Für jene, die im Dunkeln sitzt und auf mich wartet (eBook)
432 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-22034-1 (ISBN)
António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkriegs 27 Monate lang Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. In seinem Werk, das mittlerweile mehr als dreißig Titel umfasst und in vierzig Sprachen übersetzt worden ist, setzt er sich intensiv und kritisch mit der portugiesischen Gesellschaft auseinander. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den »Großen Romanpreis des Portugiesischen Schriftstellerverbandes«, den »Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft« und den Camões-Preis.
1
Manchmal schrecke ich mitten in der Nacht aus dem Schlaf auf, was auch immer mitten in der Nacht bedeutet, ein Hund bellt im Haus, wo weiß ich nicht, und ohne dass die Katze auf der Überdecke ihre Stellung wechselt, eine Pfote ellenlang, ganz Krallen, und die anderen klein, mache ich das Licht an, das anfangs etwas vibriert, und da ist niemand, selbstverständlich einmal abgesehen vom Fenster und den Möbeln, die heimlich kreisen, glauben, dass ich es nicht mitbekomme, das Mädchen vom Schwan beobachtet mich aus den Augenwinkeln, bereit zu warnen
– Sie ist aufgewacht
und alles steht still, hält inne, wartet, dass ich wieder einschlafe, um weiterzumachen, was mich daran erinnert, wie ich mit fünf Jahren, die Ohren wachsam gespitzt, auf Zehenspitzen, den Lippenstift meiner Mutter gezückt, versuchte, bis zum Spiegel über dem Waschbecken zu reichen, das Kinn oder die Wangen, aber nicht die Lippen traf, hätte man mich gefragt
– Wo bist du?
hätte ich nicht geantwortet, so wie auch der Hund nicht antwortete, immer nur bellte, ich suchte im Flur, und nichts, im Wohnzimmer, und nichts, ich näherte mich langsam dem Ursprung des Geräuschs in der Abstellkammer, und nichts, ich stieß mich an der Ecke eines Schemels und bewegte mich, den Knochen reibend, hinkend weiter, ich habe schon Leute wegen Geringfügigerem mit Gehhilfen oder an Krücken hängend, mit verwaistem Gesicht, auf der Straße die Qual des Gipsverbandes abstützen sehen, in der Speisekammer nichts, am Eingang nichts, wo ein Schlüsselbund am Schloss auf verräterische Weise schaukelte, bis ein näher gelegenes Bellen mich in Richtung Küche schob, da war der Herd, der Waschtrog, der ganze Kram, die Geschirrtücher an einem Holzstreifen voller hochgebogener Nägel und zwischen den Geschirrtüchern die Schürze, damit ich mich nicht schmutzig machte, aber ich machte mich so oder so schmutzig, darauf gedruckt ein rosa Windhund, und es war der Windhund, der bellte und bellte, immer wenn das Wetter sich ändert, wird er unruhig, deshalb wird es bestimmt schon bald regnen, wird man die Tropfen rings um die Laternen und die geneigten Zweige der Tipubäume, das Wasser an den Fensterscheiben herunterrinnen sehen, kalt, wo liegt meine Wolljacke, an der ein Aufhänger fehlt, ich finde sie nicht, so wie ich überhaupt nichts finde, allein das, was ohne mein Zutun zu mir kommt, das Mädchen vom Schwan oder die Katze, die um die leere Schüssel streicht, eine Frau, die Hemden von einer Wäscheleine zieht, dies hier ist kein Luxusviertel, ich lebe seit meiner Ankunft in Lissabon hier in der Wohnung meiner Patentante, möge ihre Seele in Frieden ruhen, im zweiten Stock, wie ich hat sie ihr Leben im Theater zugebracht, nicht auf der Bühne, sie war Schneiderin, ob sie am Ende des Lebens wegen der Augenkrankheit mit der Hand oder mit der Brille nähte, weiß ich nicht, sie warnte
– Männer denk nicht mal dran Kleine
denn ihre Erfahrungen waren schmerzhaft, Lügen, Diskussionen, Ohrfeigen, ich war Jungfrau, allein schon der Gedanke an ein am Bettkopf klingelndes Kruzifix bewirkte, dass ich mich als Sünderin fühlte, der Mann meiner Patentante hatte eine Geliebte, die Besitzerin eines Kurzwarenladens, in dessen Schaufenster es auch Spielzeug gab, das übrigens witzig war, und meine Patentante wusste es, ein Klarinette spielender Clown, ein Elefant, ein Affe, er brauchte nur verspätet zum Abendessen zu kommen, und sie gleich
– Warst du bei der Kuh du Idiot?
während ihr Mann mit glücklichen Hosenträgern gemächlich und zufrieden die Weste weitete, den Ringfinger zur Vervollkommnung des Schnurrbarts und den kleinen Finger zu einer Reinigung seiner Ohren nutzte
– Was du dir immer einbildest
den er an, ich befahl dem Windhund
– Still
der Serviette abwischte, der Mann meiner Patentante warf mir eine Augenbraue ins Gesicht
– Hast du mit mir geredet?
ich klärte ihn auf
– Ich habe mit dem Windhund auf der Schürze geredet die es noch nicht gibt
ich habe sie während meiner ersten Ehe gekauft, Jahre später, in einer Zeit, in der ich arbeitslos war, aber es war eine billige Laune, der ausgebleichte Windhund war bestimmt seit Ewigkeiten im Laden, hatte darauf gewartet, dass ich Mitleid mit ihm hatte und ihn mitnahm, mich haben Hunde immer berührt, schaut man sie genauer an, merkt man, dass sie alle Kontaktlinsen tragen, so kurzsichtig sind sie, die Armen, und dann dieser Seitenblick, der um etwas bittet, was ich ihnen nicht zu geben weiß, mein erster Mann im Tragekörbchen, Pardon, im Bett
– Findest du mich dünn?
die Finger unabhängig voneinander, wüst durcheinander auf dem Betttuch vergessen, der Körper gab allmählich die Hände auf, ging an den Rippen und an der Kehle weiter, die innehielt und dann wieder keuchte
– Hilf mir
hin und wieder ein leises Pfeifen, hin und wieder ein Spuckebläschen, jetzt, wo ich mit niemandem zusammenwohne, habe ich Angst, ihm zu begegnen, ich fühle etwas, das ich nicht benennen kann, denke
– Das ist nicht er
denke
– Das kann nicht er sein
so wie ich auch denke
– Ob er es doch war?
und die Ahnung einer Träne, die sich nicht bewegt und an seinem Augenlid hart wird, die alte Frau löste auf dem Teller die Knochen aus, schob sie geschickt und schnell beiseite
– Ich sehe ihn noch immer ganz schnieke
mit engem Anzug und Pünktchenkrawatte, wie er die Beine übereinanderschlug, dabei auf die Bügelfalte achtete, so stolz auf sein Aussehen, so zufrieden mit sich selber, und zack, war da ein unangenehmes Gefühl, die Hand linderte es, ich
– Ihr Männer werdet nie erwachsen
ich
– Du hast nicht alle Tassen im Schrank das ist nichts Schlimmes
aber das war es, nach der Sache mit dem Windhund habe ich ihn zum Glück nicht mehr im Bett vorgefunden, so ein Schreck, obwohl mir so war, als wäre da der trockene, saure Geruch der Angst ganz in der Nähe, genau zwischen meinem Schlaf und mir, was mich am Schlafen hinderte, kein Wind auf der Straße, kein Zweig raunte, und die Stille war markerschütternd, obwohl ich das Kissen gegen die Ohren drückte, ich fände es schön, wenn die Kuckucke aus den Uhren da wären, ich möchte wetten, dass sie über all die Jahre Eier gelegt hatten, als ich klein war, sang meine Mutter beim Sticken, und wenn sie das Gefühl hatte, dass jemand in der Nähe war, verstummte sie sofort
– Flausen
verscheuchte die Stimme mit dem Handrücken, eine Theatergruppe machte am Sitz der Feuerwehr eine Aufführung, und sie nahmen mich mit, das in Faro, nicht hier, ich weiß nicht, warum ich keine Sehnsucht nach Faro habe, eine Stadt, die nicht einmal sehr hässlich ist, aber zwischen mir und dem Algarve, lassen wir das, unnötiges Leid, wozu, einer der Schauspieler, der mit meinem Vater beim Militär gewesen war, hat bei uns gegessen und redete mit uns, als hätten wir für die Sitzplätze bezahlt, um ihm beim Kauen zuzuschauen, am Vorabend wurde er am Ende des Stücks mit einem Dolch erstochen, und er war ewig lange herumgetaumelt, bis er vorsichtig zusammenbrach, man merkte, dass er beleidigt war, weil sie nicht vorher den Boden saubergemacht hatten, er verkündete
– Portugal wird mich rächen
obwohl Portugal still und ohne Rachegelüste von ein paar Stühlen aus zusah, die sie aus der Gemeindeverwaltung geholt hatten, mein Vater zum Schauspieler, und es schwang Sehnsucht nach der Kaserne in Chaves mit
– Salta Pocinhas der kleine Hüpfer
während meine Mutter, vom Todeskampf des Vorabends beeindruckt, nicht ganz sicher, ob er sich erholt hatte, zwischen einem Phantom und einem dicken Herrn schwankend
– Senhor Esteves
der Schauspieler zu meiner Mutter
– Für Sie nur Esteves Madame Ihr Mann und ich sind fast Brüder einmal hat er mir nachts eine tote Ratte in den Strohsack gesteckt
ich zum Schauspieler, entschieden
– Wenn ich groß bin werde ich Schauspielerin
der mit imperialer Geste ein Dienstmädchen, das zu sehr Dienstmädchen war, wegschickte, ein geckenhafter Blonder mit kleinen Fingern in jeder Geste war dabei zugegen
– Lass mich mit Sir Robert allein wir haben Geschäfte zu besprechen Cacilda
Cacilda ging unter wiederholten Verbeugungen rückwärts ab, hielt dabei das schlecht sitzende Häubchen fest, während der Blonde in schmachtender Haltung seine Mähne richtete, ich habe ihn noch kennengelernt, damals schon glatzköpfig, in einen Elektriker verliebt, der ihm sein Geld abknöpfte
– Um deiner Seele willen verlass mich nicht Arnaldo
kurzum, Faro so lala, der Freund meines Vaters, was heißt hier Freund, Beinahebruder, einem Rückenwirbel misstrauend, den der Tod im Stück ihm lädiert hatte, tastete selbigen mit den Fingergliedern in Gedanken an Krankenhäuser ab
– Das ist durchaus möglich Mädchen durchaus möglich
plötzlich kam ein Käfer aufs Geratewohl durchs Fenster, stieß gegen die Wände, die Lampe, die Decke, meine Mutter nahm erschrocken die Größe des Mädchens vom Schwan an, wünschte sich, dass mein Vater sie einmal im Leben beschützte, indem er sie mit dem Körper, dem Hals, den Flügeln abschirmte, und da begriff ich die kleine Statue, der Käfer warf sich gegen die Klunker des Lüsters, die panisch klirrten, sich ineinander verhakten, er brachte die Teppichfransen durcheinander, landete eine Sekunde lang auf meiner Schulter, verließ mich, ohne mich zu verschlingen, ich dachte, er würde mein Ohr mit nur einem Biss fressen, er schöpfte Kraft für weitere Purzelbäume, verzweifelt, weil er den Ausgang nicht fand,...
Erscheint lt. Verlag | 11.11.2019 |
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Übersetzer | Maralde Meyer-Minnemann |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Para aquela que esta sentada no escuro a minha espera |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | alternde Frau • eBooks • Erinnerung • Gedächtnisverlust • Identität • La Pléiade • Lebensende • Lissabon • Polyphonie • Portugal • Roman • Romane • Schauspielerin • Theater • Weltliteratur |
ISBN-10 | 3-641-22034-3 / 3641220343 |
ISBN-13 | 978-3-641-22034-1 / 9783641220341 |
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