Züricher Novellen -  Gottfried Keller

Züricher Novellen (eBook)

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2019 | 1. Auflage
480 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60959-2 (ISBN)
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Mit den ?Züricher Novellen? setzt Gottfried Keller seiner Heimat ein unvergessliches Denkmal. In fünf Geschichten zeichnet er ein liebevolles Bild der Stadt Zürich und ihrer Einwohner und lässt die Leser teilhaben an seiner persönlichen Erlebniswelt. Keller erzählt mit einzigartiger poetischer Kraft. Ein Buch über das Glück wahrer Menschlichkeit.

Gottfried Keller, geboren 1819 in Zürich, war der wichtigste Schweizer Dichter des 19. Jahrhunderts. Nach einer erfolglosen Lehre als Kunstmaler schrieb er in Berlin seinen Lebensroman ?Der grüne Heinrich?. Er kehrte erneut nach Zürich und in die finanzielle Abhängigkeit von seiner Mutter zurück. Nach Jahren als Journalist und Gelegenheitsdichter wurde er Staatsschreiber. Abends saß er gern in Wirtshäusern, wo er seinem Temperament mit Krakeel und Gepolter Luft machte. Er starb nach langer Krankheit 1890 in Zürich.

Gottfried Keller, geboren 1819 in Zürich, war der wichtigste Schweizer Dichter des 19. Jahrhunderts. Nach einer erfolglosen Lehre als Kunstmaler schrieb er in Berlin seinen Lebensroman ›Der grüne Heinrich‹. Er kehrte erneut nach Zürich und in die finanzielle Abhängigkeit von seiner Mutter zurück. Nach Jahren als Journalist und Gelegenheitsdichter wurde er Staatsschreiber. Abends saß er gern in Wirtshäusern, wo er seinem Temperament mit Krakeel und Gepolter Luft machte. Er starb nach langer Krankheit 1890 in Zürich.

Züricher Novellen


Gegen das Ende der achtzehnhundertundzwanziger Jahre, als die Stadt Zürich mit weitläufigen Festungswerken umgeben war, erhob sich an einem hellen Sommermorgen mitten in derselben ein junger Mensch von seinem Lager, der wegen seines Heranwachsens von den Dienstboten des Hauses bereits Herr Jacques genannt und von den Hausfreunden einstweilen geihrzt wurde, da er für das Du sich als zu groß und für das Sie noch als zu unbeträcht‌lich darstellte.

Herrn Jacques’ Morgengemüt war nicht so lachend wie der Himmel, denn er hatte eine unruhige Nacht zugebracht, voll schwieriger Gedanken und Zweifel über seine eigene Person, und diese Unruhe war geweckt worden durch den am Abend vorher in irgendeinem vorlauten Buche gelesenen Satz, daß es heutzutage keine ursprüng‌lichen Menschen, keine Originale mehr gebe, sondern nur noch Dutzendleute und gleichmäßig abgedrehte Tausendspersonen. Mit Lesung dieses Satzes hatte er aber gleichzeitig entdeckt, daß die sanft aufregenden Gefühle, die er seit einiger Zeit in Schule und Haus und auf Spaziergängen verspürt, gar nichts anderes gewesen, als der unbewußte Trieb, ein Original zu sein oder eines zu werden, das heißt, sich über die runden Köpfe seiner guten Mitschüler zu erheben. Schon hatte sich in seinen Schulaufsätzen die kurze, dürftige Schreibweise ganz ordent‌lich zu bewegen und zu färben angefangen; schon brachte er hier und da, wo es angezeigt schien, ein kräftiges sic an und wurde deshalb von den Kameraden der Sikamber geheißen. Schon brauchte er Wendungen wie: »obgleich es scheinen möchte«, oder »nach meiner unmaßgeb‌lichen Meinung«, oder »die Aurora dieser neuen Ära«, oder »gesagt, getan« und dergleichen. Ein historisches Aufsätzchen, in welchem er zwei entschieden einander entgegenwirkende Tatsachen rasch aufgezählt hatte, versah er sogar mit dem pomphaften Schlusse: »Man sieht, die Dinge standen so einfach nicht, wie es den Anschein haben mochte!«

Auch gab es unter seinen Sachen ein Heft immer weiß bleibenden Papiers, überschrieben: »Der neue Ovid«, in welches eine neue Folge von Verwand‌lungen einge‌tragen werden sollte, näm‌lich Verwand‌lungen von Nymphen und Menschenkindern in Pflanzen der Neuzeit, welche die Säulen des Kolonialhandels waren, dem das elter‌liche Haus sich widmete. Statt des antiken Lorbeers, der Sonnenblume, der Narzisse und des Schilfes sollte es sich um das Zuckerrohr, die Pfefferstaude, Baumwoll- und Kaffeepflanze, um das Süßholz handeln, dessen schwärz‌lichen Saft sie in jener Stadt Bärendreck nennen. Nament‌lich von den verschiedenen Farbhölzern, dann vom Indigo, Krapp usw. versprach er sich die wirkungsreichsten Erfindungen, und alles in allem genommen schien es ihm ein zeitgemäßer und zutreffender Gedanke zu sein.

Frei‌lich boten die Erfindungen selbst nirgends eine Handhabe dar, bei welcher er sie anpacken konnte; sie waren sämt‌lich wie schwere, große runde Töpfe ohne Henkel, und aus diesem Grunde blieb jenes Heft bis auf die statt‌liche Überschrift durchaus rein und weiß. Aber das Dasein desselben, sowie noch einige andere Erscheinungen ungewöhn‌licher Art, deren Aufzäh‌lung hier unterbleiben kann, bildeten eben dasjenige, was er nunmehr als Trieb zur Originalität entdeckte in dem gleichen Augenblicke, da diese Tugend dem damaligen Geschlechte rundweg abgesprochen wurde.

Ängst‌lich und fast traurig betrachtete Herr Jacques den schönen Tag, faßte dann aber seiner Jugend gemäß einen raschen Entschluß, nahm sein Taschenbuch, das für mannigfache Aufzeichnungen sinnreich eingerichtet war, zu sich und begab sich auf einen Spaziergang für den ganzen Tag, um seine Sache, die er meinte, zu erwägen, zu erproben und in Sicherheit zu bringen.

Erst‌lich bestieg er eine hohe Bastion, die sogenannte Katze, an welcher jetzt der Botanische Garten liegt, und arbeitete sich so über seine Mitbürger empor, indem er über die Stadt hinblickte.

Alles war in täg‌licher Arbeit und Tätigkeit begriffen; nur ein kleiner, schulschwänzender Junge sch‌lich um Herrn Jacques herum und schien ebenfalls ein Original werden zu wollen, ja ihn an Begabung bereits zu übertreffen; denn man konnte beobachten, wie der Kleine in ein Kasemattengemäuer sch‌lich, dort einen künst‌lich angelegten Behälter öffnete, Spielsachen und Eßwaren hervorholte und sich mutterseelenallein, aber eifrig zu unterhalten begann.

So war alles betätigt, selbst der blaue See fernhin von den Segeln der Last- und Marktschiffe bedeckt, müßig allein die stille weiße Alpenkette und Herr Jacques.

Da sich nun auf dieser Katze keine erfreu‌liche Erfahrung oder Auszeichnung darbieten wollte, so stieg er wieder hinunter und ging aus dem nächsten Tore, sich bald an den einsamen Ufern des Sihlflusses verlierend, der wie herkömm‌lich durch die Gehölze und um die aus dem Gebirge herabgewälzten Steinblöcke schäumend dahineilte. Seit hundert Jahren war diese dicht vor der Stadt liegende romantische Wildnis von den zürcherischen Genies, Philosophen und Dichtern mit Degen und Haarbeutel begangen worden; hier hatten die jungen Grafen Stolberg als Durchreisende genia‌lisch und pudelnackt gebadet und dafür die Steinwürfe der sittsamen Landleute eingeerntet. Die Felstrümmer im Flusse hatten schon hundertmal zu den Robinsonschen Niederlassungen junger Schulschwänzer gedient; sie waren geheimnisvoll von dem Feuer geschwärzt, in welchem geraubte Kartoffeln oder unglückselige Fischchen gebraten worden, die den Robinsons in die Hände gefallen. Herr Jacques selber hatte mehrere dergleichen Projekte hervorgebracht. Allein, ein besserer Kaufmann als Robinson, hatte er dieselben, das heißt die Wahl des Platzes und das Einzelne der Ausführung, jedesmal für bares Geld an andere Knaben abgetreten, worauf die Käufer dann ebenso regelmäßig infolge dieser Wahl und Ausführung von den Bauern als Holzfrevler und Felddiebe überfallen und geprügelt worden waren.

Dieses erinnerungsreiche Ufer entlang wandelte Herr Jacques, die offene Schreibtafel in der einen, den Stift in der anderen Hand und ganz gewärtig, die Zeugnisse seiner Originalität zu beglaubigen, welche die rauschenden Wasser ihm bringen sollten. Allein der fleißige Strom hatte anderes zu tun, er mußte den Bürgern von Zürich das gute Buchenholz zu‌tragen, welches sie aus dem schönen Walde bezogen, den ihnen nach der Überlieferung zur alten Reichszeit die Kinder König Albrechts von Österreich aus dem Gute eines seiner Mörder für loyales Verhalten geschenkt, oder aus jenem Forste, den Ludwig der Deutsche der Abtei Zürich gewidmet. Zu vielen Tausenden kamen, den Fluß bedeckend, die braven Holzscheite aus den mächtigen Wäldern stundenweit hergeschwommen, und der Fluß, von früherem Regenwetter angeschwollen, mit weggeschwemmtem Erdreich gesättigt und schmutzig gefärbt, warf die Last mit wilder Kraft vor sich her, als der ungeschlachte Holzknecht der guten Stadt, daß das Holz gar eilig in deren Bereich sich sputete.

An diesem Anblicke hätte nun Herr Jacques sich zu einem fruchtbringenden Gedanken erheben und, den Lauf der Zeiten verfolgend, das Auge in die graue Vorzeit versenkend, den Bestand der mensch‌lichen Dinge erwägen, oder er hätte das Lob jenes grünen Waldes singen können, der in der Hand ausdauernder Bürgerkraft allein noch lebte von all der Herr‌lichkeit verschollener Ritter und Abteien, noch so frisch und grün, wie vor einem halben oder bald ganzen Jahrtausend.

Doch konnte er nicht auf solche Abschweifungen geraten, weil er sofort begann, die Holzscheite, so schnell er konnte, innerhalb eines ungefähren quadratischen Bezirkes zu zählen, die mutmaß‌liche Fläche, welche zu einem Klafter wohlgemessenen Buchenholzes gehören mochte, zu überschlagen, dann solche Flächen abzugrenzen und zu zählen, und end‌lich den Wert des vorüberschwimmenden Holzes auszurechnen, so daß er, nachdem er kein Auge verwendend und die Uhr in der Hand eine halbe Stunde flußaufwärts gegangen war, auf seiner Schreibtafel die ziem‌lich wahrschein‌liche Summe trug, für welche die Stadt während zweier Tage Brennholz einführte. Denn er kannte die gegenwärtigen Holzpreise genau und freute sich, die heutige Mission ganz vergessend, seines Fleißes und seiner Geschick‌lichkeit.

Plötz‌lich erwachte er aus seinen Berechnungen, als die Flußgegend sich erweiterte und er eine von Hügeln und Bergen eingeschlossene Ebene betrat, die Wollishofer Allmende genannt, auf welcher sich ihm ein neues Schauspiel darbot.

Auf dieser Allmende sah er näm‌lich ein Häuf‌lein meistens älterer Herren sich rüstig und doch gemäch‌lich durcheinander bewegen und alle Vorbereitungen zu einem erkleck‌lichen Bombenwerfen ausführen. Es waren die Herren der löb‌lichen alten Gesellschaft der Konstaff‌‌leren und Feuerwerker, welche dieses kriegerische Wesen zu ihrem Privatvergnügen sowohl als zu gemeinem Nutzen betrieben und heute ihr jähr‌liches Mörserschießen feierten.

Da waren also mehrere solcher Geschütze, in der Sonne glänzend, aufgepflanzt; daneben stand ein großes offenes Zelt; der Tisch darunter trug Papiere, Instrumente sowie Flaschen und Gläser und eine blanke Zinnschüssel mit Tabak nebst langen irdenen Pfeifen. Eine der letzteren trug beinahe jeder der Herren in der Hand, feine Räuchlein ausblasend in Erwartung des Pulverdampfes. Zwei oder drei von den ältesten trugen noch Haarzöpfchen und mehrere andere gepuderte...

Erscheint lt. Verlag 22.5.2019
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Der Landvogt von Greiffensee • Der Narr auf Manegg • Dichter • Erzählung • Fähnlein der sieben Aufrechten • Geschichten • hadlaub • Heimat • Novelle • Schweiz • Ursula • Zürich
ISBN-10 3-257-60959-0 / 3257609590
ISBN-13 978-3-257-60959-2 / 9783257609592
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