Die stumme Patientin (eBook)
384 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45396-4 (ISBN)
Alex Michaelides, Jahrgang 1977, ist in Zypern geboren und aufgewachsen. Er studierte Englische Literatur am Trinity College in Cambridge. Am American Film Institute in Los Angeles machte er seinen Abschluss als Drehbuchautor. Mit seinem Debut 'Die stumme Patientin', das in einundfünfzig Länder verkauft wurde, stand Alex Michaelides über ein Jahr lang auf der New York Times Bestseller-Liste. Die Gesamtauflage seiner Thriller beläuft sich weltweit auf mehr als 6,5 Millionen. Auch in Deutschland hat 'Die stumme Patientin' sowie der Nachfolgeroman 'Die verschwundenen Studentinnen' eine große Leserschaft begeistert. Beide Thriller werden für Film und Fernsehen verfilmt. Alex Michaelides lebt in London. Weitere Informationen unter: alexmichaelides.com
Alex Michaelides, Jahrgang 1977, ist in Zypern geboren und aufgewachsen. Er studierte Englische Literatur am Trinity College in Cambridge. Am American Film Institute in Los Angeles machte er seinen Abschluss als Drehbuchautor. Mit seinem Debut "Die stumme Patientin", das in einundfünfzig Länder verkauft wurde, stand Alex Michaelides über ein Jahr lang auf der New York Times Bestseller-Liste. Die Gesamtauflage seiner Thriller beläuft sich weltweit auf mehr als 6,5 Millionen. Auch in Deutschland hat "Die stumme Patientin" sowie der Nachfolgeroman "Die verschwundenen Studentinnen" eine große Leserschaft begeistert. Beide Thriller werden für Film und Fernsehen verfilmt. Alex Michaelides lebt in London. Weitere Informationen unter: alexmichaelides.com
Mein Name ist Theo Faber. Ich bin zweiundvierzig Jahre alt. Und ich wurde Psychotherapeut, weil ich ein ernstes Problem hatte. Das ist die Wahrheit – obwohl ich das natürlich nicht beim Bewerbungsgespräch antwortete, als mir die entsprechende Frage gestellt wurde.
»Was hat Sie dazu bewogen, Psychotherapeut zu werden?«, erkundigte sich Indira Sharma und sah mich über den Rand ihrer eulenhaften Brille hinweg durchdringend an.
Indira arbeitete als leitende Psychotherapeutin im Grove. Sie war Ende fünfzig, hatte ein rundes, attraktives Gesicht und lange, pechschwarze Haare, durchzogen von grauen Strähnen. Sie schenkte mir ein kleines Lächeln, als wollte sie mir versichern, dass es sich um eine leichte Frage handelte, eine Aufwärmübung, die Vorstufe des heikleren Bombardements, das darauf folgen sollte.
Ich zögerte. Spürte, wie mich die anderen Mitglieder des Ausschusses ansahen. Ich hielt bewusst Augenkontakt, als ich eine einstudierte Antwort von mir gab – ein Wohlwollen erregendes Märchen, dass ich als Teenager Teilzeit in einem Pflegeheim gearbeitet hatte und wie das mein Interesse für Psychologie geweckt habe, was wiederum nach beendetem Studium zu einem anerkannten Abschluss der Psychotherapie führte und so weiter.
»Ich wollte immer schon Menschen helfen«, endete ich achselzuckend. »Mehr steckt nicht dahinter.«
Was Unsinn war.
Ich meine, natürlich wollte ich Menschen helfen. Aber das war ein zweitrangiges Ziel, vor allem zu der Zeit, in der ich mit meiner Ausbildung begann. Die wahre Motivation war rein egoistisch. Ich war darauf aus, mir selbst zu helfen. Ich glaube, das gilt für die meisten Menschen, die sich mit der geistigen Gesundheit anderer befassen. Wir fühlen uns zu diesem speziellen Beruf hingezogen, weil wir beschädigt sind – wir studieren Psychologie, um uns selbst zu heilen. Ob wir bereit sind, das zuzugeben, ist eine andere Frage.
Bei uns Menschen liegen die ersten Lebensjahre in einem Land vor der Erinnerung. Wir denken gern, dass wir mit zunehmender Bildung unseres Charakters aus diesem primordialen Nebel hervorgegangen sind wie Aphrodite in ihrer Perfektion aus dem Schaum des Meeres. Doch dank der wachsenden Forschung im Bereich der Gehirnentwicklung wissen wir, dass das nicht der Fall ist. Wir werden mit einem halb ausgebildeten Gehirn geboren – einem Gehirn, das eher an einen matschigen Lehmklumpen erinnert als an eine olympische Göttin. Wie es der Psychoanalytiker Donald Winnicott formulierte: »So etwas wie ein Baby gibt es nicht.« Die Entwicklung unserer Persönlichkeiten findet nicht isoliert statt, sondern ausschließlich in der Beziehung miteinander. Wir sind geformt und vervollständigt durch unbemerkte, nicht erinnerte Kräfte: unsere Eltern.
Das ist beängstigend, und zwar aus offensichtlichen Gründen: Wer weiß schon, welche Demütigungen wir erlitten haben, welche Qualen und Misshandlungen in diesem Land vor der Erinnerung? Unser Charakter wurde geformt, ohne dass wir uns dessen überhaupt bewusst waren. Ich zum Beispiel wuchs auf mit einem permanenten Gefühl der Unruhe, Sorge, Angst. Diese Angst schien mich zu vereinnahmen und unabhängig von mir zu existieren. Allerdings vermute ich, dass sie in meiner Beziehung zu meinem Vater begründet war, in dessen Nähe ich mich nie sicher fühlte.
Seine unvorhersehbaren und unbegründeten Wutausbrüche verwandelten jede Situation, ganz gleich, wie harmlos, in ein potenzielles Minenfeld. Eine unschuldige Bemerkung oder eine abweichende Meinung konnten seinen Zorn auslösen und eine Reihe von Explosionen freisetzen, vor denen es kein Entrinnen gab. Das Haus bebte, wenn er schrie und mich die Treppe hinauf in mein Zimmer jagte. Ich tauchte unter das Bett ab und drückte mich gegen die Wand, atmete die fedrige Luft ein, flehte die Steine an, mich zu verschlucken. Aber seine Hand bekam mich stets zu fassen und zerrte mich hervor, konfrontierte mich mit meinem Schicksal. Der Gürtel wurde aus den Schlaufen gezogen und sauste pfeifend durch die Luft, bevor er traf; jeder Schlag, einer nach dem anderen, warf mich zur Seite, brannte sich in mein Fleisch. Dann war das Auspeitschen vorbei, genauso abrupt, wie es begonnen hatte. Ich wurde zu Boden gestoßen, wo ich liegen blieb, ein verkrumpelter Haufen Elend. Eine Lumpenpuppe, weggeworfen von einem zornigen Kleinkind.
Ich wusste nie, was ich getan hatte, um diese Wut auszulösen, war mir nie sicher, oder ob ich sie verdient hatte oder nicht. Ich fragte meine Mutter, warum mein Vater stets so zornig auf mich war – und sie zuckte jedes Mal verzweifelt die Achseln und erwiderte: »Woher soll ich das wissen? Dein Vater ist komplett verrückt.«
Wenn sie sagte, er sei verrückt, scherzte sie nicht. Würde er heutzutage einem Psychiater vorgestellt, so gehe ich davon aus, dass dieser bei meinem Vater eine Persönlichkeitsstörung diagnostizieren würde – eine Erkrankung, die zu seinen Lebzeiten nicht behandelt wurde. Das Resultat war, dass meine Kindheit und Jugend von Hysterie und körperlicher Gewalt bestimmt wurden; von Drohungen, Tränen und zerbrochenem Glas.
Es gab auch Momente des Glücks, natürlich; für gewöhnlich wenn mein Vater nicht zu Hause war. Ich erinnere mich an einen Winter, in dem er sich auf einer einmonatigen Geschäftsreise in Amerika befand. Für dreißig Tage konnten meine Mutter und ich in Haus und Garten schalten und walten, wie wir wollten – ohne seinen wachsamen Blick. In jenem Dezember schneite es, und unser Garten wurde unter einem dicken, harschen weißen Teppich begraben. Mum und ich bauten einen Schneemann. Unbewusst oder nicht, stand er stellvertretend für unseren abwesenden Herrn: Ich taufte ihn Dad, und durch seinen dicken Bauch, die schwarzen Steine für die Augen sowie zwei schräg abwärts zeigende kleine Zweige für die strengen Augenbrauen bestand tatsächlich eine frappierende Ähnlichkeit zwischen den beiden. Wir komplettierten die Illusion, indem wir ihm die Handschuhe meines Vaters gaben, seinen Hut und Regenschirm. Anschließend bombardierten wir ihn aufs Heftigste mit Schneebällen, kichernd wie ungezogene Kinder.
In jener Nacht gab es einen schweren Schneesturm. Meine Mutter ging zu Bett, und ich tat so, als würde ich schlafen, doch dann stahl ich mich hinaus in den Garten und stand dort inmitten der fallenden Schneeflocken. Ich streckte meine Hände aus, fing die Schneeflocken, sah zu, wie sie auf meinen Fingerspitzen verschwanden. Es fühlte sich beglückend und frustrierend zugleich an und brachte eine Wahrheit zum Ausdruck, die ich nicht formulieren konnte – mein Vokabular war noch zu begrenzt, meine Worte ein zu lockeres Netz, um sie damit einzufangen. Irgendwie ist nach sich auflösenden Schneeflocken zu greifen genauso, wie nach Glück zu greifen – ein Akt der Inbesitznahme, der sofort zu nichts zerfällt. Es erinnerte mich daran, dass es eine Welt außerhalb dieses Hauses und Gartens gab, eine Welt von ungeheurer Ausdehnung und unvorstellbarer Schönheit, eine Welt, die mir fürs Erste verwehrt blieb.
Die Erinnerung kehrte über die Jahre immer wieder zurück. Es ist, als habe das Elend, das sie umgab, die Erinnerung an den kurzen Augenblick der Freiheit nur noch leuchtender gemacht; ein winziges Licht, umgeben von Dunkelheit.
Meine einzige Hoffnung zu überleben, so wurde mir klar, bestand im Rückzug – und zwar sowohl im körperlichen als auch im geistigen. Ich musste fort, weit fort. Nur dann wäre ich in Sicherheit. Und endlich, mit achtzehn, hatte ich die Noten, die ich brauchte, um mir einen Platz an einer Universität zu sichern. Ich verließ das Doppelhaushälfte-Gefängnis in Surrey und dachte, ich sei frei.
Ich täuschte mich.
Damals wusste ich das nicht, aber es war zu spät – ich hatte meinen Vater verinnerlicht, ihn introjiziert, ihn tief in meinem Unbewussten begraben. Ganz gleich, wie weit ich weglaufen würde, ich trug ihn in mir, wohin auch immer ich ging. Ich wurde verfolgt von einem infernalischen, erbarmungslosen Chor von Furien, alle mit seiner Stimme ausgestattet. Sie kreischten, ich sei wertlos, eine Schande, ein Versager.
Während meines ersten Semesters an der Universität, in jenem ersten kalten Winter, wurden die Stimmen so schrecklich, so paralysierend, dass sie mein ganzes Leben kontrollierten. Gelähmt vor Angst, war ich nicht in der Lage, auszugehen, mich unter die Leute zu mischen oder Freundschaften zu schließen. Es war, als wäre ich nie von zu Hause fortgegangen. Ich war geschlagen, gefangen, hoffnungslos. In die Ecke getrieben. Es gab keinen Ausweg.
Mir bot sich nur eine einzige Lösung.
Ich ging von Apotheke zu Apotheke und kaufte jede Menge Paracetamol, jeweils nur ein paar Schachteln, um keinen Verdacht zu erregen – aber ich hätte mir ohnehin keine Sorgen machen müssen. Niemand schenkte mir auch nur ansatzweise Aufmerksamkeit; ich war definitiv so unsichtbar, wie ich mich fühlte.
Es war kalt in meinem Zimmer, und meine Finger waren taub und unbeholfen, als ich die Packungen aufriss. Es kostete mich immense Mühe, die vielen Tabletten zu schlucken. Aber ich zwang sie hinunter, alle, Pille um bittere Pille. Anschließend kroch ich auf mein unbequemes, schmales Bett, schloss die Augen und wartete auf den Tod.
Aber der Tod kam nicht.
Stattdessen zerriss ein ätzender, qualvoller Schmerz meine Eingeweide. Ich krümmte mich zusammen und übergab mich, besudelte mich mit Galle und halb verdauten Tabletten. Da lag ich nun in der Dunkelheit, und mein Magen brannte wie Feuer. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Und dann, langsam, im Morgengrauen, dämmerte es mir.
Ich wollte nicht sterben. Noch nicht. Ich hatte doch noch gar nicht gelebt.
Und das verlieh mir so etwas wie Hoffnung, wenngleich unscharf...
Erscheint lt. Verlag | 26.4.2019 |
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Übersetzer | Kristina Lake-Zapp |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Alex • Alicia Berenson • alkestis • Ehedrama • forensischer Psychiater • Gone Girl • griechische Mythologie • Malerin • Michaelides • Mord • Mörderin • Mordfall • Opfer • Patient • Psychiater • Psychiatrie • Psychiatrische Anstalt • Psychologischer Thriller • Psychothriller • Psychothriller England • Sag kein Wort • SilEnt • spannender Thriller • Stumm • Theo Faber • Therapeut • Thriller • Thriller Bestseller • Thriller England • Thriller Großbritannien • Thriller Neuerscheinungen 2019 • Thriller und Psychothriller • Tödliche Wahl • Toter Ehemann • Unzuverlässiger Erzähler • Verhängnis |
ISBN-10 | 3-426-45396-7 / 3426453967 |
ISBN-13 | 978-3-426-45396-4 / 9783426453964 |
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