Die Farben des Feuers (eBook)
480 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11554-3 (ISBN)
Pierre Lemaitre, 1951 in Paris geboren, ist Autor mehrerer preisgekrönter Romane und Kriminalromane. Sein 2014 erschienenes Buch, »Wir sehen uns dort oben«, wurde mit dem wichtigsten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet. Nun liegt sein neuer, hochgelobter Roman »Spiegel unseres Schmerzes« in deutscher Übersetzung vor.
Pierre Lemaitre, 1951 in Paris geboren, ist Autor mehrerer preisgekrönter Romane und Kriminalromane. Sein 2014 erschienenes Buch, »Wir sehen uns dort oben«, wurde mit dem wichtigsten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet. Nun liegt sein neuer, hochgelobter Roman »Spiegel unseres Schmerzes« in deutscher Übersetzung vor.
1
Wurden die Trauerfeierlichkeiten von Marcel Péricourt auch durcheinandergebracht und endeten sie sogar auf eindeutig chaotische Weise, so begannen sie doch pünktlich. Vom frühen Morgen an war der Boulevard de Courcelles für den Verkehr gesperrt. Das im Hof versammelte Musikkorps der Republikanergarde ließ gedämpfte Klangproben der Instrumente hören, während Automobile vorfuhren und Botschafter, Parlamentarier, Generäle, auswärtige Delegationen heranschafften, die sich würdevoll auf dem Bürgersteig begrüßten. Akademiemitglieder liefen unter dem großen, schwarzen, silberverzierten Baldachin mit dem Monogramm des Verstorbenen hindurch, der die breite Freitreppe überspannte, und folgten den diskreten Weisungen des Zeremonienmeisters, der damit betraut war, in Erwartung der Überführung des Leichnams die Menge zu ordnen. Man sah viele bekannte Gesichter. Ein solch bedeutendes Begräbnis glich einer herzoglichen Hochzeit oder der Präsentation einer Kollektion von Lucien Lelong, es war der Ort, an dem man sich zeigen musste, wenn man einen gewissen Rang einnahm.
Obwohl der Tod ihres Vaters Madeleine schwer erschüttert hatte, war sie überall, tatkräftig und verhalten, gab unauffällig Anweisungen, war auf die kleinsten Einzelheiten bedacht. Und war umso bemühter, als der Staatspräsident hatte wissen lassen, er werde persönlich erscheinen, um sich vor den sterblichen Überresten »seines Freundes Péricourt« in Andacht zu verneigen. Dadurch war alles schwieriger geworden, das republikanische Protokoll war anspruchsvoll wie das einer Monarchie. Das Haus Péricourt, in dem es von Sicherheitsbeamten und Verantwortlichen für das Protokoll wimmelte, hatte keinen Moment Ruhe mehr gehabt. Von der Menge der Minister, Höflinge und Berater nicht zu reden. Der Staatschef war eine Art Fischtrawler, dem beständig Schwärme von Vögeln folgten und sich aus seiner Bewegung nährten.
Zur vorgesehenen Zeit stand Madeleine oben auf der Freitreppe, die schwarzbehandschuhten Hände sittsam vor sich verschränkt.
Der Wagen traf ein, die Menge verstummte, der Präsident stieg aus, grüßte, ging die Stufen hinauf und drückte Madeleine einen Moment an sich, ohne ein Wort, großer Kummer ist stumm. Dann machte er eine elegante und schicksalsergebene Geste, um ihr den Vortritt auf dem Weg zum Aufbahrungsraum zu überlassen.
Die Anwesenheit des Präsidenten war mehr als eine Freundschaftsbekundung gegenüber dem verstorbenen Bankier, sie war auch ein Symbol. In der Tat war die Situation außergewöhnlich. Mit Marcel Péricourt war »ein Wahrzeichen der französischen Wirtschaft entschlafen«, hatten die noch zurückhaltenden Zeitungen getitelt. Bei anderen hieß es: »Er hat den dramatischen Selbstmord seines Sohnes Édouard keine sieben Jahre überlebt.« Wie auch immer. Marcel Péricort war eine zentrale Figur der Finanzwelt des Landes gewesen, und sein Tod, das spürte jeder auf unbestimmte Weise, symbolisierte einen umso besorgniserregenderen Epochenwechsel als die Dreißigerjahre eher düstere Aussichten eröffneten. Die Wirtschaftskrise, die dem Weltkrieg gefolgt war, hatte nie geendet. Die politische Klasse Frankreichs, die mit der Hand auf dem Herzen geschworen hatte, das besiegte Deutschland würde alles, was es zerstört hatte, bis zum letzten Centime zurückzahlen, war durch die Tatsachen bloßgestellt worden. Die Nation, dazu aufgefordert abzuwarten, dass wieder Wohnungen gebaut würden, dass die Straßen repariert würden, dass die Versehrten entschädigt würden, dass die Pensionen gezahlt würden, dass Arbeitsplätze geschaffen würden, kurz, dass sie wieder zu dem würde, was sie gewesen war – sogar besser, da man den Krieg ja gewonnen hatte –, die Nation also hatte sich damit abgefunden: Dieses Wunder würde nie stattfinden, Frankreich würde allein zurechtkommen müssen.
Marcel Péricourt nun war just ein Vertreter des alten Frankreichs, des Frankreichs, das einst wie ein guter Familienvater die Wirtschaft gelenkt hatte. Man wusste nicht genau, was man nun zu Grabe tragen würde, einen bedeutenden französischen Bankier oder die vergangene Epoche, die er verkörperte.
Im Aufbahrungsraum musterte Madeleine lange das Gesicht ihres Vaters. Seit einigen Monaten war das Altern zu seiner Hauptbeschäftigung geworden. »Ich muss ständig auf mich achten«, pflegte er zu sagen. »Ich habe Sorge, alt zu wirken, die Worte zu vergessen, ich habe Angst zu stören, Angst davor, dabei überrascht zu werden, wie ich Selbstgespräche führe, ich spioniere mir selbst nach, das nimmt all meine Zeit in Anspruch, wie anstrengend ist es, wenn man alt wird …«
Im Schrank hatte sie auf einem Bügel den zuletzt gekauften Anzug gefunden, ein gebügeltes Hemd, die perfekt blank geputzten Schuhe. Alles war bereit.
Am Vorabend seines Todes hatte Monsieur Péricourt das Abendessen mit ihr und Paul eingenommen, seinem Enkel, einem siebenjährigen Jungen mit hübschem Gesicht, blassem Teint, der schüchtern war und stotterte. Im Gegensatz zu den anderen Abenden aber hatte Marcel Péricourt sich nicht bei ihm nach dem Fortschritt im Unterricht erkundigt, danach, wie sein Tag gewesen war, hatte nicht vorgeschlagen, ihre Dame-Partie fortzusetzen. Er war gedankenvoll gewesen, nicht besorgt, nein, eher nachdenklich, das entsprach nicht seiner Gewohnheit; er hatte seinen Teller kaum angerührt, hatte sich damit begnügt, zu lächeln, um zu zeigen, dass er anwesend war. Und da die Mahlzeit ihm zu lang erschienen war, hatte er seine Serviette zusammengefaltet, ich gehe hoch, hatte er gesagt, esst ohne mich zu Ende, er hatte Pauls Kopf einen Augenblick an sich gedrückt, also, schlaft gut. Obwohl er häufig über Schmerzen klagte, war er mit geschmeidigem Schritt zur Treppe gegangen. Gewöhnlich verließ er das Esszimmer mit einem »Seid brav«. An diesem Abend vergaß er es. Am nächsten Tag war er tot.
Während im Hof des Stadtpalais’ der von zwei geharnischten Pferden gezogene Leichenwagen vorfuhr, der Zeremonienmeister Angehörige und Familie versammelte und die Position eines jeden in der protokollarischen Ordnung überwachte, standen Madeleine und der Staatspräsident nebeneinander, den Blick auf den Eichensarg geheftet, auf dem ein breites Silberkreuz glänzte.
Madeleine durchfuhr ein Schauder. Hatte sie einige Monate zuvor die richtige Entscheidung getroffen?
Sie war ledig. Geschieden, um genau zu sein, aber in diesen Zeiten war das dasselbe. Ihr Ex-Mann, Henri d’Aulnay-Pradelle, versauerte nach einem aufsehenerregenden Prozess im Gefängnis. Und ihrem Vater, der an die Zukunft dachte, hatte die Situation einer Frau ohne Ehemann Sorgen bereitet. »In dem Alter heiratet man wieder!«, sagte er. »Eine Bank mit ihren Beteiligungen an vielen Handelsgesellschaften ist keine Frauensache.« Madeleine war einverstanden, aber unter einer Bedingung: ein Gatte, schön und gut, aber keinen Mann, Henri hat mir gereicht, vielen Dank, eine Ehe, schön und gut, aber was das Sie-wissen-schon angeht, sollte man nicht auf mich zählen. Auch wenn sie häufig das Gegenteil behauptet hatte, hatte sie doch einige Hoffnung in diese erste Verbindung gesetzt, die sich als Unglück erwiesen hatte, ihr war jetzt klar, ein Gatte mochte vielleicht noch angehen, aber auch nicht mehr, umso weniger als sie keinerlei Absicht hatte, weitere Kinder in die Welt zu setzen, Paul genügte reichlich zu ihrem Glück. Das war im letzten Winter gewesen, zu der Zeit, als alle merkten, dass Marcel Péricourt es nicht mehr lange machen würde. Es schien klug, Maßnahmen zu ergreifen, weil noch einige Jahre vergehen würden, bevor sein Enkel, Paul der Stotterer, die Leitung des Familienunternehmens übernehmen würde. Abgesehen davon, dass man sich diese Nachfolge schlecht vorstellen konnte, bei dem kleinen Paul kamen die Worte nur mühsam, meistens gab er auf, etwas zu sagen, zu schwer, na, von wegen Führungskraft …
Gustave Joubert, der Prokurist der Péricourt-Bank, ein kinderloser Witwer, hatte da wie die ideale Partie für Madeleine gewirkt. Fünfzig Jahre alt, sparsam, besonnen, gut organisiert, selbstbeherrscht, vorausschauend, man kannte an ihm nur eine Leidenschaft, die für Motoren: für Autos – er verabscheute Benoist, aber vergötterte Charavel – und für Flugzeuge – er hasste Blériot, aber verehrte Daurat.
Monsieur Péricourt hatte energisch für diese Lösung plädiert. Und Madeleine hatte akzeptiert, aber:
»Gustave, damit das klar ist«, hatte sie ihn gewarnt. »Sie sind ein Mann, ich werde nichts dagegen haben, dass Sie … Nun, Sie wissen, was ich sagen will. Aber unter der Bedingung, dass es diskret geschieht, ich weigere mich, ein zweites Mal lächerlich gemacht zu werden.«
Joubert hatte die Forderung umso leichter begriffen als Madeleine...
Erscheint lt. Verlag | 2.3.2019 |
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Übersetzer | Tobias Scheffel |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 20er Jahre • Bank • Familie • Frankreich • Liebe • Paris • Prix Goncourt • Wir sehen uns dort oben |
ISBN-10 | 3-608-11554-4 / 3608115544 |
ISBN-13 | 978-3-608-11554-3 / 9783608115543 |
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