Zwischen mir und dem Glück steh nur noch ich (eBook)
416 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-7325-7263-2 (ISBN)
Als die berufstätige und hochorganisierte Mutter Alice Ray sich von ihrer chaotischen Schwester Melissa zu einer Woche Dänemark-Urlaub überreden lässt, hat sie sich einen entspannten Aufenthalt in einem Spa vorgestellt. Aber Melissa hat eine Woche Wikingerurlaub im Wald gebucht: Hier sind Übernachten im selbstgebauten Unterschlupf und Beerensammeln fürs Abendessen angesagt. Doch ausgerechnet dieser chaotische Urlaub entpuppt sich als genau das, was Alice braucht, um ihrem Leben eine neue Richtung zu geben ...
Helen Russell ist Autorin des britischen Sachbuch-Bestsellers "The Year of Living Danishly". Vor ihrer Karriere als freie Autorin war sie Redakteurin bei der Marie Claire. Heute lebt sie in Dänemark, wo sie als Korrespondentin und Kolumnistin für mehrere große Tageszeitschriften und Magazine arbeitet, unter anderem für die London Times, den Guardian, das Wall Street Journal und den Independent.
Helen Russell ist Autorin des britischen Sachbuch-Bestsellers "The Year of Living Danishly". Vor ihrer Karriere als freie Autorin war sie Redakteurin bei der Marie Claire. Heute lebt sie in Dänemark, wo sie als Korrespondentin und Kolumnistin für mehrere große Tageszeitschriften und Magazine arbeitet, unter anderem für die London Times, den Guardian, das Wall Street Journal und den Independent.
1
Drei Wochen zuvor …
»Mein Name schreibt sich R-A-Y – ›Ray‹.«
Während ich mich erkläre, kratzt die unfassbar gelangweilte Frau vor mir sich mit einem Stift den Kopf. Über mir summen die Neonröhren. Meine »Smartshoes« drücken, und in meiner Tasche vibriert das Handy – kein unangenehmes Gefühl – und erinnert mich mit jedem Pulsieren daran, dass ich vielleicht gerade wichtige Nachrichten verpasse, während ich ganze Sekunden mit dieser Diskussion hier verschwende.
»Noch mal, bitte?«, meint die Frau seufzend.
Also erkläre ich es ihr noch einmal, und während ich spreche, schweift ihr Blick in die Ferne.
»Hier steht ›Rat‹. ›Rat‹ wie Ratte.« Ich lasse das laminierte Kärtchen an einem Schlüsselband vor ihrer Nase baumeln, um der Sache Nachdruck zu verleihen. »Mein Name ist aber Alice Ray.«
»Nicht ›Rat‹?«
»Nein.«
»Hm …« Sie kratzt sich erneut und begutachtet dann das Ende ihres Stifts. »Können wir es nicht einfach so lassen?«
»Sie verlangen ernsthaft von mir, dass ich zwei Tage mit einem Namensschild herumlaufe, auf dem ›Alice Rat‹ steht?«
»Ja.«
»Auf einem Kongress mit dem Titel: ›Wie Sie zu einem gewinnenden Lächeln kommen‹?«
»Nein?«
»Nein.«
Sie verlagert das Gewicht in ihrem Plastikstuhl und streckt mir dann, ohne mich anzusehen, die Hand entgegen.
»Vielen Dank.« Ich gebe ihr das Namensschild und füge in etwas sanfterem Tonfall hinzu: »Ich will Ihnen keine Schwierigkeiten machen, es ist nur einfach so, dass viele Kollegen – Leute aus meiner Branche – hier sind und dass ich einen Vortrag …«
Mir verschlägt es die Sprache, als ich zusehe, wie sie einen wasserfesten Stift aus einer Tupperbox holt. Sie zieht die Kappe mit den Zähnen ab und streicht den Buchstaben »t« durch. Dann fügt sie ein »y« und einen Smiley hinzu.
Ernsthaft? Das ist ihre Lösung?
»Wie wäre es, wenn Sie mir einfach ein neues Schild geben?«
Sie wirft mir einen derart hasserfüllten Blick zu, dass ich das Gefühl habe, von einem Kraftfeld zurückgeworfen zu werden. Zögernd trete ich den Rückzug an, aber nicht, ohne ihr einen Todesblick zugeworfen zu haben, vom dem ich hoffe, dass er ausdrückt: Du landest auf meiner mentalen Liste von absoluten Arschlöchern, die es verdienen, in Pfützen zu treten und Türen auf die Nase zu bekommen. Sie kratzt sich erneut am Kopf. Und Läuse noch obendrauf.
»Nächster!«, bellt sie, und damit bin ich entlassen.
Vor der Podiumsdiskussion, an der ich teilnehmen soll, ist noch ein wenig Zeit, und ich habe mir im Vorfeld geschworen, dass ich mein Bestes geben und mich diesmal unters Volk mischen werde, anstatt wie sonst dem Tisch mit den zuckerfreien Keksen sehnsüchtige Blicke zuzuwerfen, während ich an Karotten-Sticks und überteuerten Paleo-Riegeln nage.
Ich sollte networken, sage ich mir. Ich sollte den Leuten zulächeln und einen aufgeschlossenen, nahbaren Eindruck machen. Es ist nicht so, dass ich Angst davor hätte, mit meinen Mitmenschen zu interagieren, es ist nur …
»Oh, hallo!«
Ach du Scheiße.
»Alice?« Ein Mann mit Brille kneift die Augen zusammen und versucht, das Namensschild zu lesen, das genau auf meinen Brüsten liegt, und ich erinnere mich mit einem Mal wieder an Grund 142, warum ich Kongresse hasse: Irgendein Scherzkeks schafft es immer, dass die Namensschilder ganz zufällig auf Brusthöhe baumeln. Das gibt NKPs – Notgeilen Kongress-Perverslingen, Grund 141 – den perfekten Vorwand, um zu glotzen und gelegentlich auch zu grabschen – Grund 143. Jetzt vollführt der Brillenmann eine Art seltsame Kniebeuge, sodass er sich auf Augenhöhe mit meinen A-Körbchen befindet, ehe er zu mir hochschaut und fragend meint: »Alice … Rat?«
»Ray.«
»Stimmt! Ja! Wir haben uns doch schon mal getroffen!« Er streckt die Hand aus, um meine zu ergreifen.
»Oh, natürlich, ich erinnere mich!« Tue ich nicht.
Nach minutenlangem Händeschütteln beginnt er, mir von der Zahnseide zu erzählen, die seine Firma gerade auf den Markt gebracht hat. »ZahnzwischenRaumgleiter wurde von der NASA entwickelt! Es ist die Zukunft der Hygiene-Filamente!« Ich nicke höflich, und als ich mein Handy vibrieren fühle, hole ich es heraus, um es als Vorwand für meine Flucht zu nutzen. »Entschuldigen Sie bitte. Ich muss da rangehen, und danach beginnt mein Podium.«
Tatsächlich ist noch mindestens eine halbe Stunde Zeit, bevor »Das schwierige Feld der Wurzelspitzenresektion« losgeht.
»Sind Sie danach noch da? Es hieß, wir würden Malala für die Grundsatzrede bekommen, aber ich habe gerade den Magier vom letzten Jahr gesehen, es könnte also sein, dass uns Loch-im-Hut 2.0 erwartet …«
Die Neonröhre über mir flackert, und bei dem Gedanken an weitere vierundzwanzig Stunden an diesem Ort ohne Tageslicht, an dem die Delegierten sich mit industriell verarbeiteten Lebensmitteln und Zahnmedizin-Wortspielen über Wasser halten, bin ich plötzlich schrecklich müde. Ich verspreche, mein Möglichstes zu tun, seine Veranstaltung »Die Rückkehr der Plaque« zu besuchen, dann verabschiede ich mich. Ich habe den Anruf verpasst, aber das macht nichts. Ich mag telefonieren ebenso wenig, wie ich ein »Schwätzchen« im wahren Leben mag.
Ich war nicht immer so. Aber in letzter Zeit fühle ich mich ausgelaugt. Als hätte ich alle Nettigkeit im Behandlungsraum und als Mutter aufgebraucht, sodass jetzt nichts mehr davon übrig ist. Die Folgen von acht Jahren Mutterschaft und fünfzehn Jahren Zahnmedizin. Ganz zu schweigen von Ehe lebenslänglich …
»Entschuldigen Sie«, bitte ich einen großen Mann mit Schnauzbart, der den Zugang zu den heiligen Hallen des Backstage-Bereichs bewacht, wo, wie man mir versichert hat, kostenloses Wi-Fi und »der gute Kaffee« auf mich warten. »Darf ich eintreten?«
»Nur Besucher mit einem VIP-Pass haben hier Zutritt, werte Dame«, informiert er mich.
Ach du meine Güte, jetzt bin ich schon eine »werte Dame«? Oder anders gesagt: Ich habe meine besten Jahre hinter mir …
»Ich habe eines dieser besonderen blauen Namensschilder …« Ich lasse es hoffnungsvoll vor seiner Nase baumeln.
»Rat?« Er runzelt die Stirn und tippt dann mit seinen Wurstfingern auf einem iPad herum. Also auf meiner Liste gibt es keine Mrs Rat …«
»Es soll Ray heißen.«
»Hier steht aber Rat.«
»Ich weiß. Aber der richtige Name ist Ray.«
»Sicher?«
»Ziemlich sicher.«
Einen langen Moment starrt er konzentriert auf meine Brust, vermutlich, um herauszufinden, ob ich die Wahrheit sage, dann tritt er zur Seite, um mich ins Allerheiligste einzulassen. Es riecht stark nach Sandwiches und den Pheromonen einiger anderer »Experten«, die die unterschiedlichsten Rituale praktizieren, die sie durch die nächsten neunzig Minuten bringen sollen.
Eine stark geschminkte Frau in Hosen, die so eng sind, dass sie sich vermutlich eine Blasenentzündung holen wird, stöckelt an mir vorbei. Da wird wohl eine Preiselbeersaft-Infusion nötig …
»Sind Sie …?«, fragt sie und zeigt auf mein Namensschild, während sie versucht, ihre gebotoxte Stirn zu runzeln.
»Das ist ein Schreibfehler. Ich bin Alice Ray. Hi!«
»Ah! Wie schön. Sie nehmen an dem Podium teil, das ich moderieren werde.« Sie klatscht in die Hände, wobei sich ihre Finger nicht berühren.
Merkwürdig …
»Ah, toll.« Sprich mit ihr, ermahne ich mich selbst, sag mehr. Schnell. Unterhalte dich so wie normale Leute. »Ähmmm …« Ich suche fieberhaft nach einem Gesprächsthema. »Ist das da drüben Spritzgebäck?«
Großartig, wie ich die Leute immer mit meinem umwerfenden Charme und meinem Talent für Smalltalk bezaubere …
»Äh, nun, ja. Nehmen Sie sich bitte.«
»Danke, gern.« Ich werde es nicht tun. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich Spritzgebäck zu mir nehme, ist in etwa so hoch wie die, dass ich den Teller, auf dem es liegt, esse.
Ich esse keinen Zucker, zumindest offiziell nicht. Und kein Brot. Keine Kartoffeln. Keine Nudeln. Keinen Reis. Keine Milchprodukte. Oder Transfette. Oder gesättigte Fette. Oder Fleisch. Unsere Eckzähne mögen dafür gemacht sein, Fleisch von den Knochen von Tieren zu reißen, aber ich habe in genug Mundhöhlen geschaut, um mich für den Rest meines Lebens vor dem Geruch von zwischen Zähnen steckendem, verrottendem Fleisch zu ekeln. Außerdem habe ich immer wieder gelesen, dass es die Verdauung träge macht, und für Trägheit habe ich keine Zeit. Egal, in welchem Bereich meines Lebens. Natürlich gibt es den einen oder anderen Aussetzer. Da wäre der Viertelpfünder letzten Monat … aber es war dunkel, und die Kinder waren nicht dabei. Und wenn man es im Auto isst und keiner dabei ist, dann zählt es nicht. Das weiß doch jeder. Das ist meine bevorzugte Art zu essen: mit einer ordentlichen Portion Scham.
»Also gut. Es war schön, Sie kennenzulernen«, sagt die Preiselbeerhose und reißt mich damit aus meinen Gedanken.
»Wunderbar«, antworte ich mit einem Nicken.
Sie legt den Kopf schräg...
Erscheint lt. Verlag | 30.9.2019 |
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Sprache | deutsch |
Original-Titel | Gone Viking |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 20. - 21. Jahrhundert • Achtsamkeit • Dänemark • Ehe • England • Familie • Frauenromane • Geschwister • Humor • hygge • Inspirational • Krebs • Lachen • Liebe • Schwester • Selbstfindung • Tod • Verlust • Wald • Wikinger |
ISBN-10 | 3-7325-7263-3 / 3732572633 |
ISBN-13 | 978-3-7325-7263-2 / 9783732572632 |
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