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Das Mädchen aus der Severinstraße (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
480 Seiten
Blanvalet (Verlag)
978-3-641-23182-8 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
4,99 inkl. MwSt
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Ein Roman über eine große Liebe und ein lebendiges Stück deutscher Zeitgeschichte
Köln, 1937. Die siebzehnjährige Maria Reimer bewirbt sich heimlich als Fotomodell. Sie ahnt nicht, welche Pläne der Chef des Foto-Ateliers mit ihr hat: Sie soll das neue Gesicht der Nazi-Propaganda werden. Der jüdische Fotograf Noah will Maria noch warnen, aber sie missversteht sein Verhalten - und verliebt sich in ihn.

Jahrzehnte später findet Marias Enkelin Sabine ein Vermögen im alten Haus der Familie. Es ist Geld und Gold, das der Großvater versteckt hat. Aber woher stammt der Reichtum? Was ist Ende der 1930er Jahre wirklich geschehen, als Maria unter dem Künstlernamen Mary Mer vor der Kamera stand?

Annette Wieners ist Schriftstellerin und Journalistin. Sie wurde in Paderborn geboren. Nach Stationen in Münster, München und Hannover lebt sie seit vielen Jahren in Köln.

1


Sie war nicht zum ersten Mal heimlich unterwegs, den Mantelkragen hochgeschlagen, den Hut tief über die hellen Haare gezogen. Aber heute saß sie in der Reichsbahn und verließ sogar Köln. Gleich nach dem Frühstück, kaum dass der Vater die Armbanduhr aufgezogen und die Stufen zum Kontor betreten hatte, war sie zum Bahnhof gelaufen. Nicht ohne nachzudenken: Sie war mit den polierten Schuhen über jede Pfütze gesprungen und hatte das Billett fest in der Hand gehalten. Aber erst als sie im Abteil saß und der Schaffner sie ansprach, konnte sie hochsehen. Sie reichte ihm den Fahrschein, er war feucht und weich.

Bestimmt würde der Vater denken, sie sei spazieren gegangen, aber später würde er sich Sorgen machen. Maria Reimer, schlank und groß wie Sankt Petrus Canisius, zog die Aufmerksamkeit auf sich, wie er fand, und Aufmerksamkeit war heikel, war unwägbar und gefährlich, vor allem, seitdem die Wehrmacht in Köln eingerückt war.

»Rede nicht mit ihnen, auch wenn sie dich dazu auffordern«, sagte der Vater neuerdings, und wenn sie dann fragte: »Warum denn nicht? Wir haben nichts zu verbergen«, erwiderte er, der langweilige, der wohl Deutscheste unter den Deutschen: »Trotzdem.«

Als ob sie so dumm wäre. Und als ob sie überhaupt auf die Idee käme, mit Soldaten zu reden, die sich von der gesamten Stadt feiern ließen, ohne dass klar wurde, wofür.

Nein. Sie, Maria, siebzehn Jahre alt, wusste selbst, was gut für sie war.

Abends zum Beispiel, wenn der Vater zu seinem Debattierclub aufbrach, blieb sie nicht auf der Chaiselongue liegen, sondern schlich aus der Wohnung, die Gassen hinunter zum Rhein. Solange das Tageslicht ausreichte, konnte sie den Frauen, die am Ufer flanierten, ins Gesicht sehen. Das Rouge wurde seit Neuestem bis dicht unter die Augen gezogen, und die Brauen zupfte man sich vollständig aus, um sie mit einem Stift in einer feinen Linie nachzuzeichnen. Hohe, aufgemalte Bögen, darauf musste man erst einmal kommen!

Außerdem hatte sie viele Stunden damit zugebracht, das richtige Gehen zu lernen. Sie hatte an der Ecke gestanden und beobachtet. Die eine Frau wirkte elegant, wenn sie den Steg der Rheindampfer betrat, die andere schwankte wie ein Gaul. Wie kam das? Wie konnte Maria es selbst erreichen, besser zu gehen? Sie hatte einiges ausprobiert, und der Vater wusste gar nicht, wie bedeutend das war. Anstrengend auch und ernsthaft, und auf jeden Fall wichtig für die Zukunft, mit der Maria ihn noch überraschen würde, egal ob er versuchte, sie abzuschotten.

Im Grunde tat der Vater genau das, was er der Schuldirektorin vorgeworfen hatte. Er nutzte seine Macht aus, wollte über Maria bestimmen und am liebsten noch ihre Gedanken dirigieren. Dabei hatte er ihr persönlich beigebracht, sich solchen Versuchen zu widersetzen.

Die Schuldirektorin hatte neue Lehrpläne bekommen, von ganz oben, und dass die Mädchen plötzlich kochen und bügeln sollten, war schlicht idiotisch gewesen. Maria wuchs ohne Mutter auf, bei ihr zu Hause war die Haushaltsführung ein Beruf, den die kluge, freundliche Dorothea ausübte, weil sie nämlich Geld dafür bekam. Zum Glück hatte sich der Vater in diesem Punkt gegen die Schule und auf Marias Seite gestellt: »Du musst den Unterricht nicht länger besuchen als nötig.« Aber seither legte er die Hände in den Schoß. Er hatte keine Pläne mehr für Maria und erlaubte ihr auch nicht, selbst etwas zu planen. Seit Monaten, ja, seit dem Ende der Schulzeit, fand der Vater es ausreichend, wenn sie unbeschadet durch den Tag kam. Als ob das Nichtstun auf Dauer nicht ebenfalls Schaden anrichten könnte!

Der Eisenbahnwaggon ratterte über die Schienen, die Sitze vibrierten, die Türen klapperten erbärmlich. Der Herbst zog durch die Ritzen, das Fenster war nass. In Schleiern wehte Nieselregen über die Felder nördlich von Köln. Hecken und Bäume schwammen vorbei. Für einen Moment schien ein Bussard die Reichsbahn verfolgen zu wollen, er segelte mit, dann stürzte er herab.

Maria schob den Hut nach hinten und überprüfte den Scheitel. Er war noch glatt. Erst unterhalb der Ohren setzten die Wellen ein, wie gewünscht, und sie fielen ihr fast bis auf die Schultern.

Hoffentlich war es richtig gewesen, den halb langen Pageboy zu wählen. Bisher war die Frisur noch nicht allzu weit verbreitet, aber sie hatte darüber nachgedacht, welche Ansprüche das Atelier wohl stellen würde, gerade an eine junge Bewerberin. Man würde doch wahrscheinlich einen Hang zum Fortschritt verlangen? Eine Geste nach Übersee, auf die Leinwand vielleicht, warum nicht hin zu Ginger Rogers?

Andererseits würde es Geschmacksgrenzen geben, und vielleicht würde Maria unterstellt werden, es mit dem Pageboy zu übertreiben. Und dann würde man sie auslachen, anstatt ihre Fähigkeiten zu begutachten.

Vorsichtig stülpte sie den Hut wieder auf den Kopf. Mit einem Mal beklommen.

Schräg gegenüber saß ein dicker Mann mit Glatze. Er war eingeschlafen und drohte zur Seite zu kippen. Seine Frau knetete die hageren Finger und musterte die Mitreisenden aus dem Augenwinkel. Blasse Lippen, hochgezogene Schultern. Vielleicht war sie eine Jüdin? Ja, sie hatte wohl Angst, Maria kannte den Blick und hätte gern genickt oder gelächelt, um die Frau zu beruhigen, aber das stand ihr nicht zu.

Allerdings wollte Maria auch nicht falsch eingeschätzt werden. Es dachte doch hoffentlich niemand, dass sie auf dem Weg in die Große Reichsausstellung war? Schaffendes Volk? Sie würde zwar in Düsseldorf aussteigen, wie wohl die meisten, aber für die Leistungsschau hatte sie nichts übrig.

Die ängstliche Frau atmete durch den Mund. Ihr Kinn zitterte, vielleicht hatte sie Hunger, und Maria musste schon wieder an den Vater denken, der jeden Morgen ein Brot einpackte, angeblich für seine Frühstückspause, aber in Wahrheit war es für den kleinen Elias gedacht. Der Vater legte das Brot draußen im Hof auf die Fensterbank, damit der Junge es holen konnte, und Maria musste strikt so tun, als wüsste sie darüber nicht Bescheid.

Sie rutschte auf der Sitzbank ein winziges Stück nach vorn. Die Frau gegenüber hob sofort die Hände, als hätte sie sich erschrocken. Maria wurde rot. Wie verkehrt alles lief! Und dann war auch noch der Schaffner in der Nähe. Maria konnte sich der Frau nicht einmal erklären, dabei spielte für sie alles andere eine Rolle, nur nicht der rassische Gedanke!

Verlegen stand sie auf, wünschte »Eine angenehme Fahrt noch«, dann stellte sie sich in den Gang. Es war ohnehin besser zu stehen, damit das Kleid unter dem Mantel weniger knitterte.

Hinter dem Nieselregen lagen die Rheinwiesen mit den alten Weiden. Der Zug bog in eine Kurve, sie mussten auf der Höhe von Zons sein, jetzt war es nicht mehr weit. Leicht schwankend tastete Maria in der Handtasche nach dem Rouge und dem Nötigen für die Frisur. Sie wollte sich vor dem Termin noch einmal herrichten, aber am besten erst später, kurz bevor sie in der Weißen Villa, dem Fotoatelier, angekommen wäre.

Auch die Zeitungsanzeige, die sie neulich ausgeschnitten hatte, steckte in der Handtasche:

Sind Sie eine frische Frau mit Mut?

Haben Sie Interesse an deutscher Mode?

In winziger Schrift stand Atelier Bertrand unter den Zeilen. Sicher ein französischer Name, wie sollte es im Modefach anders sein, und allein ihn zu lesen ließ Marias Herz schneller schlagen: Das Atelier Bertrand fotografierte für Die Dame!

Sie straffte die Schultern, meinte dabei erneut, die Blicke der Frau hinter sich zu spüren, und zupfte am Hut. Vergeblich, natürlich, der blonde Pageboy ließ sich nicht gänzlich verstecken, aber – warum denn eigentlich auch? Warum schämte Maria sich, warum bedauerte sie die Umstände und machte sich dadurch mit allem gemein, anstatt sich einmal zu zeigen?

Kurz entschlossen nahm sie die Packung Salzletten, die sie als Verpflegung für den heutigen Tag eingesteckt hatte, und überreichte sie der Frau. »Für unterwegs!« Es durfte jeder sehen und hören.

Der dicke Mann wachte auf. Die Frau schüttelte entgeistert den Kopf, aber jetzt gab es keinen Weg zurück. Maria stand da, den Arm gestreckt wie aus Kruppstahl, und brachte unter den Blicken der Leute keine weitere Silbe hervor. Bis die Frau ihr endlich, ganz langsam, die Salzletten abnahm und »Danke« flüsterte. Maria erwiderte: »Bitte«, und floh in ein anderes Abteil.

War es denn ihre Schuld?

Sie nahm ein Taschentuch und rieb über die Schuhe, damit sie wieder so glänzten wie am Morgen. Dann bremste der Zug und fuhr in Düsseldorf ein. Endlich.

Der Bahnhof war voll, Maria musste drängeln, und kaum dass sie nach draußen trat, wehte ihr Regen ins Gesicht. Sie blieb im Schutz der Backsteinfassade stehen, um den Uhrenturm zu suchen. Düster und triefend ragte er auf, die Zeiger glänzten. Was? So spät war es schon?

Den Mantelkragen noch höher gestellt, sodass er an den Hut stieß, lief sie los, auf den Ballen, um die Absätze zu schonen. Der Wilhelmplatz stand unter Wasser, aber bis zur Königsallee war es zum Glück nicht weit, und immer wieder gab es auch trockene Passagen, wo Markisen oder Balkone über das Trottoir ragten.

Allerdings waren die Kreuzungen überfüllt, und Maria musste mehrmals warten. Längs und quer liefen die Menschen, manche sprachen Italienisch, Französisch oder Englisch, und auch viele Automobile, die vorbeiröhrten, schienen aus dem Ausland angereist zu sein. Schaffendes Volk. Überall hingen Plakate.

Kurz vor dem Schlageter Platz stritt sich ein Paar in einer unbekannten Sprache. Der Mann schimpfte und fuchtelte mit den Armen. Maria wich ihm aus, und ganz...

Erscheint lt. Verlag 23.9.2019
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Annette Hess • Aufarbeitung des Nationalsozialismus • Carmen Korn • Dörte Hansen • Drittes Reich • eBooks • Familiensaga • Frauenromane • Großeltern • Historische Romane • Holocaust • Judenverfolgung • Köln • Kölner Zeitgeschichte • Liebesromane • Modefotografie • Rheinland • Roman auf zwei Zeitebenen • Wahre Begebenheit • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-641-23182-5 / 3641231825
ISBN-13 978-3-641-23182-8 / 9783641231828
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