Verbrannte Wörter (eBook)

Wo wir noch reden wie die Nazis - und wo nicht
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
224 Seiten
Duden (Verlag)
978-3-411-91277-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Verbrannte Wörter -  Matthias Heine
Systemvoraussetzungen
13,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
'Asozial', 'Bombenwetter', 'entartet' oder 'Volk' - nicht wenige deutsche Begriffe sind im öffentlichen Sprachgebrauch verpönt, weil sie mit der ideologisch und propagandistisch aufgeladenen Rhetorik der Nationalsozialisten in Verbindung gebracht werden. Trotzdem tauchen sie gelegentlich in unserer Alltagssprache auf. Spätestens aber seit in der aufgeheizten politischen Debatte verstärkt sprachliche Grenzen ausgereizt und Tabus gebrochen werden, stellt sich wieder die Frage, welche Wörter man benutzen darf, ohne an die NS-Ideologie anzuknüpfen. Der Journalist, Historiker und Linguist Matthias Heine setzt sich deshalb mit der Sprache der Nazis auseinander und geht dazu konkret auf etwa 80 Begriffe näher ein. Manche, etwa 'Eintopf', dürften dabei überraschen. Umgekehrt zeigt sich, dass nicht alles in die Nazi-Schublade gehört, was wir dort hineingepackt hätten. Informativ und anschaulich bietet Heines Buch wertvolle Orientierung auf einem heiklen Terrain.

Matthias Heine, 1961 geboren, arbeitet als Journalist in Berlin. Von 1992 an hat er u. a. für 'Die Welt', 'Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung', 'taz', 'Cicero', 'Neon' und 'Theater heute' geschrieben und Radiobeiträge für den NDR und den SFB/RBB produziert. Seit 2010 ist er Kulturredakteur der 'Welt'. Zuletzt erschienen von ihm 'Seit wann hat 'geil' nichts mehr mit Sex zu tun?'(2016) und 'Letzter Schultag in Kaiser Wilhelmsland' (2018).

Matthias Heine, 1961 geboren, arbeitet als Journalist in Berlin. Von 1992 an hat er u. a. für "Die Welt", "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung", "taz", "Cicero", "Neon" und "Theater heute" geschrieben und Radiobeiträge für den NDR und den SFB/RBB produziert. Seit 2010 ist er Kulturredakteur der "Welt". Zuletzt erschienen von ihm "Seit wann hat 'geil' nichts mehr mit Sex zu tun?"(2016) und "Letzter Schultag in Kaiser Wilhelmsland" (2018).

Absetzbewegung

Das Wort ist in seiner heutigen Bedeutung »Flucht, Rückzug, Distanzierung« eine Schöpfung der Wehrmachtberichte des Zweiten Weltkriegs. Diese wurden von der Abteilung Wehrmachtpropaganda unter der Leitung von Generalmajor Hasso von Wedel zusammengestellt, redigiert vom Chef des Wehrmachtführungsstabes Generaloberst Alfred Jodl und erst veröffentlicht, nachdem Hitler selbst sie freigegeben hatte. Nach der stets gleichbleibenden Ankündigung »Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt« wurden sie vom ersten Tag des Überfalls auf Polen im September 1939 bis zur Kapitulation im Mai 1945 in den Mittagsnachrichten des Rundfunks gesendet und von den Zeitungen abgedruckt.

Absetzbewegung wurde schon 1944 in das in den USA erschienene Wörterbuch »Nazi-Deutsch« aufgenommen. Nachdem das Wort absetzen schon seit um 1400 sehr vereinzelt im Sinne von »flüchten« gebräuchlich war, schufen die Verfasser der Wehrmachtberichte und ähnlicher Propagandaorgane das genannte Kompositum 1942, als der bis dahin schier ununterbrochene Vorwärtsdrang deutscher Armeen gestoppt wurde und sogar erste Rückzüge unvermeidlich waren. Nach der Niederlage in Stalingrad Anfang 1943 wurde die schönfärberische Vokabel dann häufiger nötig. So liest man im Herbst des Jahres in der Zeitschrift »Europäische Revue«: »Seit September findet im Mittel- und Südabschnitt eine planmäßige Absetzbewegung und großzügige Frontbegradigung statt.«

Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS (SD) meldeten allerdings schon Anfang 1944, die Rezipienten der Wehrmachtberichte hätten längst die Wahrheit hinter dem verschleiernden Wort und seinen Synonymen → Frontbegradigung, Frontverkürzung erkannt: »Die Stimmen zum Geschehen an der Ostfront sind denkbar pessimistisch. Im merkwürdigen Gegensatz zu den Berichten des OKW stehen die Erzählungen der Ostfronturlauber, in denen die Absetzbewegungen als reguläre Flucht beschrieben werden.«

Sowohl sich absetzen als auch Absetzbewegung werden nach 1945 in einem ganz unmilitärischen Sinne gebraucht, wobei im Falle des Verbs die Herkunft aus der NS-Propaganda noch mehr in Vergessenheit geraten ist.

Absetzbewegung und sich absetzen haben heute einen geradezu parodistischen Sinn, der die Kenntnis ihres verschleiernden Charakters voraussetzt, etwa wenn es heißt, ein Ehemann habe sich mit einer anderen Frau abgesetzt oder eine Partei in einer Regierungskoalition mache Absetzbewegungen. Sie können relativ unbedenklich gebraucht werden.

Achse

Das Wort Achse gehört zur ältesten Schicht des urindogermanischen Wortschatzes. Im Sanskrit gab es schon die Form akso, und ähnliche Wörter existieren in fast allen alten indogermanischen Sprachen, vom Altgriechischen bis zum Litauischen. Indogermanen haben vermutlich das Rad erfunden, indem sie das Prinzip der schon länger existierenden, sich um eine Achse drehenden Töpferscheibe auf erste primitive Wagenräder übertrugen. Man konnte archäologisch nachweisen, dass zwischen 3450 und 3300 v. Chr. im Bereich der Trichterbecherkultur, die in Nordostmitteleuropa ansässig war, frühe Techniker den bisher ältesten gefundenen Wagen konstruierten.

Die Bedeutung »politisch-militärisches Bündnis« hat das Wort wohl tatsächlich erst 1936 angenommen, als es der italienische Diktator Benito Mussolini am 1. November des Jahres in einer Rede prägte. Wenige Wochen nachdem Deutschland und Italien zugunsten der Anti-Republikaner unter General Franco im Spanischen Bürgerkrieg interveniert hatten, sagte er: »Diese Verständigung (…), diese Vertikale Berlin–Rom ist nicht eine Schnittlinie, sondern vielmehr eine Achse, um die die europäischen Staaten, die vom Willen der Zusammenarbeit und des Friedens beseelt sind, zusammenarbeiten können.« Allerdings hat später der NSDAP-Funktionär Hans Frank, der ein besonders enges persönliches Verhältnis zu Mussolini pflegte, behauptet, er habe den Ausdruck Achse Berlin–Rom schon im Sommer und Frühherbst 1936 bei Gesprächen in Rom mit dem Duce und dem Außenminister Graf Ciano benutzt.

Im Deutschen Historischen Museum zu Berlin befindet sich ein Wandbehang, der die Achse zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und dem faschistischen Italien sinnbildlich darstellt. Entstanden ist er in den Jahren zwischen 1936 und 1939. Darauf zu sehen sind auf der rechten Seite das Brandenburger Tor, das Berlin repräsentiert, und auf der linken Seite das Monumento Nazionale a Vittorio Emanuele II, das für die italienische Hauptstadt steht. Auf der Internetseite des Museums heißt es: »Beide Bauwerke sind perspektivisch einander zugewandt. Die symmetrische Achse zwischen Rom und Berlin bildet ein mit Fascis und Hakenkreuz dekorierter korinthischer Pilaster, dessen Sockel drei Medaillons zieren. Sie zeigen sinnstiftende Elemente des Nationalsozialismus und des Faschismus: rechts Nürnberg als Stadt der Reichsparteitage und des ›Meistersingers‹ Hans Sachs – Inbegriff ›deutscher‹ Kunst und Kultur, links Neapel als Ausgangsort des ›Marsches auf Rom‹ (Oktober 1922) und vermutlich Athene als Rückgriff auf die Antike. Dazwischen ein Abschnitt der Reichsautobahn als Raumachse, die die beiden Mächte verbinden sollte.«

1939 wurde die Achse zwischen Italien und Deutschland durch den sogenannten Stahlpakt zu einem Militärbündnis ausgeweitet. Am 27. September 1940 schlossen Japan, Deutschland und Italien den »Dreimächtepakt«. Seitdem gehörte auch Japan zu den Ländern, die mit dem seit den späten Dreißigerjahren aufgekommenen Begriff Achsenmächte bezeichnet wurden. Die Armeen der drei Länder hießen in inoffiziellen Berichten Achsenstreitkräfte.

Die Empörung im Juni 2017 über den damaligen österreichischen Außenminister Sebastian Kurz, der von einer »Achse der Willigen« mit Berlin, Wien und Rom sprach, bezieht sich auf diese faschistische Vorgeschichte. Wie aber das Beispiel Axis of Evil zeigt, mit dem US-Präsident George W. Bush 2002 Nordkorea, Iran und Irak bezeichnete, wird der Begriff im außerdeutschen Sprachraum wesentlich unbefangener gebraucht. 2010 schrieb beispielsweise »Le Figaro« von »un nouvel axe Paris-Berlin-Moscou«, einer neuen Achse Paris–Berlin–Moskau, die Nicolas Sarkozy, Angela Merkel und Präsident Dimitrij Medwedjew begründet hätten.

Nicht jeder, der das Wort Achse für eine politische Verbindung benutzt, ist ein Nazi. Aber wie Sebastian Kurz mit seiner »Achse der Willigen« zeigt, gibt es Bereiche, in denen man besser zweimal überlegen sollte, ob der Ausdruck angemessen ist.

Aktion

Im NS-Sprachgebrauch war das Wort eine allgegenwärtige Vokabel zur Bezeichnung von Gewalttaten militärischer oder staatsterroristischer Natur, aber auch für Propagandakampagnen und für Maßnahmen zur Mobilisierung der Bevölkerung. Klemperer schreibt dazu: »Aktion gehörte von Anfang bis zum Schluß zu den unverdeutschten und unentbehrlichen Fremdwörtern der LTI, Aktion verband sich mit den Erinnerungen an die heroische Frühzeit, mit dem Bilde des Stuhlbeinkämpfers (…).« Die als → Euthanasie verbrämten Morde an Behinderten, Kranken und anderen Unerwünschten wurden Eu-Aktion beziehungsweise E-Aktion oder auch einfach nur Aktion genannt.

Am 10. November 1938 nannte Goebbels die in der Nacht zuvor stattgefundenen Pogrome Vergeltungsaktionen und Demonstrationen und Aktionen gegen das Judentum. Auch in parteiinternen Dokumenten und den SD-Meldungen wurden die Geschehnisse als Aktion/Aktionen gegen die Juden, spontane Aktion, Novemberaktion oder Judenaktion bezeichnet.

Nach Beginn des Massenmords an den europäischen Juden gehörte Judenaktion schließlich zu den »Verständigungsvokabeln« (so nennt es Cornelia Schmitz-Berning) der Täter. Aus Auschwitz ist bezeugt, dass Sonderaktion wie → Sonderbehandlung eines der Hüllwörter für die Tötung von Lagerinsassen war. Rekrutierungsmaßnahmen für den militärischen Arm der SS wurden als Waffen-SS-Aktion oder als Aktion der Waffen-SS bezeichnet.

Auch Zwangsmaßnahmen gegen andere Unliebsame wurden als Aktionen bezeichnet. So ordnete Reinhard Heydrich am 4. Juni 1941 in einem Schnellbrief an alle Staatspolizei- und Kripostellen für den 9. Juni eine »Aktion gegen Geheimlehren und sogenannte Geheimwissenschaften« an, bei denen neben Okkultisten, Wahrsagern und Gesundbetern auch Anthroposophen, Christliche Wissenschaftler, Theosophen und sogar Ariosophen verhaftet wurden.

Harmloser waren die zahlreichen Aktionen, mit denen die Nationalsozialisten das Volk in permanenter Bewegung hielten. Ein besonders blumiges Beispiel aus der Kriegszeit ist die Aktion Kinderbilder an die Front der NSDAP-Ortsgruppe Baden bei Wien, bei der 1943 Mütter und Kinder aufgefordert wurden, den Vätern im Kriegseinsatz selbst gemalte Bilder zu schicken.

Angesichts der verhängnisvollen Rolle, die das Wort bei der Vernichtung von Behinderten und Juden gespielt hat, könnte es befremden, dass eine Organisation zur Förderung von Behindertenprojekten Aktion Mensch (früher Aktion Sorgenkind) heißt und sich ein ursprünglich von der Evangelischen Kirche initiiertes Freiwilligenprogramm für Arbeitseinsätze in Ländern, die besonders unter der NS-Herrschaft gelitten haben, Aktion Sühnezeichen nennt. Aber es ist auch ein Zeichen dafür, dass selbst belastete Wörter wieder frei werden...

Erscheint lt. Verlag 18.3.2019
Reihe/Serie Duden - Sachbuch
Duden-Sachbuch
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Alltagsprache • Demokratie • Deutsch • Drittes Reich • Faschismus • Geschichte • Gesellschaft • Holocaust • Klemperer • Kultur • LTI • Nationalsozialismus • Nazis • Nazisprache • Parlament • Politik • Propaganda • SPD • Sprache • Sprachgebrauch • Sprachgeschichte • Sprachverrohung • Totalitarismus
ISBN-10 3-411-91277-4 / 3411912774
ISBN-13 978-3-411-91277-3 / 9783411912773
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Ohne DRM)
Größe: 2,3 MB

Digital Rights Management: ohne DRM
Dieses eBook enthält kein DRM oder Kopier­schutz. Eine Weiter­gabe an Dritte ist jedoch rechtlich nicht zulässig, weil Sie beim Kauf nur die Rechte an der persön­lichen Nutzung erwerben.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens

von Carlo Masala

eBook Download (2022)
C.H.Beck (Verlag)
12,99
Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens

von Carlo Masala

eBook Download (2022)
C.H.Beck (Verlag)
12,99
Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles …

von Helen Pluckrose; James Lindsay

eBook Download (2022)
C.H.Beck (Verlag)
16,99