Spätsommermord (eBook)
528 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45045-1 (ISBN)
Anders de la Motte, geboren 1971, arbeitete mehrere Jahre als Polizist in Stockholm und in der Security-Branche, bevor er Schriftsteller wurde. 2010 erhielt er für sein Debüt Game den Preis der Schwedischen Akademie der Krimiautoren. Sein Roman UltiMatum wurde 2015 als bester schwedischer Kriminalroman ausgezeichnet. In Schweden sind seine Romane Nummer-1-Bestseller. Mit Sommernachtstod gelang ihm auch in Deutschland der Sprung auf die Bestsellerliste. Er lebt mit seiner Familie in der Nähe von Malmö.
Anders de la Motte, geboren 1971, arbeitete mehrere Jahre als Polizist in Stockholm und in der Security-Branche, bevor er Schriftsteller wurde. 2010 erhielt er für sein Debüt Game den Preis der Schwedischen Akademie der Krimiautoren. Sein Roman UltiMatum wurde 2015 als bester schwedischer Kriminalroman ausgezeichnet. In Schweden sind seine Romane Nummer-1-Bestseller. Mit Sommernachtstod gelang ihm auch in Deutschland der Sprung auf die Bestsellerliste. Er lebt mit seiner Familie in der Nähe von Malmö.
1
Herbst 2017
Die lange, kurvenreiche Straße zum Bergkamm hinauf ist steil, gesäumt von Bachschluchten und hohen Laubbäumen. Glühende Farben, die sich im Autolack spiegeln, bevor sie in den weiten Himmel aufragen.
»Der schwedische Sommer wählt genau die richtige Art zu sterben«, sagte Håkan gerne. »Eine riesige Farbexplosion vor der ewigen Dunkelheit, that’s the way to go. Oder nicht, Anna?«
Dann begann er, den Refrain von »Out of the Blue« zu pfeifen und Luftgitarre zu spielen, bis Agnes und sie so sehr lachten, dass sie fast keine Luft mehr bekamen. Håkan mochte den Herbst, er liebte es, draußen zu sein. Zelten, klettern, in den Bergen wandern. Sie waren noch jung damals, sie und er, sorglos. Agnes war noch klein, sie schaukelte leicht wie eine Feder in der Trage auf seinem Rücken. Fünfzehn Jahre sind seitdem vergangen, aber Anna kann die Erinnerung daran noch ganz leicht hervorrufen. Genau wie die Melodie.
It’s better to burn out than to fade away, singt Neil Young.
Aber genau das hatte Håkan getan. Er hatte sich langsam verflüchtigt, out of the blue und into the black, bis alles, was von ihm übrig blieb, ein Flüstern in ihrem Kopf war.
Bitte, Anna, hilf mir!
Anna dreht den Sender mit der leichten Unterhaltungsmusik lauter, den Agnes eingeschaltet hatte, bevor sie wie gewöhnlich ihre gesamte Aufmerksamkeit auf ihr Handy richtete. Sie sitzen schon lange zusammen im Auto, beinahe sieben Stunden. Insgesamt kann ihre Mutter-Tochter-Konversation trotzdem nicht mehr als zehn Minuten gedauert haben. Anna umfasst das Lenkrad fester und richtet den Blick auf die Straße. Vermeidet es, die Bäume, den Himmel und die Farben zu sehen, die mitten durch sie hindurchschneiden. Rasiermesser in Rot, Gold und Blau.
Sie verabscheut den Herbst. Hasst ihn.
Drei Schlüssel hängen am Schlüsselbund im Zündschloss. Der erste gehört zum Haus in Äppelviken, das nicht mehr ihr Zuhause ist. Der zweite Schlüssel ist der Ersatzschlüssel zu Håkans Wohnung und hätte eigentlich letzten Winter zurückgegeben werden müssen, als die Wohnungsverwaltung die kleinen, tristen Räume leer räumen ließ. Schlüssel Nummer drei führt zu ihrem Büro bei der Bezirkspolizei in Stockholm. Sie weiß, dass sie ihn vorgestern mit ihrer Zugangskarte hätte abgeben müssen, aber sie hat ihn am Bund hängen lassen.
Denn wenn du den Schlüsselbund öffnest und anfängst, Schlüssel abzumachen, musst du es bis zum Ende durchziehen, flüstert Håkan. Dann musst du alles wegtun. Nicht nur die Schlüssel, sondern auch die Schlösser, die Türen, die Räume – die Erinnerungen.
Sie murmelt ihm zu, er solle die Klappe halten.
Die Natur oben auf dem Höhenrücken ist ganz anders als die unten. Die offene Landschaft ist einem Laubwald gewichen und kleinen hügeligen Wiesen, die von soliden steinernen Einfriedungen umgeben sind. Weiße Kühe glotzen sie an, als sie vorbeifahren. Fast als würden sie wissen, dass da Ortsfremde kommen. Die Landstraße, die über den Bergrücken führt, hat zwar eine Mittellinie, aber sie ist dennoch so schmal und kurvig, dass Anna automatisch abbremst, wenn ihnen andere Fahrzeuge entgegenkommen. Als sie sich einer Abzweigung nähern, scheint das Navigationsgerät zu zögern. Anna ist klar, warum. Das Gestrüpp links und rechts der kleinen Seitenstraße wurde kürzlich gerodet, und der Schotter ist dunkelbraun und neu. Das Blechschild mit der Aufschrift »Tabor« ist dagegen alt, sieht fast ein bisschen zerknittert aus, ungefähr wie wenn man ein Papier zerknüllt und danach versucht, es wieder glatt zu streichen.
Agnes hat Milo auf dem Schoß, und als die Landstraße im Rückspiegel verschwindet, legt der Terrier seine Pfoten an die Tür und drückt die Schnauze gegen das Seitenfenster. Der Schwanz wedelt eifrig, als würde der Hund etwas wiedererkennen, was natürlich unmöglich ist, weil er noch nie eine Pfote auf schonischen Boden gesetzt hat. Agnes schaut weiter nach unten, ihre Daumen fahren über das Handydisplay.
Anna wirft einen Blick auf die Uhr. Der Fluchtwagen ist eine gute Stunde hinter ihnen. Umzugswagen, korrigiert sie sich bestimmt zum fünften Mal. Das hier ist ein Umzug, nichts anderes.
Natürlich, feixt Håkan in ihrem Kopf. Wem willst du etwas vormachen?
Sie dreht das Radio noch lauter, um ihn zum Schweigen zu bringen. Sie kennt den Song, es ist einer der wenigen neuen, die ihr gefallen.
»Das Lied ist gut! Zara Lah–hrsson«, sagt sie, hauptsächlich in dem Versuch, die Stille zu unterbrechen, und geht dabei prompt in die Falle. Der Name bleibt in einem kleinen Keuchen hängen, und Agnes reagiert mit einem Geräusch, das eine Mischung aus Seufzen und Kichern ist, ohne auch nur den Blick von ihrem Handy abzuwenden. Ihre sechzehnjährige Tochter hat einige Methoden, um sie zu strafen. Ihre schönen Haare rosarot zu färben zum Beispiel, der Ring in ihrer Nase oder die fünf im rechten Ohr. Die kaputte Jeans, das dunkle Make-up, die Militärjacke, die ausgelatschten Converse, die ganze Rebellenuniform, die fast alle Spuren der Agnes ausradiert hat, die sie einmal gewesen ist. Gar nicht zu reden von ihrem linksrevolutionären Gehabe, dem Ultrafeminismus oder dem Aufnäher mit dem Spruch »All Cops Are Bastards« oder anderen hinterhältigen Tretminen, um die Anna herumnavigieren muss, damit nicht jedes Gespräch zwischen ihnen in einer Explosion endet. Trotzdem ist keine Bestrafungsmethode so effektiv wie diejenige, die ihre Tochter jetzt anwendet. Schweigen.
Normalerweise öffnen sich die Menschen Anna gegenüber. Håkan behauptete immer, es läge an ihrer Ausstrahlung. Aber der eigentliche Grund ist ihr Stottern. Sie weiß, dass es kaum merklich ist, ein kleines Hängenbleiben bei manchen Lauten, das manchmal vorhersehbar ist und manchmal nicht. Tatsache ist, dass sie das Stottern nicht als Problem angesehen hat, bis ihre Eltern sie irgendwann in der Unterstufe zu einem Logopäden schickten. Das Ergebnis war, dass sie anfing, das Sprechen zu vermeiden, und sich auf das Zuhören konzentrierte. Die meisten Menschen hören nur mit halbem Ohr zu, überlegen eher, was sie selbst als Nächstes sagen wollen, und bekommen daher nicht mit, was eigentlich gesagt wird. Dazu gehören nicht nur die Worte selbst und der Tonfall, sondern auch die unfreiwilligen Mikromitteilungen, die Menschen ständig von sich geben. Kopfbewegungen, Gesten, Grimassen, Pausen. Zeichen, die manchmal dem Gesagten widersprechen. Deshalb verstand Anna schnell, dass sich ihre Eltern scheiden lassen würden. Und dass Håkan sie betrog.
Agnes’ Schweigen hingegen macht ihr jedes Wort und jede Silbe bewusst, die über ihre Lippen kommt, und irgendwie dringt dieses Gefühl zu ihrem Sprachzentrum vor. Dort wird es zu einer elektrischen Störung in der Kommunikation zwischen Hirn und Mund, wodurch Anna manchmal unsicher wirkt, was sie schrecklich findet, weil Stottern im Grunde absolut nichts mit Unsicherheit zu tun hat.
Atmen, atmen …
Sie schaut sich im Rückspiegel an und stellt fest, dass sie die Kiefer aufeinanderpresst, was sie überhaupt nicht mag. Die dunklen Haare und Augen hat sie von ihrem Vater geerbt, die etwas kantige Nase auch, aber diese bittere Miene ist definitiv die ihrer Mutter. Sie schüttelt den Kopf, um den Ausdruck loszuwerden, und redet sich dabei ein, dass es richtig ist, dem Rat des Schulsozialarbeiters zu folgen und Geduld zu zeigen, Konfrontationen zu vermeiden, was für ihn natürlich leicht gesagt war, weil er Agnes nur für eine Stunde pro Woche getroffen hat und nicht mit ihr leben muss.
Atmen …
Der Wald schließt sich immer enger um den Schotterweg, und Milo drückt sich weiterhin mit aufgeregt gurgelnden Lauten gegen das Seitenfenster. Der Hund war eine typische Håkan-Idee. An Agnes’ vierzehntem Geburtstag stand er einfach mit dem Köter auf dem Arm im Flur. Sie hatten einander versprochen, nicht zu Stereotypen zu werden. Eine gemeinsame Linie beizubehalten und nicht das Scheidungspendant zu Good Cop, Bad Cop zu werden. Dennoch war es genau so gekommen.
Håkan bekam die Hauptrolle als lustiger, liebender Papa, während sie selbst, ohne richtig zu wissen, wie es passiert war, die klischeehafte Nebenrolle der frustrierten, freudlosen Mama zugewiesen bekam, die dauernd meckerte und von Regeln und Verantwortung sprach. Die Tiere so wenig leiden konnte, dass sie ihrer eigenen Tochter keinen Hundewelpen gönnte. Deshalb hatte sie nachgegeben. Hatte den Strolch ins Haus gelassen, nur um zu zeigen, dass sie auch cool und spontan sein konnte. Aber es hatte nichts genützt.
Milo gurgelt wieder, diesmal lauter, als würde er in den Schatten zwischen den Bäumen etwas sehen, was nur Hunde wahrnehmen können. Wahrscheinlich Kaninchen. Der dumme Hund ist ganz wild auf Kaninchen und kann sie stundenlang jagen, wenn es ihm gelingt zu entwischen, was ziemlich oft der Fall ist. Der Terrier ist sowohl hyperaktiv als auch verwöhnt, und außerdem behandelt er Anna wie Luft, ungefähr so wie Agnes. Aber es lässt sich nicht leugnen, dass Milo Agnes über alles liebt. Und sie ihn. Manchmal ist Anna geradezu eifersüchtig auf ihr Verhältnis, was natürlich lächerlich ist.
Die Straße windet sich immer weiter in den Wald hinein, das glühende Blätterdach schließt sich dicht über ihnen zusammen, und obwohl sie sich vor einer Weile fast sicher gewesen ist, dass sie den höchsten Punkt der Hügelkette erreicht haben, steigt die Straße weiter an.
»Hast du auch so einen Druck auf den Ohren?«, fragt sie, so neutral sie kann.
»Mm«, murmelt Agnes, noch immer ohne den Blick von ihrem Handy abzuwenden.
Nach ungefähr fünf Minuten fahren sie um eine Kurve und gelangen auf einen länglichen...
Erscheint lt. Verlag | 26.2.2019 |
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Übersetzer | Marie-Sophie Kasten |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Anders de la Motte • Anna Vesper • Erik Axl Sund • Ermittlerin • Ermittler-Krimi • Ermittlung • Familiendrama • Geheimnis • Kommissarin • Krimi • Krimi Kommissarin • Kriminalroman • Kriminalromane Skandinavien • Krimi-Reihe • Krimi Schweden • Krimi-Serie • Krimi skandinavisch • Krimis mit Kommissarin • Krimis Skandinavien • Kristina Ohlsson • Mordkommission • Nedanas • Nedanås • Polizeiermittlung • Polizei Krimis/Thriller • psychologische Krimis • Psycho-Spannung • Romane spannend • schwedische Krimis • Schwedischer Krimi-Preis • Schwedischer Thriller • Skandinavienkrimi • Skandinavien Krimi • Skandinavien-Krimi • Skandinavien-Thriller • Skandinavische Krimis • Skandinavischer Krimi • Sommernachtstod • Spannender Krimi • spannungsromane • Spätsommermord • Steinbruch • thriller schweden • Todesfall • Unfall |
ISBN-10 | 3-426-45045-3 / 3426450453 |
ISBN-13 | 978-3-426-45045-1 / 9783426450451 |
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