Drosselbrut (eBook)
496 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45315-5 (ISBN)
Andreas Gößling, 1958 in Gelnhausen geboren, lebt als Schriftsteller und Verleger in Berlin. Der Germanist, Politik- und Kommunikationswissenschaftler hat zahlreiche Romane und Sachbücher für erwachsene und junge Leser publiziert. Die True-Crime-Thriller 'Zerschunden', 'Zersetzt' und 'Zerbrochen' zusammen mit Michael Tsokos waren allesamt Top-Ten-Bestseller auf der Spiegel-Liste. 'Rattenflut' ist der dritte und abschließende Teil seiner mit 'Wolfswut' und 'Drosselbrut' gestarteten True-Crime-Reihe.
Andreas Gößling, 1958 in Gelnhausen geboren, lebt als Schriftsteller und Verleger in Berlin. Der Germanist, Politik- und Kommunikationswissenschaftler hat zahlreiche Romane und Sachbücher für erwachsene und junge Leser publiziert. Die True-Crime-Thriller "Zerschunden", "Zersetzt" und "Zerbrochen" zusammen mit Michael Tsokos waren allesamt Top-Ten-Bestseller auf der Spiegel-Liste. "Rattenflut" ist der dritte und abschließende Teil seiner mit "Wolfswut" und "Drosselbrut" gestarteten True-Crime-Reihe.
Dienstag, 16. Juni
Unbekannter Ort, Zellentrakt
Paula Nieburg ist halbwach und doch noch tief in ihrem Traum. Wie kann das sein? Sie liegt im Bett, aber es ist nicht ihres, sondern das Bett aus dem Traum. Hart wie Stein. Und da sitzt auch der Mann, auf dem Stuhl neben ihr. Genau wie im Traum.
Sie hat geweint, fällt ihr ein, aber warum? Sie ist so müde, so schwach, sie kann ihre Gedanken nicht festhalten. Wieso ist sie wach und doch noch in ihrem Traum?
Der Mann sitzt einfach da und schaut sie an. Er trägt ein Holzfällerhemd und fleckige Jeans. Er ist dicklich, hat fettige schwarze Haare und riecht nach Schweiß. Hinter den Brillengläsern sind seine Augen nur undeutlich zu erkennen. Er wirkt verdrossen, wie jemand, der sich ständig ins Unrecht gesetzt fühlt.
Wie so viele Männer in ihrem Leben, denkt Paula. Mamas Lover. Der gleiche Typus. Aber wieso ist der jetzt hier? Wo bin ich hier?
»Ich muss hier weg«, sagt Paula. Oder hat sie den Satz nur gedacht? Der Mann sieht sie so mürrisch an wie vorher. Als hätte er sie nicht gehört. Aber sie hat es sowieso zu sich selbst gesagt. Als Trick, um sich aus dieser unheimlichen Halb-und-halb-Welt herauszuziehen. Halb Traum, halb Wirklichkeit.
Sie versucht aufzustehen, aber ihr Körper gehorcht ihr nicht. Sie kann nicht einmal die dünne Decke packen und wegstreifen. Doch das ist auch besser so, wird ihr plötzlich klar. Sie ist nackt. Und sie will auf keinen Fall, dass der Mann sie so sieht.
Warum habe ich nichts an? Panik jagt in ihr hoch. Sie mag es nicht, nackt zu sein. Nicht mal, wenn sie allein ist. Das hat sie noch nie gemocht, schon als kleines Mädchen nicht. Da schon gar nicht. Aber die Angst flaut gleich wieder ab. Sie ist für alles zu schwach, auch für Panik. Was ist los mit mir? Bin ich krank?
Die Augen zumindest kann sie bewegen. Sie dreht sie nach links und rechts, sieht sich im grauen Raum um. Ventilatoren surren leise in der Wand über ihr. Der kleine Tisch und der Stuhl, auf dem der Mann sitzt, sind so grau wie Wände, Decke und Boden. Weiter hinten gibt es eine Nasszelle. Dusche, Waschbecken, Klo, alles aus Metall wie auf den Rastplätzen an der Autobahn.
Oder wie im Gefängnis. Aber das ergibt keinen Sinn. Doch dann fällt ihr Blick auf die Tür rechts von ihr. Eine Eisentür, ohne Klinke, dafür mit einem vergitterten kleinen Fenster. Also bin ich hier doch im Gefängnis? Aber wieso denn? Was ist nur passiert?
Schemenhaft sieht sie Bilder vor sich, wie Puzzlestücke, die auf einem See treiben. Sie läuft im Wald herum, steigt aus einem Zug, fährt mit dem Fahrrad. Sie presst sich gegen eine Hecke, um ein Auto vorbeizulassen. Wann war das? Im Traum oder wirklich? Und was hat das mit dem hier zu tun? Paula müht sich ab, aber sie kriegt die Splitter nicht zusammengesetzt. Der Fahrer von diesem Wagen im Wald, war das der Mann hier auf dem Stuhl? Sie quält sich mit den Bildern herum, schließlich schläft sie wieder ein.
Als sie erneut erwacht, sitzt der Mann wieder auf dem Stuhl. Sie ist schon ein paarmal so aufgewacht, wird ihr klar. Genau wie jetzt, in diesem grauen, fensterlosen Raum, und manchmal war der Mann bei ihr, manchmal war sie allein. Wie ist sie nur hierhergeraten?
Das kann doch alles nicht wahr sein, denkt Paula. Ich bin immer noch im Traum und träume nur ab und zu, ich wäre wach.
Der Mann beugt sich vor, stützt die Unterarme auf die Oberschenkel. Ruhig sieht er sie an, ohne ein Wort zu sagen, ohne einen Gesichtsmuskel zu bewegen. Als wäre Paula ein Insekt, das er gleichgültig betrachtet. Einmal hat er sie gewaschen, fällt ihr plötzlich ein. Sie krümmt sich vor Ekel. Ist das echt passiert? Ja, er hat sie angefasst. Ihre Haut erinnert sich, ihre Nervenenden. Mit einem nassen Lappen hat er auf ihr herumgewischt, mit einem Schwamm ihr Flüssigkeit in den Mund getropft.
Nicht so schlimm, denkt Paula. Das war alles nur im Traum. Sie schließt die Augen. Sie wünscht sich so sehr, in ihrem Zimmer aufzuwachen, in ihrem altersschwach ächzenden Bett, von dem aus sie die Platane im Hinterhof sieht. Aber als sie die Augen wieder aufmacht, ist sie in dem grauen Raum ohne Fenster, und auch der Mann ist immer noch da.
Sein Gesicht dicht über ihrem. Er riecht aus dem Mund. Auf der Nase hat er Nester aus entzündeten Pusteln. »Offiziell bist du schon tot«, sagt er und streicht ihr eine Strähne aus der Stirn. »Aber wenn du kooperierst, lasse ich dich ein bisschen leben.«
Berlin-Tiergarten, LKA-Gebäude, Büro Hallstein
Acht Uhr früh, Hallstein sitzt an ihrem Schreibtisch im LKA. Sie hat kaum drei Stunden geschlafen, doch als sie um halb sieben wach wurde, waren sofort wieder hundert Fragen in ihrem Kopf. Was war in dem Plastiksack, was ist auf den Datenträgern, wer sind die Opfer sechs, sieben, acht, wo hat Budike den Pythondildo her, wie ist er an den Security-Auftrag rangekommen, welche Verbindung besteht zwischen SecDel und dem thailändischen Investor? Lou war schon wieder weg, und in ihrem Kopf ratterte das gleiche Karussell wie gestern. Kein Gedanke mehr an Schlaf.
Sie ist übernächtigt, fühlt sich aber topfit. Einen Durchhänger kann sie gerade jetzt auch überhaupt nicht brauchen.
Um fünf muss sie bei Franka Fundlandt vorsingen: Ermittlungsstand im Enkelinnen-Kidnapper-Fall. Die Chefin wird wie üblich Druck machen, damit sie die Sache möglichst umgehend abschließen. ›Täter gefasst, Geisel frei, was wollen Sie mehr?‹ Hallstein hat FFs Predigt schon im Ohr. Und ihr Doggenprofil vor Augen. ›Sechsfacher erpresserischer Menschenraub in Tateinheit mit besonders schwerer Vergewaltigung, damit nagelt ihn die Staatsanwaltschaft fest. Budike kriegt lebenslänglich, wahrscheinlich mit Sicherungsverwahrung. Mehr geht nicht, Hallstein, also lassen Sie es gut sein. Länger rumzustochern und ihm weitere Fälle nachzuweisen wäre bloße Ressourcenvergeudung. Und die können wir uns nicht leisten.‹
Da ist was dran, das weiß Hallstein natürlich auch. Seit Monaten wird die Stadt von Gewaltexplosionen erschüttert. Tötungsdelikte auf offener Straße sind fast schon normal. In Stadtteilen, die vor Kurzem noch als gutbürgerlich galten, werden Passanten am helllichten Tag niedergestochen und ausgeraubt. Oder über den Haufen gefahren, je größer der Haufen, desto besser. Schwerkriminelle Strukturen liefern sich epische Schlachten um die Vorherrschaft in so lukrativen Geschäftszweigen wie Drogenhandel, Waffenschmuggel und Prostitution. Einem »überführten Einzeltäter« ein paar Fälle mehr anzuhängen zählt vor diesem Hintergrund tatsächlich nicht zu den dringendsten Aufgaben des LKA.
Nur geht es hier nicht um einen isolierten Psychopathen mit hörigem Anhängsel, denkt Hallstein. Sondern um sehr viel mehr. Aber das darf sie nicht mal andeuten, sonst zieht die Fundlandt sie von dem Enkelinnen-Fall ab. Dafür müsste sie erst mal harte Beweise finden, dass hinter der Kidnapping-Welle ein perverses Netzwerk steckt. Mutmaßlich dieselbe Bruderschaft, die auch ihren Bruder Tobias und dessen Kumpan Alex Soltau über Jahrzehnte hinweg für ihre sinistren Zwecke eingespannt hatte. Solche Beweise kann sie noch nicht liefern. Also muss sie die Sache anders angehen.
Hallstein springt von ihrem Stuhl auf, geht zwischen ihrem und Max’ Schreibtisch hin und her. Zack, zack, wie ein Wachsoldat. Alte Angewohnheit, die sofort wieder da war, als sie nach ihrer Auszeit zurückkam.
Der Enkelinnen-Fall darf auf keinen Fall geschlossen werden, das ist ihr Minimalziel beim Date mit der Chefin. Im Gegenteil, sie braucht einen Hebel, um die Ermittlungen auszuweiten. Seit Ende Februar sind in Berlin mindestens fünf junge Frauen spurlos verschwunden. Offiziell werden sie nur als Vermisstenfälle geführt, weil nach ersten Ermittlungen alles so aussah, als hätten sie freiwillig ihr altes Leben abgestreift wie ein aus der Mode gekommenes Kleid. »Die sind auf Selbstbefreiungstrip, Hallstein, angefixt von dieser Online-Kampagne für junges Obst. Befrei dich! Schon mal davon gehört? Du bist nicht mehr ganz die Zielgruppe, aber könnte ja sein.« So der Kollege aus dem Vermisstendezernat, Markus Marks, alias Mark-Mark, von dem sie regelmäßig Updates zum Vermisstenregister bekommt. Er ist in ihrem Alter, seinen Denk- und Bewegungsmustern nach aber eher sein eigener Großvater. Normalerweise schießt Hallstein volles Rohr zurück, wenn irgendwer über ihren vermeintlichen Jugendwahn, ihr angeblich nicht altersadäquates Verhalten et cetera lästert. Mark-Marks Frotzeleien aber lässt sie über sich ergehen, große Ausnahme. Sie braucht ihn, also muss sie mitspielen, und meistens respektiert er ihre roten Linien.
Die fünf vermeintlichen Selbstbefreierinnen, denkt Hallstein und marschiert weiter hin und her. Bekennende Follower der »Befrei dich!«-Kampagne – und spurlos verschwunden. Natürlich darf sie gegenüber der Chefin nicht durchblicken lassen, dass sie diese jungen Frauen als weitere Opfergruppe betrachtet, mit den Enkelinnen in einigen Punkten absolut vergleichbar. Die Enkelinnen sind zwischen dreizehn und sechzehn, die vermeintlichen Selbstbefreierinnen achtzehn bis dreiundzwanzig. Die Jüngste von ihnen, Jessica Milow, wurde sogar erst einige Wochen nach ihrem Verschwinden volljährig. Falls sie ihren Geburtstag noch erlebt hat. An den Rändern ist der Altersabstand zwischen beiden Gruppen also gering.
Auffällig außerdem, dass beide Serien fast gleichzeitig begonnen haben. Die erste Enkelin, Evy Kalasch, wurde Anfang Februar entführt, die erste der vermeintlichen Selbstbefreierinnen Ende desselben Monats vermisst gemeldet. Wobei die Chefin und...
Erscheint lt. Verlag | 27.3.2019 |
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Reihe/Serie | Die Kira Hallstein-Serie |
Die Kira Hallstein-Serie | |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Berlin • Berlin-Krimi • Berlin-Thriller • blutiger Thriller • Bunker • Echte Kriminalfälle • entführte junge Frauen • Entführungen • Ermittlerin • Ermittler-Thriller • Fall Dutroux • harte thriller • Kidnapping • Kira Hallstein • Kommisarin • Polizei Krimis/Thriller • Psychopath • Serienkiller • Serienmörder • Sex-Killer • Thriller Action • Thriller Berlin • Thriller deutsche Autoren • Thriller Deutschland • thriller entführung • Thriller Neuerscheinungen 2019 • Thriller-Reihe • Thriller-Serie • Thriller Serienkiller • True Crime • True Crime Bücher • True Crime Bücher deutsch • True crime Thriller • Tsokos • wahre Fälle • Wahre GEschichte • Wahre Kriminalgeschichte • Wahrer Fall • Wahrer Kriminalfall • Wolfswut |
ISBN-10 | 3-426-45315-0 / 3426453150 |
ISBN-13 | 978-3-426-45315-5 / 9783426453155 |
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