Zerbrochene Sterne (eBook)

Erzählungen - Mit einer bislang unveröffentlichten Story von Cixin Liu
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
672 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-25112-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zerbrochene Sterne -  Cixin Liu,  Hao Jingfang,  Qiufan Chen
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Die besten Science-Fiction-Autoren aus China in einem Band
Ein junger Mann wird dreimal in der Nacht angerufen - und jedes Mal ist er selbst am anderen Ende der Leitung. Genauer gesagt, sein zukünftiges Ich, und dreimal soll er die Welt vor der unausweichlichen Zerstörung retten. »Mondnacht« lautet der Titel dieser Kurzgeschichte von Cixin Liu, die der preisgekrönte Herausgeber und Übersetzer Ken Liu zusammen mit fünfzehn weiteren Erzählungen der besten Science-Fiction-Autoren Chinas in diesem Band versammelt hat.

Manche sind bereits in der Literaturszene etabliert und international berühmt wie etwa Cixin Liu, Hao Jingfang und Han Song, manche gehören zur jungen, ehrgeizigen Generation wie Qiufan Chen und Xia Jia, und andere wiederum sind in der wachsenden Zunft der Geisteswissenschaftler verwurzelt, zum Beispiel Regina Kanyu Wang und Fei Dao. Sie alle entwickeln in ihren Erzählungen einen kritischen, von der Gegenwartskultur geprägten Blick auf China, und manche Texte konnten erst in der Übersetzung überhaupt veröffentlicht werden. Abgerundet wird dieser Sammelband durch drei Essays, die das Phänomen der chinesischen Science-Fiction ausführlich beleuchten und verständlich machen.

Cixin Liu ist der erfolgreichste chinesische Science-Fiction-Autor. Er hat lange Zeit als Ingenieur in einem Kraftwerk gearbeitet, bevor er sich ganz seiner Schriftstellerkarriere widmen konnte. Seine Romane und Erzählungen wurden bereits viele Male mit dem Galaxy Award prämiert. Cixin Lius Roman »Die drei Sonnen« wurde 2015 als erster chinesischer Roman überhaupt mit dem Hugo Award ausgezeichnet und wird international als ein Meilenstein der Science-Fiction gefeiert. Zusammen mit den beiden Folgebänden »Der dunkle Wald« und »Jenseits der Zeit« wurde die Trisolaris-Trilogie als TV-Serie 3 Body Problem für Netflix verfilmt.

Sissi

1

Ich erinnere mich noch, wie Sissi das erste Mal in meine Wohnung kam.

Sie hob ihre winzigen Füßlein und trat so behutsam auf die blanken Holzdielen wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal frisch gefallenen Schnee betritt, die Schritte zittrig vor Angst, es könnte den Schnee beschmutzen oder mit seinem Gewicht darin versinken.

Ich hielt Sissi an der Hand. Ihr weicher Körper war mit Baumwolle gefüllt, und die Stiche, die ich auf dem weißen Flanell gesetzt hatte, waren nicht sonderlich akkurat. Auch einen Umhang aus scharlachrotem Filz, wie ich ihn aus den Märchen meiner Kindheit kannte, hatte ich ihr genäht. Ihr eines Ohr war länger als das andere geraten und baumelte wie verzagt herab.

Bei ihrem Anblick kamen mir all die Momente des Versagens in meinem Leben wieder in den Sinn: die Puppen aus Eierschalen, die ich im Handarbeitsunterricht zerdrückt hatte; die Bilder, die ich mit meinem Gekleckse ruiniert hatte; die Fotos, auf denen ich so steif gelächelt hatte; der Schokoladenpudding, den ich im Topf hatte verkohlen lassen; die Prüfungen, in denen ich durchgefallen war; die erbitterten Streitigkeiten und Trennungen; die wirren Referate; die Abschlussarbeit, die ich immer wieder umgeschrieben und trotzdem nie veröffentlicht hatte …

Dongdong wandte uns sein flauschiges Köpfchen zu und betrachtete uns. Seine Hochgeschwindigkeitskameras scannten und analysierten Sissis Gestalt. Ich glaubte fast zu hören, wie in seinem Körper die Algorithmen ratterten. Er war so programmiert, dass er nur auf sprechende Objekte reagierte.

»Dongdong, das ist Sissi.« Ich winkte ihn zu uns herüber. »Komm mal her und sag Hallo.«

Dongdong öffnete den Mund und stieß ein Geräusch aus, das einem Gähnen ähnelte.

»Benimm dich!«, ermahnte ich ihn mit erhobener Stimme wie eine strenge Mutter.

Mürrisch grummelte Dongdong etwas vor sich hin, doch ich wusste, dass er damit nur um meine Aufmerksamkeit und Zuneigung buhlen wollte. Die komplizierten Algorithmen, die seinem Verhaltensmuster zugrunde lagen, imitierten kleine Kinder und waren der Schlüssel zum Erfolg von Sprachlernrobotern. Ohne ein solches interaktives Verhaltensfeedback hätte Dongdong eher einem autistischen Kind geähnelt: Auch wenn er Grammatik und Wortschatz komplett beherrscht hätte, wäre er nicht in der Lage gewesen, sinnvoll mit anderen zu kommunizieren.

Dongdong streckte seine flauschige Vorderflosse aus und sah erst mich, dann Sissi mit großen Augen an. Die Designer hatten ihm aus gutem Grund die Gestalt eines kleinen weißen Seehunds gegeben: Jeder, der sein herzerfrischend argloses Äußeres und seine riesigen, pechschwarzen Augen sah, ließ sogleich alle Zurückhaltung fallen und fühlte nur noch den Drang, ihn zu umarmen, ihm den Kopf zu tätscheln und ihm zu versichern: »Hallo, ich freue mich, dich kennenzulernen!« Hätte er dagegen die Gestalt eines nackten Säuglings gehabt, so hätte er seinem menschlichen Gegenüber ein leises Grauen eingeflößt.

»Hal-lo«, sagte er mit der überdeutlichen Aussprache, die ich ihm beigebracht hatte.

»So ist es gut. Sissi, das ist Dongdong.«

Sissi musterte Dongdong mit ihren schwarzen Knopfaugen, hinter denen ihre Kameras verborgen waren. Weil ich ihr keinen Mund genäht hatte, wirkte ihr Gesichtsausdruck reichlich eintönig, als wäre sie eine verwunschene kleine Prinzessin, die weder lachen noch sprechen konnte. Doch sie konnte durchaus sprechen, das wusste ich – die fremde Umgebung machte sie nur nervös. Zu viele Informationen prasselten auf sie ein, zu viele Optionen verlangten danach, dass sie sie gegeneinander abwog – es war wie bei einer komplizierten Stellung im Schach, wenn jeder Zug eine unabsehbare Kette von Konsequenzen nach sich zog.

Die Hand, mit der ich Sissis Hand hielt, begann zu schwitzen, so als hätte sie mich mit ihrer Nervosität angesteckt.

»Dongdong, willst du Sissi nicht umarmen?«, schlug ich vor.

Dongdong stieß sich mit seinen Flossen vom Boden ab und machte einige Hopser nach vorn, ehe er sich mühsam aufrichtete und seine beiden kurzen Vorderflossen ausbreitete. Seine Mundwinkel zogen sich in die Länge und hoben sich zu einem neugierigen, freundlichen Lächeln. Was für ein perfektes Lächeln, bewunderte ich ihn im Stillen. Was für ein geniales Design. In der Frühzeit der künstlichen Intelligenz hatten die Forscher solche nonverbalen Elemente in der Interaktion noch ignoriert im Glauben, ein »Dialog« erschöpfe sich in den Fragen und Antworten, die zwischen einem Programmierer und einem Computer getauscht würden.

Sissi grübelte noch über meine Frage. Doch dies war eine Situation, die von ihr keine verbale Antwort verlangte, was ihr die Berechnung wesentlich erleichterte. Sie musste nur zwischen einem einfachen Ja oder Nein entscheiden, so als würfe sie eine Münze.

Sie beugte sich zu Dongdong hinab und nahm ihn in ihre flauschigen Ärmchen.

So ist es gut, Sissi, lobte ich sie im Stillen. Ich weiß doch, wie sehr du dich danach sehnst, umarmt zu werden.

Alan

1

Gegen Ende seines Lebens erfand Alan Turing eine Maschine, die sich mit Menschen unterhalten konnte. Er nannte sie »Christopher«.

Christopher war ganz einfach zu bedienen: Der menschliche Gesprächspartner tippte auf einer Schreibmaschine, was er sagen wollte, und gleichzeitig stanzte ein Mechanismus, der mit den Tasten verbunden war, Lochmuster in einen langen Papierstreifen, der dann in die Maschine eingeführt wurde. Wenn die Maschine ihre Berechnungen abgeschlossen hatte, gab sie ihre Antwort, die durch einen vergleichbaren Mechanismus auf einer zweiten Schreibmaschine wieder ins Englische konvertiert wurde. Beide Schreibmaschinen waren dahingehend modifiziert, dass sie die Ausgabe nach einem vorher festgelegten Schlüssel codierten, indem sie zum Beispiel »A« durch »S« ersetzten und »S« durch »M«. Für Turing, der während des Zweiten Weltkriegs den Enigma-Code der deutschen Wehrmacht geknackt hatte, schien das nicht mehr als eine kleine Spielerei in seinem so rätselhaften Leben zu sein.

Niemand hat diese Maschine je zu Gesicht bekommen. Turing selbst hinterließ nach seinem Tod nur zwei Kisten, die die Aufzeichnungen seiner Gespräche mit Christopher enthielten. Doch die zerknitterten Blätter waren so chaotisch durcheinandergewürfelt, dass es zunächst niemandem gelang, die Bedeutung hinter den Zeichenkolonnen zu enträtseln.

Im Jahr 1982 versuchte der Mathematiker und Turing-Biograf Andrew Hodges aus Oxford den Code zu knacken. Doch weil Turing für jedes Gespräch einen anderen Codierschlüssel verwendet und die einzelnen Blätter weder mit einer Seitenzahl noch mit einem Datum markiert hatte, sah sich Hodges mit so großen Schwierigkeiten konfrontiert, dass er am Ende lediglich einige Notizen zu den Spuren, die er verfolgt hatte, hinterließ, ohne dass er der Wahrheit wesentlich näher gekommen wäre.

Dreißig Jahre später entschlossen sich ein paar Computernerds – Studenten vom Massachusetts Institute of Technology –, zum Gedenken an Turings hundertsten Geburtstag die Herausforderung anzunehmen. Anfangs versuchten sie, eine Lösung zu erzwingen, indem sie den Computer alle nur möglichen Muster auf jeder Seite analysieren ließen, doch das erforderte eine enorme Rechenkapazität. Eine Frau namens Joan Newman nahm unterdessen das Originaltyposkript genauer in Augenschein und entdeckte dabei winzige Unterschiede zwischen den Abriebspuren, die die Tasten auf den einzelnen Seiten hinterlassen hatten. Newman erkannte darin einen Beleg dafür, dass Turing zwei unterschiedliche Schreibmaschinen verwendet hatte, und stellte die kühne Hypothese auf, dass es sich bei dem Typoskript um die verschlüsselten Aufzeichnungen von Dialogen handelte, die Turing mit einem unbekannten Gesprächspartner geführt hatte.

Diese Spur legte den Gedanken an den berühmten Turing-Test nahe. Doch die Studenten, die ihr eigenes Zeitalter dem von Turing um Lichtjahre voraus glaubten, waren überzeugt, damals hätte niemand, nicht einmal Alan Turing selbst, ein Computerprogramm entwickeln können, das in der Lage gewesen wäre, sich mit einem Menschen zu unterhalten. Also gaben sie dem mysteriösen Gesprächspartner den Namen »Ghost« und dachten sich ein paar absurde Geschichten über ihn aus.

Trotzdem ebnete Newmans Hypothese der nachfolgenden Generation von Codeknackern den Weg. Zum Beispiel versuchten sie, die einzelnen Typoskriptseiten anhand von sich wiederholenden Buchstabenmustern und Grammatikstrukturen einander zuzuordnen, um dahinter Fragen und die zugehörigen Antworten zu finden. Sie erstellten auch Listen mit den Namen von Turings Freunden und Verwandten, um den Namen seines Gesprächspartners zu erraten, und knackten auf diese Weise schnell die verschlüsselte Buchstabenkombination für »Christopher« – vermutlich eine Anspielung auf Christopher Morcom, Turings erste Liebe im Alter von sechzehn Jahren. Beide Jungen hatten eine Leidenschaft für die Naturwissenschaften geteilt und in einer kalten Winternacht gemeinsam einen Kometen beobachtet. Im Februar 1930 war der erst achtzehnjährige Christopher an Tuberkulose gestorben.

Wie schon Turing selbst sagte, erfordert das Codeknacken mehr als nur logische Schlussfolgerungen. Intuitive Vermutungen erweisen sich in der Praxis oft als wichtiger – oder anders gesagt: Alle wissenschaftliche Forschung lässt sich als eine Synthese aus Logik und Intuition verstehen. So war es am Ende denn auch die Verbindung von Newmans Intuition und den logischen Berechnungen des Computers, die das Rätsel löste, das Turing der Nachwelt hinterlassen hatte. Wie wir...

Erscheint lt. Verlag 9.3.2020
Übersetzer Karin Betz, Marc Hermann, Johannes Fiederling, Lukas Dubro, Felix Meyer zu Venne, Chong Shen, Kristof Kurz
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Broken Stars
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
Schlagworte Bestsellerautoren • China • chinesische Science-Fiction • Die drei Sonnen • eBooks • Kurzgeschichten • Trisolaris-Trilogie • Weltraum • Zukunft
ISBN-10 3-641-25112-5 / 3641251125
ISBN-13 978-3-641-25112-3 / 9783641251123
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