Anna Brümmers Weg zum Scharfrichter: Historischer Roman -  Dietrich Alsdorf

Anna Brümmers Weg zum Scharfrichter: Historischer Roman (eBook)

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2018 | 1. Auflage
264 Seiten
Atelier im Bauernhaus (Verlag)
978-3-96045-095-5 (ISBN)
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Vor 160 Jahren wurde der Fall der Kindesmörderin Anna Brümmer bei der Stader Justiz abgeschlossen: Tod durch den Scharfrichter. Angeregt durch den ausführlichen seelsorgerischen Bericht von Pastor Lunecke im Stader Sonntagsblatt, beschäftigte sich Dietrich Alsdorf mit dem Fall, versuchte in Archiven, mehr über das Umfeld der Kehdinger Magd zu erfahren und fragte sich: Waren alle blind?
Mit diesem Roman geht er in Revision und entfaltet ein ans Herz gehendes literarisches Dokument an Menschlichkeit und Mutterliebe in Zeiten sozialer und gesundheitlicher Miseren, die bei Knechten und Mägden auf dem Lande herrschten. Ideen- und temporeich führt er durch die 22 Kapitel dieses historischen Romans, der mit seinen Spukfiguren und Traumerscheinungen shakespearehafte Züge trägt.



Dietrich Alsdorf, Jahrgang 1953, arbeitet in der archäologischen Denkmalpflege des Landkreises Stade und schreibt seit Jahren Beiträge und Sachbücher zu regionalgeschichtlichen Themen. Ende 2007 legte er mit 'Anna aus Blumenthal' seinen ersten viel beachteten historischen Kriminalroman vor und wurde dafür mit dem 'Golden Hecht', dem Kulturpreis der Arbeitsgemeinschaft Osteland, ausgezeichnet. Der Autor ist verheiratet und lebt in Stade.

Zweites Kapitel


 

September 1852 – 30 Jahre später

 

Die altehrwürdige Glocke im Holzturm von St. Marien zu Balje am Elbdeich rief die Gläubigen zum sonntäglichen Kirchgang. Viele bäuerlichen Familien des Kirchspiels nebst Gesinde waren mit Gespannen oder zu Fuß angereist.Am Sonntag ruhten alle Verrichtungen auf den Höfen und lediglich ein Knecht oder eine Magd hütete ein.

In den Gasthäusern in Kirchennähe standen die Männer Schulter an Schulter, rauchten und tranken. Gern ließen sie an solchen Tagen die Frauen allein in die Kirche gehen, während sie die Gesellschaft ihresgleichen bevorzugten. Gesprächsthemen gab es genug: der immerwährende Kampf ge­gen das Wetter und das Wasser oder die Kornernte, die gerade abgeschlossen war.

Unter den Mägden, die an jenem letzten Septembertag ins Gottes­haus drängten, war auch die 22-jährige Anna Mar­ga­retha Dorothea Brümmer, gebürtig in der kleinen Ka­te am Baljer Außendeich, einer kleinen, hinter dem Deich geduckten Siedlung zwischen Ostemündung und Elbe. Hier wohnten die Landarbeiter. Auch Annas Vater, Jacob Diederich Brümmer, gehörte zu ihnen. Dessen Vater Barthold stammte aus Dobrock im Kirchspiel Cadenberge und hatte in Balje Mette Margarethe Witthohn geheiratet. So kam er von der hohen Geest ins Kehdinger Land. Das Paar bewohnte die mit unsäglichen Mü­hen selbsterbaute Kate am Außendeich. Als Jacobs Vater 1820 gestorben war, konnte der Sohn endlich heiraten. Am 6. Mai 1821 reichte er einer Anna Gansberg in der Baljer Kirche die Hand zum Ehebund.

Zunächst, 1821, kam die erste Tochter Rebecca zur Welt. Dann wurde Metta geboren. Catherina war drei Jahre alt, als Anna zur Welt kam. Die Jüngste war Lucia.

Die Familie teilte den Schmerz um das tragische Geschick der kleinen Metta, die 1824 auf die Welt gekommen war. Der Herr, der alle Geschicke lenkt, nahm das Kind im Februar 1825, als eine große Sturmflut das Land verheerte, einfach fort. Es wurde nach dem Ablaufen der Wassermassen nicht mehr gefunden und die Eltern bangten und hofften eine lange Zeit, ob es irgendwo lebend angeschwemmt worden sei und von fremden Menschen aufgezogen. Gewissheit sollte es nie geben.

Das Leben der kleinen Anna verlief in den vor­be­­stimmten Bah­nen wie das der anderen Kinder in der Nachbarschaft auch – ein Leben auf engstem Raum, zwischen nass­kal­ten Wänden und im stickigen Qualm der offenen Herdstelle. Le­bens­­bedingungen, in denen Geburt und Tod als etwas Selbstverständliches galten. Der Tod kam meist im Frühjahr und holte die schwächsten Kinder aus den Familien, jene, die schon Wochen oder gar Monate, dem unerträglichen Dunst ausgesetzt, zu husten begannen. Dem quälenden Husten folgte häufig das Fieber und dem Fieber folgte der Tod.

Den verbliebenen vier Brümmer-Geschwistern schien Ge­vatter Tod nichts anzuhaben. Es sah so aus, als wäre die Familie mit dem rätselhaften Verschwinden der kleinen Metta schon ge­nug gestraft worden und als würde der Sensenmann ihre Kate verschonen und eher bei den Nachbarn anklopfen. Die Mutter versuchte alles in ihrer Hand Liegende, um ihre Kinder widerstandsfähig gegenüber dem Brustleiden zu machen. So oft es ging, schickte sie die Mädchen nach draußen, um in der frischen Luft herumzutollen.

Anna, Rebecca, Catharina und die kleine Lucia ließen sich das nicht zweimal sagen, liefen über den Deich und machten ihre wagemutigen Expeditionen ins schier endlose Vorland, den Hullen. Vom Deich aus streiften sie die langen Gräben entlang, deren Wasser irgendwann in geschlungenen Prielen und dann in die Elbe mündeten. Dort saßen sie in der warmen Jahreszeit im hohen Schilf, beobachteten die stolzen Segler inmitten des Stroms oder durchsuchten das Schlickufer nach Muscheln und Strandgut.

Wenn Anna träumend im Gras lag und in den blauen Him­mel schaute, dann hoffte sie, dass die kleine Metta irgend­wann zurückkehren würde – als schöne und reiche Frau. Dass sie nicht einfach ertrunken war in der schlimmen Sturmflut damals, sondern dass sie, in einem Korb im Wasser treibend, so wie einst Moses auch, von einem fremden See­mann gefunden und aufgezogen worden wäre. Gottes Wege waren unergründlich, hatte der Schulmeister sie gelehrt. Ihm vertraute sie. Darin unterschied sie sich von ihrer eher nüchternen Schwester Rebecca, die auf die fantastischen Er­zäh­lungen des Dorschullehrers nichts gab.

Anna spann den Faden weiter, wenn sie zu viert in der engen Butze lagen und draußen die Winterstürme über die Deichkrone fegten. Und wenn sie nach draußen lauschte, wo der Lärm des Windes in den zerzausten Weiden die seltsamsten Geräusche erzeugte und der Regen gegen die kleinen Fenster prasselte – waren da nicht Schritte auf dem Deichweg, auf dem Hof? Was wäre, überlegte Anna, wenn gerade in solch einer Nacht Metta nach Hause käme, um endlich jenen verwaisten Platz im Herzen der Mutter auszufüllen?

Da mochte Rebecca noch so spotten ob der Torheit ihrer kleinen Schwester Anna, die oft genug die Schiebetür der Butze aufzog, um mit einer flackernden Kerze und barfuß im Haus herum zu tappen, um nach der Vermissten zu schauen.

Innig verbunden fühlte sich Anna mit der drei Jahre jün­geren Schwester Catharina – ein wunderschönes Mädchen mit leicht brauner Haut und geheimnisvollen dunklen Augen.

Auch sie sah Dinge, die anderen verborgen blieben. Sie teilte Annas Hoffnung auf die Rückkehr von Metta. Manchmal er­schien ihr die Schwester im Traum, erzählte sie. Dass sie zu ihnen in die Butze kam und sich an den Rand des Bettes setzte. Mit zu Zöpfen geflochtenen Haaren und in einem kostbaren schwarzen Kleid aus edelster Seide.

„Ich verspreche dir, Anna“, erzählte Catharina einmal in den Wiesen, „wenn ich einst heirate, dann in solch einem Kleid. Das kannst du mir glauben – und wenn ich bis dahin ganz viel sparen muss.“

„Dann wirst du nie heiraten, weil du das Geld niemals zusammenbekommen wirst“, erwiderten Anna, während Re­bec­ca und Lucia nur Spott für die törichte Schwester übrig hatten.

„Ihr werdet es erleben!“, rief Catharina und lief beleidigt davon.

 

Das behütete Leben in ihrer kleinen überschaubaren Welt hin­term Deich fand ein jähes Ende, als die geliebte Mutter am 12. Januar 1838 starb. Schon lange vor Weihnachten hatte sie sich mit dem schlimmen Husten gequält, dem hohes Fieber folgte, das niemand bändigen konnte.

Mit Picken und Hacken schlugen die Nachbarn den drei Fuß tief gefrorenen Kleiboden des Baljer Kirchhofes auf, um den Sarg mit der Mutter viel zu flach beizusetzen, weil er sonst in das im Winter hoch stehende stinkende Wasser des Totenackers hätte gesenkt werden müssen.

Ein eisiger Schneeschauer fegte von der Elbe her über den Deich, als die Schwestern, sich an den Händen haltend, weinend in ihren schwarzen Kleidchen mit den weißen Schür­zen vor dem offenen Grab standen, während der Prediger die Verstorbene einsegnete. Anna wusste nicht, wohin mit ihrem Schmerz. Als sie gebeugt im Schneegestöber entlang des Deiches nach Hause stapften, der Vater voran, war sie voller Angst über das, was noch auf sie zukommen könne.

Nach nur einem halben Jahr holte der Vater eine Stiefmutter ins Haus. Das Leben musste weitergehen, hatte er gemeint, denn es galt, die unmündigen Kinder zu versorgen.

Adelheit Mahler hieß die Neue. Sie war eine Witwe vom Außen­deich. Wie selbstverständlich nahm sie ihren Platz als Mutter ein. Das war so üblich in den Dörfern und niemand machte Aufhebens darüber. Die Schwestern schlossen sich nun noch enger zusammen und gaben sich gegenseitig Halt, wenn die neue Stiefmutter ungerecht zu ihnen war, sie tadelte oder gar schlug. Zum Glück hatte sie selbst keine eigenen Kinder mit ins Haus gebracht.

Als erste Schwester verließ Rebecca das Haus, um sich als Lüttmagd auf einem Hof der Umgebung zu verdingen. In der Regel machten die Eltern das mit dem neuen Dienstherrn klar und besiegelten es mit Handschlag und Branntwein.

Es war das unabdingbare Los der ländlichen Jugend jener Zeit. Nach der Konfirmation verließen die Jungen und Mäd­chen, sofern sie nicht auf dem elterlichen Hof arbeiteten, ihre Fa­milien und verdingten sich als Knechte oder Mägde in der Umgebung. Zunächst war man Lüttknecht oder -magd, stieg über die Jahre auf und wurde Großknecht oder Großmagd. Erst die Heirat beendete für die meisten Mägde den Gesindedienst. Sie war der Beginn der Volljährigkeit.

Doch dafür war eine Aussteuer vonnöten und so sparte jedes Mädchen von Anfang an. Diese Zeit konnte lang sein, wenn sich kein passender Bursche einfand oder wenn keine Kate für das gemeinsame Leben vorhanden war. Manche junge Knechte brachen damals nach Übersee auf und ließen Kehdingen mit schwerem Herzen zurück. Rebecca sollte erst 1850, mit fast 30 Jahren, vor den Baljer Traualtar treten.

Nach Rebecca ging Catharina.

„Ich muss das Geld für mein Kleid ver­dienen“, sagte sie zum Abschied wie im Scherz.

Am Tisch und in der Butze hatten die...

Erscheint lt. Verlag 25.7.2018
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
ISBN-10 3-96045-095-8 / 3960450958
ISBN-13 978-3-96045-095-5 / 9783960450955
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