Satz hatte sie mir zum Frühstück serviert, wir schenken uns zu Neujahr gern irgendwelche sinnreich-albernen Sprüche. Goldene Worte, silberne Banalitäten, bronzene Schlausätze. Diesmal bekam ich diesen, vom Theatermann Hans Neuenfels.
Ich dachte nicht, das schon nötig zu haben, eine Ermahnung zur Heiterkeit, diesen Wink mit dem Zaunpfahl. Aber sie hatte den Satz ausgesucht, bevor sie von meinem Entschluss wusste. Außerdem baut sie vor, als gute Strategin. Und sieht mir die Heiterkeit vor der Tastatur zu selten an – weil sie nebenan sitzt und stapelweise wenig erheiternde Aufsätze korrigiert.
Meine Jahresgabe für sie lieferte Goethe: «Nicht überall, wo Wasser ist, sind Frösche; aber überall, wo Frösche sind, ist Wasser.»
Sabbatical hört sich hochtrabend professoral an. Ich will mir Zeit nehmen, die Folgen der sogenannten Eurokrise besser zu verstehen, die Verleugnung der Bankendummheit und die Versündenbockung Griechenlands durch M.s Regierungen. Ich nenn es nicht nationalistisch, ich nenn es deutschistische Politik, nur an die deutschen Wähler zu denken und damit die Lähmung Europas, den Rechtspopulismus inklusive AfD, den chinesischen Einfluss in Europa entscheidend zu fördern.
An Weihnachten wieder ein Gespräch mit Lena. Natürlich nicht verraten, dass sie meine heimliche Adressatin geworden ist. Schön zu sehen, wie schnell bei ihr eine gezielte politische Wut aufsteigt. Etwa wenn ich ihr erzähle, dass es im Bundestag immer noch kein Lobbyistenregister gibt, wie es bei der EU längst üblich ist (was zwar nicht viel nützt, aber doch ein wenig). Man konnte richtig sehen, wie es in ihr wütete, als ich erklärte, warum CDU und CSU das ablehnen und die SPD es viel zu lasch befürwortet. Sie fragte hartnäckig nach. Andererseits erfreulich pragmatisch: Wenn nun schon so viele Flüchtlinge im Land sind, sollten wir doch die Gelegenheit nutzen, uns mehr auf die Welt einzulassen, vielleicht auch bescheidener zu werden, «so viele leben doch im Speck, oder?» Ich widersprach ihr nicht. In Sachen Klima wurde sie so streng und gnadenlos, dass ich ihr staunend zuhörte.
15.1. | Ohne Musik hätte ich diese Tage und das Nichtschreiben nicht durchgehalten. Das hatte ich lange nicht mehr, zwei, drei Stunden, halbe Tage vor den Lautsprechern sitzen und die Tonfolgen widerstandslos auf die Sinne wirken lassen. Keith Jarrett, endlich mal wieder! Susanne hat mir die CD seines Venedig-Konzerts geschenkt, unser Konzert, das wir damals nicht hören konnten im Juli 2006, als wir unseren 10. Hochzeitstag törichterweise in Venedig verbrachten. Drei Tage, viel zu heiß, viel zu voll, viel zu teuer, viel zu schön, und viel zu spät bekamen wir mit: Keith Jarrett, wiederauferstanden aus den Höllenjahren der Lähmung, geht wieder auf die Bühne, spielt im Teatro La Fenice! Natürlich gab es keine Karten mehr.
Jetzt konnte ich das nachholen, rund 95 Minuten eines italienischen Abends, den ich an fast jedem Tag seit Weihnachten ein paar Stunden lang melodiebesoffen nachfeierte. Die heiteren Rhythmen ins Ungewisse, die Tonfolgen, die sich selber antreiben und mich antreiben und vorantreiben, die spröden, spielerischen Harmonien, sie lockern die Synapsen immer noch so schön wie in den Siebzigern und Achtzigern, als er mein Favorit war. Ich hatte Jarrett länger nicht gehört, er war mir eine Zeitlang verdorben, nachdem ich auf einer Party mit Kollegen mal nach meiner «Lieblingsmusik» gefragt wurde. Ich mochte die Frage schon damals nicht und hatte nach einigem Zögern «Keith Jarrett» gesagt, da schaltete sich ein hochnäsiger Literaturkritiker ein (der viel Wind macht um «Shootingstars» und Literaturbetriebsgerüchte und sich gern auch als Musikfreak geriert) und meckerte: «Keith Jarrett, das ist ja, als ob man sagt: Mozart. Wer Mozart als Lieblingsmusik nennt, versteht nichts von Musik!»
Jetzt wurde Jarrett voll rehabilitiert, strahlende, heitere Präzision von den ersten Takten an. Endlich war ich wieder frei, das Piano passte bestens zum Schwung des neuen Anfangs.
Nach so viel harmonischer Klarheit aus dem Theater von Venedig auf einmal der klare Gedanke: Wir leben in der prächinesischen Epoche.
(Ich weiß, Historiker sagen: Wir wissen nicht, in welcher Epoche wir leben. Ich weiß es ja auch nicht. Trotzdem sind Hypothesen erlaubt, mit denen man arbeiten kann.)
Ansonsten viele Spaziergänge, Fahrten durch die Stadt und auf Empfehlung von Susanne «Joseph und seine Brüder» von Thomas Mann gelesen, den ersten Band. Mir etwas zu viel Gottesfixierung, zu viel stilistische Selbstgefälligkeit, aber ich will mir keine Kritik anmaßen, hochnäsig wie der Kollege von der Literatur. Die Lektüre jedenfalls perfekt zum Ablenken und Absacken. Eine Geduldsübung, die mit Wortwitz belohnt wird. Der erste Satz haftet immer noch am besten: «Tief ist der Brunnen der Vergangenheit» – nützlich sogar für Wirtschaftsjournalisten in diesen geschichtsvergessenen Zeiten, wo schon zehn Jahre danach kaum ein Mensch über die Finanzkrise 2008 richtig Bescheid weiß.
Thomas Mann, wie kommt ein Wirtschaftsmann zu Thomas Mann? Wird eine gebildete Lena später vielleicht fragen. Kurz gesagt, ich war einmal ein Germanistikstudent, der gerne feuilletonistischer Beobachter werden wollte, aber eines schönen Tages den Fehler machte, in ein Seminar über Tucholsky, Polgar, Kracauer zu gehen. Bei Siegfried Kracauers Texten überfiel mich die bittere Erleuchtung: Das schaffst du nie, diesen menschenfreundlichen, wissenden, scharfen, luftigen Blick. Wochenlange Krise. Ich brach das Studium ab. Dann der Ausweg Journalistenschule und gleich ran an die härteren Realitäten der Wirtschaft. Du verstehst, ich habe einiges an Lektüre nachzuholen.
16.1. | Sechs Neujahrsvorsätze für diese Aufzeichnungen: Nicht übers Wetter. Nichts zur Erwärmung des Klimas. Nicht über lokalberliner Ärgernisse und Bürokratieblüten. Nicht über den Präsidenten der USA. Möglichst wenig über die rechten Socken und Stiefel. Möglichst wenig über die maßlos Überschätzte.
Nichts fürs Fernsehen, höchstens fürs Nachtprogramm: Dank der Cum-Ex-Geschäfte ist Deutschland auf der Rangliste der korruptesten Länder kräftig aufgestiegen. Deutsche Steuerberater von Profiaktionären konnten jahrelang mit einem kleinen Trick bei der Kapitalertragssteuer und mit Hilfe angesehener deutschen Banker und Banken den Staat um viele Milliarden betrügen. Das Finanzministerium unter Herrn Sch. griff trotz mehrfacher Hinweise auf den Betrug lange nicht ein. Die Eliten, wieder mal. (Dabei bin ich nicht gegen Eliten, die sich an Gesetze und Anstand halten.)
Plötzlich die Idee, in meine Schatztruhe der Schimpfwörter zu greifen – während des Studiums bei der Lektüre des «Simplicissimus» gesammelt und neulich beim Räumen entdeckt. Man müsste die wieder in Umlauf bringen: Ihr Speivögel, ihr ausgestochnen Bösewichte, Spitzköpfe, Siebdreher vom Starnberger See! Du Wendenschimpf, du Erzvogel, du Steckenknecht, du Fehlhalde, du Schubsack, du Knollfink in deiner Taunusvilla! Ihr Schnapphähne, Schleppsäcke, ihr Scholderer und Schunderer! Ja, Schunderer, das ist es, die Mischung aus Schulden, Schuld, Schande, Schund, Schinder. Ihr Schunderer von der Commerzbank!
17.1. | Assad und Putin bomben das herrliche Syrien in Schutt und Asche, töten und vertreiben Millionen Menschen, die oberfrommen iranischen Mullahs und der Oberdemokrat Erdoğan schießen mit – während die klugen Chinesen, wie man irgendwo in fünf Zeilen liest, schon fleißig beim Wiederaufbau sind. Das Gelände für die «neue Seidenstraße» ist perfekt...
Erscheint lt. Verlag | 20.8.2019 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Angela Merkel • Bankenkrise • Belletristik • Eurokrise • Europa • Flüchtlinge • Griechenlandkrise • investigativer journalist • Migration • Neue Rechte • Roman • Tagebuch |
ISBN-10 | 3-644-00415-3 / 3644004153 |
ISBN-13 | 978-3-644-00415-3 / 9783644004153 |
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