Ich denke an Sie (eBook)

Die Kunst, einfach da zu sein
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
160 Seiten
Verlag Herder GmbH
978-3-451-81545-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ich denke an Sie -  Notker Wolf,  Simon Biallowons
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Viele nennen es die Krankheit unserer Zeit, andere ein Gespenst, das umgeht, nur dass dieses Gespenst wirklich existiert: Die Einsamkeit ist tief in unsere Gesellschaft eingedrungen, unabhängig von Schichten und Altersklassen. Notker Wolf kennt selbst die Einsamkeit und hat viele einsame Menschen getroffen. Aus diesen Begegnungen weiß er, wie Einsamkeit in das Leben schleicht oder auch plötzlich einbricht, wie sie das Leben lähmt und Menschen kaputt macht. Vor allem aber weiß er: Man kann Einsamkeit bekämpfen und besiegen. Durch die Kunst, einfach da zu sein, für andere, aber auch für sich selbst. Von dieser Kunst erzählt Wolf mit viel Sensibilität und spricht auch von seinen eigenen Ängsten und Einsamkeitsmomenten. Man spürt die Tiefe der Einsamkeit, ob im Alter oder in einer neuen Stadt, und zugleich schöpft man neuen Mut. Wolf reißt mit, raus aus der Lähmung der Einsamkeit, hin zu einem kraftvollen und befreiten Ja zum Leben. Einsamkeit mag ein Gespenst sein. Aber eines, das man verjagen kann.

Notker Wolf OSB, Dr. phil, (1940-2024)  trat 1961 in die Benediktinerabtei St. Ottilien ein und wurde 1977 zum Erzabt gewählt. Von 2000 bis 2016 war er als Abtprimas des Benediktinerordens mit Sitz in Rom der höchste Repräsentant von mehr als 800 Klöstern und Abteien weltweit. Bei Herder u.a. die Bestseller: »Gönn dir Zeit, es ist dein Leben«; »Die sieben Säulen des Glücks«.

Notker Wolf OSB, Dr. phil, geb. 1940, trat 1961 in die Benediktinerabtei St. Ottilien ein und wurde 1977 zum Erzabt gewählt. Von 2000 bis 2016 war er als Abtprimas des Benediktinerordens mit Sitz in Rom der höchste Repräsentant von mehr als 800 Klöstern und Abteien weltweit. Bei Herder u.a. die Bestseller: "Gönn dir Zeit, es ist dein Leben"; "Die sieben Säulen des Glücks". Simon Biallowons, geb. 1984, ist studierter Philosoph und Absolvent der katholischen Journalistenschule ifp. Er arbeitete als Korrespondent in Rom und am Vatikan, lebte im Nahen Osten und berichtete als Reporter für verschiedene Medien aus vielen Ländern. Biallowons ist Verfasser zahlreicher Bücher in den Bereichen Religion und Gesellschaft, darunter auch der Bestseller "Franziskus". Derzeit ist er Cheflektor des Herder Verlages und weiterhin als Autor und gefragter Redner tätig.

Ich denke an Sie

Man konnte die Verzweiflung des Mannes, seine Sorgen, vor allem seine Ungewissheit sehen, man konnte sie hören, konnte sie sogar körperlich spüren. Die Sorgen eines Pastors, hoch oben im Norden Deutschlands, wohin ich zu einem Vortrag eingeladen worden war. Viele Menschen waren da – und nicht viel weniger Fragen. Ich war schon etwas geschlaucht, hatte eine lange Anreise hinter mir und den Vortrag und die Gespräche mit den Menschen, die mich mit den unterschiedlichsten Themen löcherten. Und jetzt der Pastor, mein Gastgeber, der mich eingeladen hatte. Irgendwann war der Trubel etwas abgeflaut, und wir hatten begonnen, uns zu unterhalten. Oft sind solche Gespräche am Rande einer Veranstaltung Smalltalk, durchaus interessant, aber aufgrund der Kürze und der Atmosphäre nicht immer unbedingt sehr tiefschürfend und persönlich. Das ist gar nicht schlimm, gehört zur menschlichen Konversationskultur. Nicht jedes Gespräch kann intensiv und intim sein, nicht jedes Gespräch kann in die Tiefe des Lebens und der Seele dringen. Dieses Gespräch aber tat es. Noch immer befanden sich etliche Menschen um uns herum, doch der Pastor schien sie gar nicht mehr zu bemerken. Er erzählte mir von seiner Familie, von den großen Problemen. Ich konnte durch seine Worte unmittelbar spüren, wie da ein Leben durch die Hände glitt, wie die Finger verzweifelt versuchten, die Knoten der Existenz festzuhalten, vergeblich. Der Mann schüttete, ach was, er goss mir sein Herz in Strömen aus, und ich war ergriffen, wie viel an Verzweiflung in diesem Herz war, schwindende Hoffnung, Angst und Zweifel. Fast alles, was Gewissheit und damit Bezugspunkte hätte geben können, war ungewiss geworden. Die Menschen, die der Bezugsrahmen für das Leben gewesen waren, schienen sich mit Lichtgeschwindigkeit zu entfernen. Verglühende Sterne einer Galaxie, die vorher noch so nah und schön erschienen war. Der Pastor hatte einen Job, eine Gemeinde, er hatte seinen Glauben – und war doch zutiefst vereinsamt. Eine Einsamkeit der Ungewissheit, der Unsicherheit, der Verirrtheit in der eigenen Existenz, im eigenen Leben.

Man kann das nicht komplett vergleichen, weil die Not des Mannes so groß und seine Einsamkeit so tief war. Und doch muss ich manchmal, wenn ich an seine Einsamkeit denke, auch an jene Einsamkeit denken, die man von Waldspaziergängen her kennt oder aus den Bergen, wenn man plötzlich niemanden mehr um einen herum sieht, wenn die Wandergruppe schon einmal vorausgegangen ist und man nicht weiß, ob man nun die gelbe oder die rote oder die blaue Route nehmen soll – oder gar keine Wegweiser mehr da sind. Wenn es nicht still um einen ist, sondern die Natur, die vorher so betörend schön war und einen zum Innehalten und Einatmen und Lächeln verführt hat, auf einmal lärmend laut erscheint, als würde sie die eigene Orientierungslosigkeit besingen, und dann die innere Einsamkeit mit jedem Ton zunimmt und sich die Fragen auftürmen: Wo sind die anderen? Warum haben sie nicht gewartet? Warum haben sie mich allein gelassen? Warum musste ich nur dieses Foto machen, wäre ich doch gleich mitgegangen! Hätte ich hinterherlaufen sollen? Und natürlich: Wohin? Wohin soll ich gehen?

Ich habe in meinem Leben viele Waldspaziergänge unternommen, und das Wandern in den Bergen ist für mich etwas Besonderes. Bis heute fahre ich mit meiner Schwester gern nach Südtirol in den Urlaub, ich liebe die raue Schönheit, die Kontraste von dunklen Felsen und hellem Himmel, dieses naturgewordene »Höher mein Gott zu dir«. Ich kenne das Suchen nach Aufstiegen und Abstiegen, nach Trittsicherheit, nach einem Seil zum Festhalten, ich kenne den Blick nach losen Geröllsteinen, die Ausschau nach Regenwolken und das Lauschen auf ein herannahendes Gewitter. Ich kenne das von meinen Touren durch die Berge – aber auch von meiner Tour durch mein eigenes Leben. Ich werde bald achtzig Jahre alt, und viele der Menschen, die Bezugspunkte meiner Existenz waren, sind nicht mehr da. Die Wandergruppe, mit der ich seit vielen Jahren durch mein Leben unterwegs bin, wird immer kleiner. Wieder und wieder bleibt einer zurück. Dafür vermehren sich die Sorgen vor der Zukunft, und die Frage tritt hinzu, wie man alleine weitergehen soll. Die Zukunft, die mir nicht mehr so weit weg erscheint wie noch mit zwanzig oder dreißig Jahren, ist trotz der geringeren Entfernung schwerer zu erkennen, verdeckt durch die Wolke der Ungewissheit. Ich kann nicht behaupten, dass ich mich groß vor der Zukunft sorge. Das hat verschiedene Gründe, von denen ich später noch erzählen will. Aber einzelne Momente der Einsamkeit kenne ich sehr wohl, und ihre Zahl wächst im Alter. Und als der Pastor damals von seiner Situation erzählte – eigentlich ganz weit weg von den Alpen oder Dolomiten, aber doch im Hochgebirge des Lebens unterwegs –, da musste ich an all das denken. Ich hörte ihm zu, antwortete auf seine Fragen, die auf mich einprasselten, als wäre wirklich ein Gewitter in den Bergen ausgebrochen. Und ich versuchte, Worte zu finden. Ob es die richtigen Worte waren oder nicht, darüber machte ich mir keine Gedanken. Ich wollte mit ihm sprechen, wollte die Stille der Einsamkeit seines Herzens durchbrechen, und sei es nur für diesen Moment. Ich erwartete nicht, seine Probleme lösen zu können, das wäre anmaßend gewesen. Darum ging es auch nicht.

Worum ging es mir damals aber dann, ganz instinktiv, ohne lange darüber nachzudenken? Es ging mir um etwas, das ein Satz aus der Bergpredigt im Matthäusevangelium ganz wunderbar ausdrückt: »Sorgt euch also nicht um morgen; denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen.« (Mt 6,34) Das ist der Schluss der berühmten Rede Jesu »Von der rechten Sorge«. Für mich ein zentraler Satz einer zentralen Stelle im Evangelium und in meinem ­Leben. Die Beschreibung dessen, worum und worüber man sich nicht sorgen soll, wirkt für mich enorm befreiend. Nicht in dem Sinne, dass da zur kompletten Sorglosigkeit aufgerufen würde, zum Nichtstun und einem einfachen In-den-Tag-Hineinstolpern. Das Sorgen um sich selbst und um andere gehört zum Leben dazu. Doch die rechte Sorge bringt all das in ein rechtes Maß. Sie zeigt uns, was wichtig sein kann, aber nicht essenziell sein muss, um glücklich zu werden. Bei meinem Gesprächspartner allerdings ging es um Essenzielles, nicht Nebensächlichkeiten. Warum also musste ich an die »rechte Sorge« denken? Weil es menschlich ist, zu hadern, zu zittern, hin und her zu überlegen, was kommen wird. Die Sorge sei, so hat es Martin Heidegger einst gesagt, geradezu ein Spezifikum des Menschen, sie zeichne den Menschen als Menschen aus. Ein Tier sorgt sich nicht im eigentlichen Sinne um das Morgen. Es hat Bedürfnisse, erleidet Schmerzen, spürt Angst. Es sorgt sich vielleicht um seinen Nachwuchs oder das Rudel, aber die auf eine Zukunft bezogene Sorge im eigentlichen Sinne, die kennt nur der Mensch. Das ist also per se nichts Schlechtes, im Gegenteil. Wer liebt, sorgt sich: um den anderen, um sich, um das »uns« und »wir«. Ein in diesem Sinne sorgloser Mensch ist ein liebloser Mensch.

Das ist die rechte Sorge, die bei Matthäus mit dem Ausrichten auf Gott und sein kommendes Reich verbunden wird. Neben dieser Sorge, die jede Beziehung kennzeichnet, gibt es nun aber auch die falsche Sorge. In der Bergpredigt ist damit das Sich-Beziehen auf rein weltliche Güter gemeint, auf Reichtum, auf Kleidung, auf Essen. Ich glaube, es gibt daneben auch eine falsche Sorge, die aus der rechten Sorge heraus entstehen kann. Wenn sie zum ständigen Gedankenkreislauf wird, wenn sie mich selbst und den anderen einschnürt wie in ein Wattepaket, wenn man das Leben nur mit existenziellem Vollkaskoversicherungsschutz leben möchte, wenn also das liebende Sorgen zum panischen Beobachten und Bewachen wird. Das ist eine falsche rechte Sorge. Der Matthäus-Satz weist nun einen Ausweg aus solch einer Sorge. Er schenkt uns eine Hoffnung auf ein Morgen, das anders ist. Hoffnung und Vertrauen und sogar Vorfreude darauf, dass »der morgige Tag für sich selbst sorgt«. Dass wir loslassen können in der festen Zuversicht, dass da etwas, dass da jemand sein wird, der mein Morgen gestaltet – selbst wenn ich jetzt noch kein Morgen und kein Licht, sondern nur Nacht und Dunkelheit sehe. Das hat nichts mit Banalisierung von Leid, Trauer, Verzweiflung und anderen drängenden Erfahrungen zu tun. Es kann ein kurzes Aufflackern dieses »Morgen« sein, das für sich selbst sorgt. Doch das ist dann der Tag – oder auch nur ein winziger Moment –, an dem die falsche Sorge aufhört, in mir zu pochen und zu klopfen, an dem sie ihren eisernen Schraubstock um meinen Kopf und mein Herz lockert und mich für die Stunden Kraft schöpfen lässt, in denen sie mich wieder fester packt. In diesen wenigen Worten steckt ein Gottvertrauen, das den christlichen Glauben auszeichnet. Eine Leichtigkeit, die irgendwann nach dunklen Stunden beschwingt. Ich selbst bin neugierig auf dieses Morgen, freue mich auf den Tag, der da anbricht und für sich selbst sorgt. Und ich weiß, dass ich selbst in Augenblicken voller Einsamkeit jemanden um mich weiß, der dieses Morgen und diesen Tag anbrechen lassen wird. Der sich sorgt – um mich. Die rechte Sorge Gottes sprengt jede Einsamkeit.

Der Pastor damals war voll im Griff der Sorge. Wie es in Psalm 102,8 heißt: »Ich kann nicht schlafen; ich bin verlassen und fühle mich wie ein einsamer Vogel auf dem Dach.« Wir sprachen noch einige Minuten weiter, wobei ich in erster Linie zuhörte, aber auch versuchte, mit ­meinen Worten ein wenig von dieser wunderbaren Botschaft der Bergpredigt anklingen zu lassen. Nicht, indem ich sie direkt zitiert oder gar ausgelegt hätte, das nicht. Ich wollte nur das Vertrauen, das für mich dahintersteckt und das mich mein Leben lang getragen hat, durchscheinen und spüren lassen. Ich habe...

Erscheint lt. Verlag 3.2.2020
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie Christentum
Schlagworte Christliche Lebenshilfe • Einsamkeit • Mut • Ohnmacht • Trauer • Verzweiflung • Zuversicht
ISBN-10 3-451-81545-1 / 3451815451
ISBN-13 978-3-451-81545-4 / 9783451815454
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