Schnelles Lesen, langsames Lesen (eBook)

Warum wir das Bücherlesen nicht verlernen dürfen
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
304 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-25273-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schnelles Lesen, langsames Lesen -  Maryanne Wolf
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Was wir verlieren, wenn wir keine gedruckten Bücher mehr lesen
Bücherlesen ist kein exzentrisches Hobby. Smartphones, E-Reader, Tablets sind aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken, und es hat keinen Sinn, sich die Zeit ohne digitale Medien zurückzuwünschen. Maryanne Wolf macht jedoch deutlich, dass wir zwar nicht der völligen digitalen Demenz anheimfallen, wenn wir vor allem über digitale Kanäle Informationen und Unterhaltung konsumieren, dass wir aber enorm viel verlieren, wenn wir daneben nicht von klein auf lernen, gedruckte Bücher zu lesen. Unser Gehirn reagiert anders, verarbeitet anders und bildet andere Strukturen aus als beim digitalen Lesen. Für unsere offene, demokratische Gesellschaft so wichtige menschliche Fähigkeiten wie das Erfassen, Analysieren, Durchdenken komplexer Zusammenhänge sowie Empathie drohen zu verkümmern. Kurz gesagt: Erst das Lesen gedruckter Bücher macht uns zu ganzen Menschen.

Maryanne Wolf ist Professorin für kindliche Entwicklung, Kognitions- und Literaturwissenschaftlerin. Sie beschäftigt sich vor allem mit den Zusammenhängen zwischen dem Gehirn und dem Lesen sowie Leseschwächen. Sie forscht und lehrt an der Tufts University in Massachusetts und an der University of California in Los Angeles. Für ihre Arbeit wurde sie vielfach ausgezeichnet. Auf Deutsch erschien von ihr zuvor 'Das lesende Gehirn' (2009).

ERSTER BRIEF

Lesen, der Kanarienvogel des Gehirns

[Henry] Fielding spricht alle paar Absätze direkt zu Ihnen, als wolle er sich versichern, dass Sie das Buch nicht zugeschlagen haben, und jetzt beschwöre ich Sie, aufmerksamer Geist, dunkle schweigende Gestalt auf der Schwelle zu diesen Worten.

BILLY COLLINS [KURSIVIERUNGEN VON MIR]3

Liebe Leserin, lieber Leser,

willkommen auf der Schwelle zu meinen Worten; gemeinsam stehen wir am Beginn galaktischer Veränderungen, die sich im Verlauf der nächsten paar Generationen Bahn brechen werden.4 Mit den folgenden Briefen lade ich Sie ein, sich Gedanken über die Fülle an schier unglaublichen Erkenntnissen über das Lesen und das lesende Gehirn zu machen und über die massiven kognitiven Veränderungen bei uns selbst, den Generationen nach uns und möglicherweise unserer Art insgesamt, die diese ahnen lassen. Meine Briefe sollen außerdem dazu auffordern, auch nach anderen – subtileren – Veränderungen Ausschau zu halten und darüber nachzudenken, ob nicht auch Sie selbst sich unbemerkt bereits aus jenem Rückzugsort fortbegeben haben, den das Lesen einst für Sie dargestellt hat. Bei den meisten von uns haben diese Veränderungen nämlich bereits begonnen.

Lassen Sie uns mit einer zunächst einmal fast banal anmutenden Feststellung beginnen, die mich das vergangene Jahrzehnt hindurch bei meiner Arbeit über das lesende Gehirn inspiriert hat, und uns von da aus Schritt für Schritt voranarbeiten: Wir Menschen sind keine geborenen Leser.5 Die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, ist eine der wichtigsten epigenetischen Errungenschaften des Homo sapiens. Unseres Wissens hat keine andere Art diese Fähigkeit je erworben. Der Prozess des Lesenlernens hat dem Repertoire unseres Hominidengehirns einen komplett neuen Schaltkreis hinzugefügt. Im Laufe seiner Entwicklungsgeschichte haben sich die Verknüpfungen dieses Schaltkreises umgebildet, das wiederum führte zu neuen Verkabelungen mit dem übrigen Gehirn, und Letzteres hat das menschliche Denken verändert.

Was wir lesen, wie wir lesen und warum wir lesen, beeinflusst unsere Art zu denken, und die wandelt sich gerade in immer rascherem Tempo. In einem Zeitraum von nur sechs Jahrtausenden wurde das Lesen zu einem machtvollen Katalysator, der die intellektuelle Entwicklung des Einzelnen ebenso verändert hat wie die aller alphabetisierten Kulturen. Wie gut wir lesen ist nicht nur ein Indikator für die Qualität unseres Denkens, sondern gutes Lesen hilft auch völlig neuen Entwicklungen bei der Gehirnevolution unserer Spezies den Weg zu bereiten. Es geht um viel bei der künftigen Entwicklung des lesenden Gehirns und seiner Auseinandersetzung mit den immer rascher wechselnden Reizen, die auf seine Verarbeitungsprozesse gegenwärtig einprasseln.

Sie müssen nur einmal sich selbst beobachten. Vielleicht ist Ihnen bereits aufgefallen, dass sich die Beschaffenheit Ihrer Aufmerksamkeit verändert, je mehr Sie auf Bildschirmen und digitalen Geräten unterwegs sind. Vielleicht hat sich das schmerzliche Gefühl eingestellt, dass Ihnen irgendetwas abgeht, wenn Sie versuchen, sich in ein einstiges Lieblingsbuch zu vertiefen. So ähnlich wie beim Phantomschmerz bei einem fehlenden Glied erinnern Sie sich womöglich daran, was für ein Leser Sie einst waren, vermögen jedoch den »aufmerksamen Geist« nicht mehr mit derselben Inbrunst aufzubringen, die Sie einst spürten, als Sie das Gefühl hatten, dass das Lesen »der Initiator ist, dessen Zauberschlüssel uns in der Tiefe unseres Selbst das Tor zu Räumen öffnet, in die wir sonst nicht einzudringen vermocht hätten«.6 Noch problematischer ist es bei Kindern, die in ihrer Aufmerksamkeit ständig abgelenkt und mit Reizen überflutet werden, die sich im Reservoir ihres Wissens niemals verankern, was nichts anderes bedeutet, als dass bei ihnen die Fähigkeit, beim Lesen Analogien zu bilden und Rückschlüsse zu ziehen, womöglich künftig immer weniger gut ausgebildet sein wird. Junge Lesergehirne entwickeln sich, ohne dass die meisten Leute auch nur einen Gedanken daran verschwenden, wie. Dabei lesen mehr und mehr unserer Jugendlichen nicht mehr als das Allernötigste, und oft nicht einmal das: »tl;dr« (too long, didn’t read – zu lang, hab’s nicht gelesen) heißt es nicht selten unter einem Beitrag im Netz.

Bei unserem Übergang in eine digitale Kultur, der so ziemlich all unsere Lebensbereiche berührt, verändern wir uns auf eine Weise, die wir als Kollateralfolge der größten Explosion an Kreativität, Erfindungsreichtum und Entdeckerschaft in unserer Geschichte nie vorhergesehen hätten. Wie ich in diesen Briefen nachzeichnen möchte, gibt es angesichts der speziellen Veränderungen, die mit der gegenwärtig ablaufenden oder in wenigen Jahren möglicherweise zu erwartenden Evolution des lesenden Gehirns einhergehen, genauso viel Grund zur Begeisterung, wie es Grund zur Vorsicht gibt. Das liegt darin begründet, dass der Übergang von einer auf Lesen und Schreiben fußenden Kultur hin zu einer digitalen sich radikal von allen vorangegangenen Übergängen zwischen zwei Kommunikationsformen unterscheidet. Anders als in der Vergangenheit verfügen wir heute aber sowohl über das Wissen als auch über die Technologie, potenzielle Veränderungen unserer Art zu lesen – und damit auch unserer Art zu denken – aufzuzeigen, bevor diese Veränderungen die Menschheit völlig durchdrungen haben und ohne Überdenken der Konsequenzen akzeptiert worden sind.

Dieses Wissen kann uns als theoretische Basis für praktische Maßnahmen dienen, die den inhärenten Schwachstellen entgegenwirken – mögen diese nun in einer Optimierung digitaler Formen des Lesens bestehen oder in der Entwicklung alternativer hybrider Entwicklungsansätze zum Lesenlernen. Daher wird das, was wir über den Einfluss unterschiedlicher Formen des Lesens auf Kognition und Kultur in Erfahrung bringen können, tiefgreifende Folgen für kommende lesende Gehirne haben. So gerüstet werden wir auf die Veränderung der Leseschaltkreise bei unseren Kindern und Kindeskindern umsichtiger und besser informiert reagieren können.

Ich heiße Sie zu meinen gesammelten Gedanken über das Lesen und die Evolution des lesenden Gehirns willkommen wie einen Freund an meiner Haustür und freue mich auf unseren Austausch über die Bedeutung des Lesens, bei dem ich zu Beginn kurz schildern möchte, warum das Lesen mir so wichtig geworden ist. Als ich selbst Kind war und lesen lernte, habe ich darüber nicht weiter nachgedacht. Ich bin wie Alice einfach in das Kaninchenloch unter der Hecke gesprungen und war den Rest meiner Kindheit großenteils verschwunden. Noch als junge Frau machte ich mir keine Gedanken über das Lesen. Ich wurde einfach, wann immer sich die Gelegenheit dazu ergab, zu Elizabeth Bennet, Dorothea Brooke und Isabel Archer. Manchmal auch zu Männern wie Aljoscha Karamasow, Hans Castorp und Holden Caulfield. Aber immer trug es mich an Orte, die weit weg waren von meiner kleinen Stadt Eldorado, Illinois, und immer brannten in mir Gefühle, die ich mir auf andere Weise nie hätte ausmalen können.

Als ich mit meinem Literaturstudium fertig war, dachte ich noch immer nicht sonderlich viel über das Lesen nach. Vielmehr brütete ich über jedem Wort, jeder verschlüsselten Aussage in Rilkes Duineser Elegien7 oder den Romanen von George Eliot und John Steinbeck und zersprang förmlich vor geschärfter Weltwahrnehmung und großem Eifer, meine Aufgabe im Leben zu erfüllen.

Dabei wäre ich in der ersten Runde beinahe elendig gescheitert. Mit der ganzen Leidenschaft einer jungen unerfahrenen Lehrerin begab ich mich zusammen mit einer kleinen wunderbaren Gruppe von Lehrern in spe auf eine Art Friedenskorps-Einsatz im ländlichen Hawaii.8 Tag für Tag stand ich dort vor 24 absolut tollen Kindern, die mit unerschütterlichem Vertrauen auf mich schauten und mich mit derselben uneingeschränkten Zuneigung betrachteten wie ich sie. Und eine ganze Zeit war jenen Kindern und mir überhaupt nicht klar, dass ich ihre Lebensumstände entscheidend verändern würde, wenn ich ihnen einfach nur half, Lesen und Schreiben zu lernen – eine Fähigkeit, die vielen ihrer Familienangehörigen abging. Dann, erst dann fing ich ernsthaft an, darüber nachzudenken, was Lesen bedeutet. Das hat mein Leben verändert.

Plötzlich sah ich mit großer Klarheit, was geschähe, wenn diesen Kindern der scheinbar so einfache Schritt in die Schriftkultur versagt blieb. Sie würden nie wie Alice in ein tiefes Loch springen und die erlesenen Freuden der Teilhabe an der literarischen Welt genießen können. Dinotopia, Hogwarts, Mittelerde oder Pemberley blieben ihnen auf immer versagt. Sie würden sich nie die Nacht mit Ideen um die Ohren schlagen, die viel zu groß sind für ihre kleine Welt, nie jenen wichtigen Schub bekommen, der ihnen aus dem Lesen über Gestalten wie Ares, den Blitzdieb, oder Roald Dahls Matilda heraus das Zutrauen vermittelt, selbst zu Helden und Heldinnen werden zu können. Und am allerwichtigsten: Sie würden sich vielleicht nie der unendlichen Möglichkeiten in ihrem eigenen Denken erfreuen, die ihnen ihre Fantasie durch jede neue Begegnung mit Welten außerhalb ihrer eigenen eröffnen würde. Mir wurde schlagartig klar, dass jene Kinder, die ein Jahr lang mein sein würden, nie ihr volles Potenzial als menschliche Wesen würden ausschöpfen können, wenn sie nicht lesen lernten.

Von dem Augenblick an begann ich ernstlich darüber...

Erscheint lt. Verlag 22.4.2019
Übersetzer Susanne Kuhlmann-Krieg
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Reader, Come Home. The Reading Brain in a Digital World
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Alphabetisierung • Computersucht • Digitale Demenz • Dyslexie • eBooks • Einfühlungsvermögen • Empathie • e-Paper • Gigerenzer • Kinderbücher • Kindern vorlesen • Legasthenie • Lese community • Lesefähigkeit • lesen Bildung • lesen depression • lesen entspannt • lesen erfolgreiche Menschen • lesen gehirn • lesen psyche • Lesen sozialisierung • lesen stress • Martin Korte • menschen, die viel lesen • NDR-Sachbuchpreis • onlinespielsucht • Romane lesen • romanfiguren • spitzer • Stavanger-Erklärung • Tablet • Vorlesen • Vorlesetag
ISBN-10 3-641-25273-3 / 3641252733
ISBN-13 978-3-641-25273-1 / 9783641252731
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