Der Klavierspieler vom Gare du Nord (eBook)
352 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491123-6 (ISBN)
»In keinem anderen Buch steckt so viel von mir«, sagt Gabriel Katz über den »Klavierspieler vom Gare du Nord«, seinem ersten literarischen Roman. Zuvor hat er zahlreiche Fantasy-Romane und Drehbücher geschrieben. Gabriel Katz lebt in Anières-sur-Seine bei Paris.
»In keinem anderen Buch steckt so viel von mir«, sagt Gabriel Katz über den »Klavierspieler vom Gare du Nord«, seinem ersten literarischen Roman. Zuvor hat er zahlreiche Fantasy-Romane und Drehbücher geschrieben. Gabriel Katz lebt in Anières-sur-Seine bei Paris. Anne Thomas lebt seit 2013 als freie Übersetzerin aus dem Englischen und Französischen in Paris und Berlin. Sie dolmetscht bei Lesungen, übersetzt im Kulturbereich und arbeitet an poetischen, spielerischen Texten wie ›Paris Toujours‹ von Yimeng Wu, ›Papa ist doch kein Außerirdischer!‹ von Anna Boulanger und ›Mary Poppins. Auf und davon...‹ von Hélène Druvert. Eva Scharenberg, geboren 1989, studierte Germanistik und Romanistik in Bonn und Literaturübersetzen in Düsseldorf und übersetzt seit 2014 aus dem Englischen, Französischen und Schwedischen. Zuletzt übersetzte sie Violaine Huisman, Shenaz Patel, Octave Mirbeau, Arthur Conan Doyle, Ann-Marie Ljungberg.
Der Autor lässt seine Helden sehr überzeugend agieren und den Leser die besondere Faszination fürs Musizieren miterleben.
1
Ich mag keine Menschenmengen. Ich habe Menschenmengen noch nie gemocht. Ich bin keiner von denen, die sich in Stadien quetschen oder sich auf Terrassen zusammenscharen, um im Mief von Schweiß und Abgasen in der Sonne zu braten. Und niemand, der sich den Gare du Nord zur schlimmsten Tageszeit antut, doch man kann dem nicht immer entgehen. Paris ist eine sonderbare Stadt, die ständig zwischen Paradies und Hölle pendelt, doch wenn man die Maschinerien zähmt, kommt man eigentlich ganz gut zurecht. Man muss die Schleichwege kennen, die Schlupflöcher, die Gässchen. Die Flut meiden. Die Hauptverkehrsstraßen umgehen. Die Zeit im Auge behalten. Keinen Termin bei seinem Psychiater zu der Zeit ausmachen, wenn ganze Banlieues scharenweise auf die Abendzüge stürmen. Alles, damit ein Freudianer mit übereinandergeschlagenen Beinen, undurchdringlich wie ein Mönch, meine Misserfolge mit einem Kopfnicken bestätigt. Ich frage mich wirklich, warum ich meine Zeit mit diesem Typen verschwende.
Sich ein Taxi zu nehmen, ist übrigens die beste Methode, um eine Stunde im Stau zu sitzen, für fünfzig Euro, untermalt von Radio Nostalgie. Das halte ich nicht aus. Da fahre ich immer noch lieber Métro und ringe im Dunst kalter Zigaretten zwanzig Minuten um frische Luft.
Eine graue Masse, unförmig und disharmonisch, drängelt sich auf den Bahnsteigen, gafft und tritt von einem Fuß auf den anderen. Ich schlängle mich durch. Ich gebrauche die Ellbogen. Bemühe mich gar nicht erst, auf die Gesichter zu achten, die sich verwischen. Wie alle Pariser schaue ich die Leute an, ohne sie zu sehen. Wir sind nur Hindernisse in einer bewegten Szenerie, wo jeder sich beeilt, dem anderen auszuweichen.
Drei Soldaten auf Patrouille schauen finster drein und drehen sich nach mir um, als hätte ich eine Bombe. Ich schätze, mit meiner Hornbrille, meinem grauen, taillierten Mantel, meiner Umhängetasche aus Rohleder und meinen an diesem Morgen polierten Schuhen sehe ich wohl aus wie ein Terrorist. Ich habe mich immer gefragt, warum sie einen Kampfanzug in den Farben des Dschungels tragen müssen, um auf einem Bahnsteig auf- und abzugehen.
Ein Anflug von Schwindel zwingt mich, einen Augenblick stehenzubleiben und tief durchzuatmen. Die Erschöpfung, die Schlaflosigkeit, meine Schultern sind schwer. Ich schließe die Augen. Ich werde überholt, angerempelt, während ich aus meinen Reserven schöpfe, um gegen die Müdigkeit anzukämpfen. Geschützt hinter meinen geschlossenen Augenlidern, klinke ich mich mitten in der Menschenmenge aus. Und das danteske Tosen des Bahnhofs stürmt auf mich ein, dröhnt in mir wie ein Erdbeben. Das metallische Kreischen der Züge vermischt sich mit dem Summen der Menschenmenge, Handyklingeln, Rufen, Lachen, Hektik, die Stimme, die die Reisenden aus Paris–Lille aufruft, sich auf Gleis 17 zu begeben. Dann ein Ton. Und noch einer. Und wieder einer. So vertraut, dass ich beinahe glaube, es wäre eine innere Stimme. Es fühlt sich an, als würde ich einen alten Freund wiedertreffen, und es fühlt sich nicht nur so an, denn mit Bach habe ich angefangen, noch bevor ich schreiben konnte. Präludium und Fuge Nr. 2 in c-Moll.
Ich öffne die Augen wieder.
Die Töne folgen aufeinander, fließend, sanft und ruhig wie ein Fluss, und ich höre nur noch sie. Ich folge ihrer Fährte, schwimme gegen den Strom der Masse. Das kann nicht sein, denke ich, nein, das kommt vom Band. Niemand kann so auf einem Bahnhofsklavier spielen. Ich bin hier hundertmal vorbeigekommen und hörte Möchtegern-Klaviervirtuosen stümperhaft einen Abklatsch von Michel Berger spielen. Dieses Stück habe ich Dutzende Schüler verschandeln hören, ohne jemals erleuchtet zu werden. Berufsmusiker hämmerten es, als wäre das Klavier ein Amboss.
Der Klavierspieler ist ein Junge von zwanzig Jahren, er trägt eine Kapuzenjacke, ein Rucksack steht zu seinen Füßen. Ein Blondschopf mit zerzausten Haaren, die Augen geschlossen, und seine Finger huschen mit fliegender Gewandtheit über die Klaviertasten. Ohne Noten. Ich stehe einfach nur da und schaue ihm zu, ich kann es nicht fassen, frage mich, wie er es schafft, sich mit seinen riesigen Turnschuhen nicht in den Pedalen zu verheddern. Und ich lauere. Instinktiv. Ich lauere auf den Fehler, den Fehlgriff, den falschen Ton, den Ausrutscher. Nein, er spielt nicht perfekt. Eigentlich nicht. Nicht im technischen Sinne. Aber er reißt mich mit, hindert mich daran, zu filtern, zu beurteilen, sein Spiel in Worte zu fassen. Meinerseits die Augen schließend, nehme ich nur noch einen Gebirgsbach wahr, Wolken, die schnell über einen Gewitterhimmel ziehen, und die Ergriffenheit, die mir die Kehle zuschnürt.
Plötzlich reißt der Strom ab. Ein Ton hängt in der Luft, ein Rest, der fehlt, der Bahnhofslärm setzt wieder ein. Eine Stimme ruft: »He, du!«, und der Junge springt auf, schnappt sich seine Tasche. Flüchtig treffen sich unsere Blicke. Dann sucht er das Weite, während drei Polizisten sich einen Weg durch die Menge bahnen.
»Aus dem Weg! Polizei!«
Ohne mich einen Millimeter von der Stelle zu rühren, beobachte ich, wie sie sich an seine Fersen heften, während er schon in der Menge verschwindet. Einen Moment lang erkenne ich noch seine blonden Haare und seinen grauen Rucksack, dann rennt er eine Treppe hinunter zur Métro, stürzt fast über die Leute. Zwei Polizisten sind ihm nachgelaufen, während ein dritter stehenbleibt, um etwas in sein Walkie-Talkie zu brüllen.
Ich habe das Gefühl, aus einem Traum aufzuwachen.
»Was hat er denn angestellt?«, fragt eine alte Dame, die sich an ihre Handtasche klammert.
»Ich weiß es nicht, Madame.«
»Hat er Ihnen etwas gestohlen?«
»Nein.«
Sie seufzt.
»Trotzdem … Nirgendwo ist man mehr sicher.«
Die Schaulustigen gehen weiter, die Alte zieht ab und schimpft auf diese traurigen Zeiten, und ich stehe da, fixiere die Stelle, wo der Junge verschwunden ist. Als könnte er zurückkommen, um die letzten Noten seines unvollendeten Stücks zu spielen. Zwei Mädchen haben sich an das Klavier gesetzt, jede mit halbem Hintern auf dem Hocker, um vierhändig eine grauenhafte Interpretation von Let It Be zum Besten zu geben. Niemand würde sich wundern, wenn die Polizei es auf sie abgesehen hätte.
»Hörst du mir zu?«
Nein, sie hört mir nicht zu. Mathilde hört mir schon seit langer Zeit nicht mehr zu, nicht so richtig, vielleicht mit halbem Ohr. Ihr Blick, verloren zwischen zwei Kissen, ist auf die Falten des Sofas geheftet.
»Entschuldige. Was hast du gesagt?«
»Nichts … Ich habe vorhin am Bahnhof ein kleines Wunder erlebt.
»Aha.«
»Eine erstaunliche Feinsinnigkeit. Außergewöhnlich.«
Sie nickt, bemüht sich, ihr Desinteresse zu verbergen, doch dafür kenne ich sie zu gut. Gut genug, dass ich ihr den Rest meiner Geschichte erspare, mit der sie nichts anfangen kann. Unsere Gespräche sind hoffnungslos banal geworden, so dass sie über das Zweckdienliche hinaus gar nicht mehr stattfinden. Denk dran, die Putzfrau zu bezahlen. Die Halogenlampe auszuwechseln. Den Nachbarn den geliehenen Parkausweis zurückzugeben. Genau das, was uns nie passieren würde, das hatten wir uns geschworen. Nicht uns. Nicht so.
Wie jeden Abend scheint mir die Wohnung zu groß, zu kalt, zu leer. Ich kann kaum glauben, dass wir hier vor noch gar nicht allzu langer Zeit glücklich waren, in dieser Theaterkulisse, wo alles seinen festen Platz hat. Die Sofas, die Beistelltische, die Lampen mit den Kupfer-Ständern, die Eiffel-Stühle, das Klavier. Alles in getrübten Farbtönen. Mausgrau. Taupe. Und die Bibliothek natürlich. Eine vernünftige Mischung aus klassischer und zeitgenössischer Literatur, ein paar antike Werke, einige Bildbände, Mainstream und Kontroverses. Jetzt, wo sie nur noch eine leere Hülle ist, scheint mir diese Wohnung künstlich und hohl wie ein Schauraum bei Ikea. Nur, dass die Möbel keine unaussprechlichen Namen haben, sie stammen aus dem Conran Shop, dem Louvre des Antiquaires oder dem Haus meines Vaters. Ich habe lange geglaubt, dass dieser Ort mir entspricht. Doch das tut er nicht. Vielleicht bin ich ja auch derjenige, der sich verändert hat.
»Hast du Hunger?«
Ich stelle diese Frage aus Prinzip, auch wenn ich die Antwort darauf kenne – möge der Tag nie kommen, an dem ich sie nicht mehr stelle.
»Nein. Ich esse später zu Abend.«
Ich stehe auf, überlasse sie der Betrachtung der Falten im Sofa, um allein in die Küche zu gehen, die so auf Hochglanz poliert ist, dass mein Spiegelbild mir bis zum Kühlschrank folgt. Er ist fast leer, ein Rest Schafskäse, zwei Scheiben Putenschinken. Ich lege sie auf die Anrichte aus gebürstetem Metall, dorthin, wo wir uns, wenn wir aus dem Theater kamen, über riesige Käseplatten hermachten. Noch mehr Erinnerungen werden wieder lebendig, ich weiß nicht, warum heute, vielleicht wegen dieses namenlosen Klavierspielers, der verdrängte Gefühle geweckt hat … Dieser Tisch hat noch andere Sinnenfreuden gesehen als den Löffel im Vacherin, Umarmungen, die mir heute so weit weg scheinen, dass ich hundert Jahre alt sein könnte. Hier haben wir voller Leidenschaft gevögelt. Wir zogen uns aus, fiebrig, stürmisch, in den Scherben eines zerbrochenen Tellers. Wir verschlangen uns gegenseitig.
Das Einzige, was von dieser Zeit übrig ist, ist der Keller, aus dem ich jeden Tag Flaschen heraufhole, die wir für besondere Gelegenheiten aufgehoben haben. Jetzt gibt es keine besonderen Gelegenheiten mehr, also trinke ich allein, um diesen kleinen Rest an Freude aufzuspüren und damit diese Nuits-Saint-Georges nicht bis in alle Ewigkeit...
Erscheint lt. Verlag | 26.6.2019 |
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Übersetzer | Anne Thomas, Eva Scharenberg |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | alt und jung • Anspruchsvolle Literatur • Banlieue • Chance • chancenlos • Die Wütenden • einander brauchen • Jugendgang • Klavier • Klavierwettbewerb • Konservatorium • Kriminell • Ladj Ly • Les Misérables • Musik • Musikhochschule • Pakt • Paris • Professor • schiefe Bahn • Sex • strenge Lehrerin • Talent • Ungewöhnliche Freundschaft • Vater-Sohn Beziehung • Vater und Sohn • Verlust • Victor Hugo • witzige Dialoge • Ziemlich beste Freunde |
ISBN-10 | 3-10-491123-1 / 3104911231 |
ISBN-13 | 978-3-10-491123-6 / 9783104911236 |
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