Weil niemand sie sah (eBook)

Roman

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
384 Seiten
Limes (Verlag)
978-3-641-23503-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Weil niemand sie sah -  Lisa Jewell
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Ein Mädchen - verschwunden. Die Wahrheit - tief vergraben. Doch manchmal bringt die Zeit selbst das Unvorstellbarste ans Licht ...
Ellie Mack war fünfzehn. Klug, gewitzt, der Liebling ihrer Mutter. Sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich. Bis sie von einem Tag auf den anderen spurlos verschwand. Zehn Jahre sind seitdem vergangen, doch insgeheim hat Laurel nie die Hoffnung aufgegeben, ihre Tochter irgendwann wiederzufinden. Ihr eigenes Glück ist nebensächlich geworden. Dann lernt sie einen Mann kennen, in den sie sich Hals über Kopf verliebt. Was ihr jedoch wirklich den Atem raubt, ist die Begegnung mit seiner neunjährigen Tochter - denn diese ist Ellie wie aus dem Gesicht geschnitten. All die unbeantworteten Fragen sind mit einem Mal wieder da: Was geschah damals mit Ellie? Und gibt es jemanden, der endlich Licht ins Dunkel bringen kann?

Lisa Jewell ist eine von Großbritanniens großen Bestsellerautorinnen. Sie wurde 1968 in London geboren und arbeitete viele Jahre in der Modebranche, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern in London.

Dreizehn


Laurel gibt dem jungen Mädchen, das ihr die Haare gewaschen hat, eine Zwei-Pfund-Münze. »Vielen Dank, Dora«, sagt sie mit einem freundlichen Lächeln.

Dann gibt sie der Friseurin eine Fünf-Pfund-Note und sagt: »Danke, Tania, die Frisur sieht toll aus, wirklich. Lieben Dank.«

Ein letztes Mal betrachtet sie ihr Aussehen in der Spiegelwand, dann verlässt sie den Salon. Ihre Haare sind schulterlang, blond, schwungvoll und glänzend. Ihre Haare sind das genaue Gegenteil von dem, was darunter liegt. Wenn jemand für achtzig Pfund ihrer Psyche eine schwungvolle, glänzende Politur verpassen würde, sie würde es machen. Und sie würde viel mehr Trinkgeld als eine Fünf-Pfund-Note geben.

Es ist ein windiger Herbstnachmittag. Ihre Haare fühlen sich so leicht wie Seide an, wenn sie um ihren Kopf wippen. Es ist schon spät, sie ist hungrig und beschließt, mit dem Essen nicht bis zu Hause zu warten. Sie geht in ein Café drei Häuser von ihrem Friseursalon entfernt und bestellt sich einen Käsetoast und einen entkoffeinierten Cappuccino. Sie isst schnell, der Käse zieht kaugummiartige Fäden, die reißen und an ihrem Kinn kleben bleiben. Sie hat gerade eine Papierserviette vor dem Mund, als ein Mann hereinkommt.

Er ist normal groß, normal gebaut, um die fünfzig. Seine Haare sind kurz geschnitten, graue Schläfen, Geheimratsecken, auf dem Kopf dunkler. Er trägt eine gute Jeans und ein hübsches Hemd, Schnürschuhe, eine Schildpattbrille: genau die Sachen, die auch Paul tragen würde. Und auch wenn ihre Gefühle für Paul kompliziert und schrecklich verwirrend sind, muss sie ihm doch zugestehen, dass er immer gut aussieht.

Überrascht stellt sie fest, dass sie den Mann in der Tür beinahe anhimmelt. Er hat etwas Besonderes an sich: eine leichte Arroganz und ein gewisses Funkeln in den Augen. Sie beobachtet ihn, während er sich an der Theke anstellt, und betrachtet ihn genauer: ein flacher, weicher Bauch, schöne Hände, ein leicht abstehendes Ohr. Er sieht nicht im herkömmlichen Sinne gut aus, er wirkt wie ein Mann, der sich mit seinen physischen Nachteilen abgefunden hat und ganz und gar auf seine Persönlichkeit konzentriert ist.

Er bestellt ein Stück Möhrenkuchen und einen schwarzen Kaffee – sein Akzent ist schwer einzuordnen, vielleicht amerikanisch, oder er ist ein Ausländer, der Englisch von Amerikanern gelernt hat –, dann trägt er Kaffee und Kuchen zu dem Tisch direkt neben ihrem. Laurel verschlägt es den Atem. Er scheint nicht bemerkt zu haben, dass sie ihn beobachtet hat, und setzt sich direkt neben sie, dabei sind fast alle Tische im Café frei. Panik überkommt sie, denn sie glaubt, unbewusst, unbeabsichtigt seine Aufmerksamkeit erregt zu haben. Sie will nicht von ihm beachtet werden. Sie will von niemandem beachtet werden.

Eine Zeit lang sitzen sie beide so da, Seite an Seite. Er schaut sie nicht an, nicht ein einziges Mal, aber Laurel spürt, dass er so etwas wie eine Absicht hegt. Der Mann spielt mit seinem Smartphone. Laurel isst ihr Käsesandwich in kleinen Bissen weiter. Nach einer Weile denkt Laurel, dass sie sich das alles nur eingebildet hat. Sie trinkt ihren Kaffee aus und macht sich bereit zum Gehen.

Dann: »Sie haben wunderschöne Haare.«

Sie dreht sich um, schockiert über seine Worte. »Oh.«

»Wirklich sehr hübsch.«

»Danke.« Unwillkürlich fährt sie sich mit der Hand durch die Haare. »Ich war gerade beim Friseur. Normalerweise sehen meine Haare nicht so gut aus.«

Er lächelt. »Haben Sie schon jemals diesen Möhrenkuchen gegessen?«

Sie schüttelt den Kopf.

»Er ist ziemlich lecker. Möchten Sie ihn probieren?«

Sie lacht nervös auf. »Nein, danke. Ich …«

»Ich habe sogar einen unbenutzten Löffel.« Er schiebt ihn über den Tisch zu ihr hin. »Kommen Sie, ich kann das unmöglich alles allein aufessen.«

Ein Lichtstrahl, hell wie ein Fackelschein, wandert durch das Café und bringt den Löffel zum Glitzern. Im Kuchen sind die Einschnitte der Gabelzinken zu sehen. Dieser Moment ist auf seltsame Weise intim, und Laurels Bauchgefühl sagt ihr, sie solle weggehen. Aber während sie die Funken auf dem Silberlöffel betrachtet, spürt sie etwas. So etwas wie Hoffnung.

Sie nimmt den Löffel und trennt damit ein kleines Stück Kuchen von dem Ende ab, das er nicht angerührt hat.

Sein Name ist Floyd. Floyd Dunn. Er reicht ihr die Hand und sagt: »Freut mich, Sie kennenzulernen, Laurel Mack.« Sein Händedruck ist fest und warm.

»Was ist das für ein Akzent?«, fragt sie und zieht ihren Stuhl näher zu seinem Tisch. Der Sonnenstrahl wärmt ihr den Rücken.

»Ach«, sagt er und tupft sich den Mund mit der Papierserviette ab. »Welcher Akzent ist das nicht, wäre sicherlich die bessere Frage. Ich bin der Sohn zweier sehr ehrgeiziger Amerikaner, die überall auf der Welt Jobs und Geld nachgerannt sind. Vier Jahre in den USA, zwei in Kanada. Dann wieder vier in den USA. Vier in Deutschland. Ein Jahr in Singapur. Dann drei in Großbritannien. Meine Eltern sind zurück in die Staaten gegangen, aber ich bin hiergeblieben.«

»Dann sind Sie schon sehr lange hier?«

»Ich bin seit« – er kneift die Augen zusammen, als er nachrechnet – »siebenunddreißig Jahren hier. Ich habe einen britischen Pass. Britische Kinder. Eine britische Exfrau. Ich höre The Archers. Ich bin vollkommen integriert.«

Er lächelt, und sie lacht.

Einen Moment lang hält sie inne. Sie sitzt mitten am Tag in einem Café, unterhält sich mit einem fremden Mann und lacht über seine Witze. Wie ist das passiert, wieso ausgerechnet an diesem Tag? Von all den Hunderten dunklen Tagen, die vorbeigegangen sind, seit Ellie verschwand? Liegt es daran, dass der Fall abgeschlossen ist? Dass sie endlich ihr Kind begraben hat?

»Wohnen Sie hier in der Nähe?«, fragt er.

»Nein«, antwortet sie. »Nein, ich wohne in Barnet. Aber früher habe ich hier in der Gegend gelebt. Bis vor einigen Jahren. Deshalb gehe ich noch hier zum Friseur.« Sie deutet mit dem Kopf zu dem Laden ein paar Häuser weiter. »Ich habe panische Angst, zu irgendjemand anderem zu gehen, deshalb fahre ich einmal im Monat her.«

»Also …« Er betrachtet ihre Haare. »Ich denke, das ist es wert.«

Er scheint mit ihr zu flirten, und sie fragt sich, ob er ein schräger Typ ist. Wirkt er irgendwie sonderbar, nicht ganz normal? Übersieht sie sämtliche Warnzeichen? Spielt er ein falsches Spiel mit ihr, wird er sie vergewaltigen, entführen, stalken? Ist er verrückt? Ist er böse?

Sie hat diese Fragen verinnerlicht, sie stellt sie sich bei jedem Menschen, den sie trifft. Es ist ihr nie leichtgefallen zu vertrauen, selbst bevor ihre Tochter verschwand und zehn Jahre später tot aufgefunden wurde. Paul sagte immer, sie wäre sein Langzeitprojekt. Sie weigerte sich, ihn zu heiraten, bis Jake in den Kindergarten kam, aus Angst, er würde sie vor dem Standesamt stehen lassen. Aber inzwischen stellt sie sich diese Fragen häufiger. Denn sie weiß, dass der schlimmste aller denkbaren Fälle sehr wohl eintreten kann.

Sie blickt diesen Mann an, den Mann mit grauen Augen und grauen Haaren, weicher Haut und guten Schuhen, und es gibt nichts an ihm auszusetzen. Bis auf die Tatsache, dass er mit ihr redet. »Danke«, erwidert sie auf sein Kompliment. Dann stellt sie ihren Stuhl wieder an ihren Tisch zurück. Sie will gehen, aber sie will auch, dass er sie bittet zu bleiben.

»Sie müssen gehen?«, fragt er.

»Nun, ja.« Fieberhaft überlegt sie sich ein Vorhaben. »Ich treffe mich mit meiner Tochter.«

Sie trifft sich jetzt nicht mit ihrer Tochter. Sie trifft sich nie mit ihrer Tochter.

»Oh, Sie haben eine Tochter?«

»Ja, und einen Sohn.«

»Ein Mädchen und einen Jungen.«

»Ja.« Sie spürt einen Stich im Herzen, als sie ihre verschwundene Tochter verleugnet. »Ein Mädchen und einen Jungen.«

»Ich habe zwei Mädchen.«

Sie nickt und hängt sich die Tasche über die Schulter. »Wie alt sind die beiden?«

»Die eine ist einundzwanzig, die andere neun Jahre alt.«

»Leben sie bei Ihnen?«

»Die Neunjährige ist bei mir. Die Einundzwanzigjährige wohnt bei ihrer Mutter.«

»Oh.«

Er lächelt. »Es ist kompliziert.«

»Ist nicht alles kompliziert?« Sie erwidert das Lächeln.

Dann reißt er eine Ecke von der Zeitung auf dem Nebentisch ab, holt einen Stift aus seiner Manteltasche und sagt: »Hier. Ich habe unsere Unterhaltung sehr genossen. Leider war sie nur kurz. Ich würde Sie sehr gern zum Essen einladen.« Er kritzelt eine Telefonnummer auf den Fetzen Papier und gibt ihn ihr. »Rufen Sie mich an.«

Rufen Sie mich an.

Selbstsicher, einfach, direkt. Sie kann sich nicht vorstellen, wie ein Mensch so sein kann.

Sie nimmt den Fetzen Papier und reibt ihn zwischen ihren Fingern. »Ja«, sagt sie. Und dann: »Also, vielleicht.«

Er lacht. Er hat viele Zahnfüllungen. »Vielleicht genügt mir. Vielleicht ist okay.«

Schnell und ohne sich umzublicken verlässt sie das Café.

An diesem Abend tut Laurel etwas, das sie noch nie getan hat. Sie schaut unangemeldet bei Hanna vorbei. Der Gesichtsausdruck ihrer jüngsten Tochter, als ihre Mutter vor ihrer Tür steht, besteht zu neunzig Prozent aus Entsetzen und zu zehn Prozent aus Besorgnis.

»Mum?«

»Hallo, Liebes.«

Hanna schaut hinter ihre Mutter, als ob es in ihrer Nähe einen sichtbaren Grund für ihr Dasein gäbe.

»Geht es dir gut?«

»Ja, alles okay....

Erscheint lt. Verlag 10.2.2020
Übersetzer Carola Fischer
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Then She Was Gone
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Schlagworte dunkles Geheimnis • eBooks • Entführung • jp delaney • London • Mutter-Tochter-Beziehung • Nr.-1-Bestseller • Nr.1-Bestseller • Nummer-1-Bestseller • psychologische Spannung • Psychothriller • Ralphs Party • Sunday-Times-Bestseller • Thriller • verschwundenes Mädchen
ISBN-10 3-641-23503-0 / 3641235030
ISBN-13 978-3-641-23503-1 / 9783641235031
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