Drang nach Osten (eBook)
394 Seiten
Weissbooks Verlagsgesellschaft
978-3-86337-138-8 (ISBN)
Artur Becker, geboren 1968 als Sohn polnisch-deutscher Eltern in Bartoszyce (Masuren), lebt seit 1985 in Deutschland, heute in Verden an der Aller. Er ist Romancier, Lyriker und Essayist. Nach 'Die Zeit der Stinte' (dtv 2006) und 'Das Herz von Chopin' (Hoffmann und Campe 2006) veröffentlichte er 2008 'Wodka und Messer. Lied vom Ertrinken' bei weissbooks.w. Im März 2009 erhielt Becker den Adelbert-von-Chamisso-Preis, im November 2012 folgte der DIALOG-Preis der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Bundesverband e.V.?
Kapitel 2
Ein Produkt der Hypokrisie
Arthur war achtundvierzig Jahre alt, eins fünfundsiebzig groß und wog achtzig Kilo. Er hatte dunkelbraune Augen und wirres festes Haar. Die Schwerkraft hatte Arthur zum Autor von zwei Sachbüchern über seine polnische Heimat Ermland und Masuren gemacht, die sogar Bestseller geworden waren. Und die Schwerkraft schenkte ihm einen Doktortitel in Geschichte, einen Arbeitsplatz an der Uni Bremen, eine zwanzigjährige Tochter namens Rosalia und zwei Frauen, Anna und Malwina, die er beide liebte, was schon einem Kunststück glich.
Seine erste Liebe, die Anna hieß, war zwar gescheitert, doch er hatte sich inzwischen an diese Niederlage gewöhnt. Seine Kollegen von der Bremer Uni und anderen Hochschulen der BRD mochten ihn – er fiel in der Gruppe nicht auf, seine Artikel und Publikationen waren eher gewöhnlich und durchschnittlich, und er leistete an der Uni nur das, was notwendig war. Seine Studenten beurteilten ihn in den Rankings als einen zuverlässigen und unauffälligen Hochschullehrer, dem Charisma fehlte. Sie wussten nicht, wie sehr er das Unterrichten satthatte. Manchmal nur kam ihm zu Ohren, dass X oder Z über ihn neulich gelästert hätten, er sei unter die Populärwissenschaftler gegangen, aber sie waren nur eifersüchtig, dass es Arthur gelungen war, zwei historische Sachbücher an ein breites Publikum zu verkaufen. Mit der Behandlung von Stereotypen lasse sich immer viel Geld verdienen, spotteten sie hinter seinem Rücken.
Arthur lebte seit dreißig Jahren in Westdeutschland, er hatte einen neuen Namen angenommen und kümmerte sich nicht mehr um seine eigene Herkunft, um seine katholisch-sozialistische Jugend in Polen.
Aber als er vor einem halben Jahr erfuhr, dass sein Onkel Stanisław, der über sieben Ecken mit Arthurs polnischer Großmutter Renata verwandt war, schwer erkrankt sei, beschloss er, ein drittes Sachbuch über Masuren zu schreiben, diesmal jedoch über die Machtergreifung durch die polnischen Kommunisten in seiner ehemaligen Heimat, allerdings aus der Perspektive seiner eigenen Familie und Verwandtschaft, also ein sehr privates und persönliches Buch.
Aus diesem Grunde war er in den sommerlichen Semesterferien zu seinem Onkel geflogen, einem Zeitzeugen, der kurz nach der Beendigung des Zweiten Weltkriegs im ehemaligen Ostpreußen an der kommunistischen Machtübernahme beteiligt gewesen war: natürlich damals als eine neunzehnjährige Rotznase, die sich für einen Marxisten hielt.
Stanisław, ein ehemaliger Kommunist und Jungmilizionär, der die beiden letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs als Zwangsarbeiter der Nazis durchgestanden hatte, besaß über jene schwierige Übergangsphase Wissen aus erster Hand, und Arthur hatte von ihm auch einige traurige Geheimnisse erfahren, in einer Art Beichte …
Sein Onkel erzählte ihm eines Abends plötzlich davon, dass er ein paar junge Soldaten, die sich in den Wäldern von Ermland und Masuren versteckt und als Partisanen und Antikommunisten gegen die neuen Machthaber gekämpft hätten, gefangen genommen und gefoltert habe. Und zwei Partisanen habe er im Kampf erschossen. Doch das sei noch nicht alles. Er habe auch – was Arthur eigentlich schon seit Langem vermutete – Ryszard verraten, Arthurs polnischen Großvater aus Olsztyn, der unter Stalin ins Gefängnis gehen musste, völlig unschuldig, war er doch im Krieg Zwangsarbeiter gewesen und kein Heimatarmeesoldat. Sein Verbrechen sei gewesen, dass er als hochgebildeter Bourgeois Deutsch und Englisch gesprochen habe, und man sei davon ausgegangen, er sei kurz nach dem Ende des Krieges in der amerikanischen Besatzungszone für ihren Nachrichtendienst angeworben worden – schreckliche Zeiten damals, schüttelte Onkel Stanisław mehrmals den Kopf. Er fügte noch hinzu, er habe außerdem die Kommunisten betrogen: Er habe sich bereits 1968 als Jude ausgegeben, um den Reisepass bekommen und nach Amerika gehen zu können. Ein Offizier habe ihm gesagt, man habe ihn schon seit Längerem beobachtet und verdächtigt, dass er ein mieser Betrüger sei – ein Zionist! Der Offizier habe von Schande gesprochen, weil ihm die Partei das Studium und anschließend ein Leben in Würde ermöglicht habe.
»Du warst nicht der Einzige, der solche Fehler begangen hat … Und mit deinen späteren Taten hast du uns bewiesen, dass du ein rechtschaffener Mensch bist …«, hatte Arthur seinen Onkel zu beruhigen versucht.
Stanisławs Beichte hatte ihn nur für einen Moment aufgewühlt. Arthur kannte solche Geschichten zur Genüge, und ein ganzes menschliches Leben war oft nichts mehr wert, wenn es zur Abrechnung mit dem eigenen Gewissen kam. Es brachte dann nichts, an die positive Metamorphose der betroffenen Person zu erinnern: Das Böse schien mächtiger zu sein. Und es war schade, dass sich der Wanderer zwischen den Welten nicht selbst vergeben konnte. Schließlich hatte sein Onkel in Amerika eine passable Karriere hingelegt. Nach seiner Auswanderung 1971 in die USA wurde er in Berkeley Professor der Soziologie und ein Spezialist für die Sowjetunion – die Wehwehchen und Verbrechen des kommunistischen Regimes waren ihm bestens bekannt, eben meistens aus der Autopsie.
Er erzählte Arthur in diesem Zusammenhang auch davon, wie schwierig es für jüdische Physiker und Überlebende des Holocausts gewesen sei, ihre Karrieren nach dem Ende des Krieges in Amerika fortzusetzen. Man habe ihnen verboten, in Physik zu promovieren. Gegen Biologen habe man nichts einzuwenden gehabt, denn Amerika habe damals noch nicht geahnt, welches Potenzial in der Molekularbiologie stecke – die späteren Nobelpreise auf diesem Fachgebiet seien zahlreich. Amerikas Interesse habe damals lediglich dem Bau und der Weiterentwicklung von Atombomben gegolten, was ja topsecret gewesen sei. Und osteuropäische Soziologen seien willkommen gewesen: als Kenner des Erzfeindes in Moskau, doch selbst sie hätten sich warm anziehen und damit rechnen müssen, von der CIA behelligt zu werden, mochten sie auch Juden sein – man habe einfach überall nach Spionen gesucht, wie im Ostblock …
Niemand wusste von Stanisławs dunkler Vergangenheit. Arthur war der Erste, der in den masurischen Wäldern davon sowie von dem Betrug mit der Identität erfuhr. Er glaubte dem alten Mann, dessen tragische Geschichte ihm ordentlich unter die Haut gegangen war, wenn auch nur im Augenblick der unerwarteten Beichte.
Dabei hatte Arthur auf dem Grizzly Peak endlich die Ruhe gefunden, die er seit vielen Jahren schon so sehr vermisste: Seine Studenten, Doktoranden, Kollegen und Publikationen – sie hingen ihm alle zum Hals heraus. Nun hatte er mitten im Sommer eine lange Zeit der Meditation gehabt, die er so dringend für seine Konzentration und Arbeit an neuen Artikeln brauchte. Der geregelte Tagesablauf wie in einem Kloster hatte ihn gestärkt und zur Höchstleistung angetrieben. In Berkeley, wo sein Onkel als Emeritus wohnte, konnte Arthur jeden Morgen in die Universitätsbibliothek gehen und für sein neues Buch recherchieren. Am Nachmittag hatte er am Schreibtisch gearbeitet und fast alle Abende in diesen emsigen vier Wochen den Gesprächen mit seinem Onkel gewidmet.
Aber ein paar Tage vor Arthurs Rückflug nach Europa kam es im Einfamilienhaus des verwitweten Emeritus zu dem heftigen Streit. Es war wieder einmal einer dieser schwülen Abende gewesen: am schönen Grizzly-Peak-Boulevard, dem serpentinenartigen Weg, der zum Regionalpark auf den Hügeln von Berkeley führte, zu den Seen, Wäldern, Golfplätzen und Wanderpfaden. Arthur hatte sich an dem verhängnisvollen Abend einen Abschiedswhiskey eingeschenkt (sein Onkel durfte keinen Alkohol mehr trinken), wobei Stanisławs Neffe mit dem Einschenken nicht sparsam gewesen war: Er musste ja für seinen Onkel mittrinken. Zu Anfang ihres Gesprächs über Amerika und Emigration hatte er sich sehr zurückgehalten, zumal er die Ansichten von Stanisław kannte. Es gefiel Arthur nicht, dass er aus der polnischen Emigration von vor 1989 eine Truppe von Heiligen und Helden machte.
Der alte Mann aus Berkeley schien ihm im Sozialismus, in dem er seine polnische Jugend zugebracht hatte, stehen geblieben zu sein. Folglich war seine ganze Vorstellung von den weltumspannenden Verhältnissen in der Politik und der Ökonomie ein wenig altbacken und gestrig, obwohl er immer noch als guter Sowjetspezialist galt. Sein Name und seine soziologischen Arbeiten waren in Amerika jedem Spezialisten auf diesem Gebiet bekannt.
Irgendwann im Verlauf ihres anregenden Gesprächs und eher in einem Nebensatz hatte Arthur seinem Onkel erklärt, Amerika habe sich zu einem faschistischen Staat entwickelt, spätestens seit dem Mord an Kennedy habe man wissen müssen, wohin die Reise gehe, und nach dem 11. September 2001 sei es endgültig klar geworden, was hier eigentlich gespielt werde, denn nicht umsonst habe man nach seiner Ankunft am Flughafen von San Francisco von ihm ein Iriserkennungsfoto gemacht, wobei er sich wie ein Verbrecher gefühlt habe; Arthur hatte all dies bei einem zweiten vollen Glas Whiskey, ohne groß zu überlegen, gesagt; und er wollte Stanisław gewiss...
Erscheint lt. Verlag | 11.3.2019 |
---|---|
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-86337-138-0 / 3863371380 |
ISBN-13 | 978-3-86337-138-8 / 9783863371388 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |

Größe: 692 KB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich