Effis Nacht (eBook)
112 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00400-9 (ISBN)
Fritz J. Raddatz nannte ihn einen «Kaltnadelradierer der Poesie, schmucklos, scharf ritzend, aber nicht ätzend ... ein besessener Aufklärer, wo er die Täter am Werk sieht, ob Diktatoren oder Shareholder.» Rolf Hochhuth war einer der erfolgreichsten Dramatiker des heutigen Theaters - mit sicherem Gespür für brisante Stoffe und Themen. Am 1. April 1931 in Eschwege geboren, erzielte er mit dem «christlichen Trauerspiel» Der Stellvertreter Internationalen Erfolg. Es thematisiert die Rolle der katholischen Kirche, speziell die von Papst Pius XII., im Zweiten Weltkrieg. Als rigoroser «Moralist und Mahner» setzte sich Hochhuth mit aktuellen politisch-sozialen Fragen auseinander; in einer Vielzahl offener Briefe plädierte er für die «moralische Erneuerung» der Politik. Er verfasste ein umfangreiches dramatisches, essayistisches und lyrisches Werk. Ausgezeichnet wurde er u.a. mit dem Kunstpreis der Stadt Basel (1976), dem Geschwister-Scholl-Preis (1980), dem Lessing-Preis der Freien Hansestadt Hamburg (1981), dem Elisabeth-Langgässer-Preis (1990) und dem Jacob-Grimm-Preis für Deutsche Sprache (2001). Hochhuth starb am 13. Mai 2020 in Berlin.
Rolf Hochhuth, geboren am 1. April 1931 in Eschwege, war Verlagslektor, als er 1959 während eines Rom-Aufenthalts sein erstes Drama Der Stellvertreter konzipierte, das, 1963 in Berlin von Erwin Piscator uraufgeführt, weltweites Aufsehen erregte. Hochhuth blickt auf ein umfangreiches dramatisches, essayistisches und lyrisches Werk zurück. Er lebt in Berlin. Ausgezeichnet wurde Hochhuth u.a. mit dem Kunstpreis der Stadt Basel (1976), dem Geschwister-Scholl-Preis (1980), dem Lessing-Preis der Freien Hansestadt Hamburg (1981), dem Elisabeth-Langgässer-Preis (1990) und dem Jacob-Grimm-Preis für Deutsche Sprache (2001).
«Effi Briests Enkel, Professor Manfred von Ardenne, der berühmteste Wissenschaftler der DDR, schrieb über seine Großmutter: «Im Alter von etwa fünfzig Jahren bestieg sie als erste Frau den an der Schweizer Grenze, dicht bei Liechtenstein gelegenen 2970 m hohen Berg Scesaplana, zu dessen Gipfel meine Frau und ich 1969 bei einem Abstecher nach Klosters mit bewunderndem Erinnern emporblickten. Mit sechzig Jahren lernte sie Skilaufen und mit achtzig Radfahren. Am 4. Februar 1952 starb sie neunundneunzigjährig in Lindau am Bodensee.»
Die – heute hier, 1943 – Neunzigjährige sieht mehr als zehn Jahre jünger aus und hat auch bis vor kurzem noch Nachtdienste bei Schwerkranken geleistet, damit hat sie ja seit ihrer Scheidung vor fast sechzig Jahren ihr Brot verdienen müssen, jahrzehntelang. Denn an Elisabeth Freifrau von Ardenne, geborene Edle Freiin von Plotho, als Ehebrecherin hat natürlich ihr geschiedener Mann, der General, nichts gezahlt, so wenig er ihr siebzehn Jahre lang erlaubte, ihre Tochter Margot und dreiundzwanzig Jahre lang ihren Sohn Egmont zu sehen.
Jetzt macht sie Nachtdienst nur noch ausnahmsweise …
Der fast bühnengroße Wohnraum hat einen breiten Balkon mit Flügeltüre zum Bodensee hin. Für den Sohn des Hauses, den die Wehrmacht Hitlers zum Sterben aus dem Lazarett zu seinen Eltern, seiner Schwester entlassen hat – das kam vor, wenn Familien Beziehungen zu Militärärzten hatten –, ist ein schweres, hohes, fahrbares Klinikbett ins Balkonzimmer gestellt worden.
Großes Waschbecken rechts vorn. So oft Elisabeth am Waschbecken ist, verdeckt sie so auch ein wenig das Bett. Jugendstilmöbel, sehr langes Bücherregal, darüber Thoma- und Leistikow-Drucke, auch gute Aquarelle, wie sie in den dreißiger Jahren gemalt wurden, einheitlich geschmackvoll mit schmalen holzfarbenen Leisten gerahmt – vielleicht malt sie eines der Familienmitglieder. Den Studenten (hier ein wortloser Statist) betreut heute deshalb die alte Dame, weil seine Schwester, die das sonst tut, irgendwohin in ein Lazarett reiste, um ihren dort auch schwer verwundet eingelieferten Bräutigam zu besuchen.
Verdunkelung: Die breite Türe ist sorgfältig durch zwei Rouleaus abgedunkelt, wie seit Kriegsbeginn am 1.9.1939 für jedes Fenster im Deutschen Reich verordnet; links und rechts müssen neuerdings sogar laut streng überwachter Vorschriften Klammern an der Wand dafür sorgen, daß selbst Lichtspalten unmöglich sind … Es dauert noch ein Jahr, bis britische Bomber – die amerikanischen fliegen ihre Angriffe auf Deutschland am Tage und zielen Fabriken und Bahnhöfe an – selbst bei Nacht ihre Opfer, die Innenstädte, in die sie ungezielt hineinbomben, dank neuer Geräte so mühelos anpeilen können, als lägen sie im Sonnenlicht unter ihnen.
Der Regisseurin oder dem Regisseur zur Hand gehen sollte ein Neurochirurg – zumindest ein Pfleger oder eine Pflegerin, die langjährige Berufserfahrung auf dem Gebiet der Neurochirurgie gesammelt haben. Denn der stumme Patient ist andauernd hilfebedürftig, was die Nachtwache oder Tagwache bei ihm nicht nur für Else von Ardenne, sondern auch für Zuschauer auf eine makabre Weise ‹kurzweilig› macht. Der Patient liegt nicht flach; er sitzt fast. Das Kopfteil des Betts ist hochgestellt. Es ist klar, daß nie der Monolog – daß immer die Beobachtung des Schwerverwundeten und Hilfe für ihn den Vorrang haben. Der Autor, die Regisseurin, der Regisseur können nicht ohne ärztlichen oder pflegerischen Rat den Rhythmus der Hilfstätigkeiten für den Kranken festlegen; das können nur medizinisch Erfahrene. Denn da ist sehr viel Verschiedenes, und es ist oft zu tun: Er erhält Magenkost durch die Sonde in der Nase. (Die Ernährung fließt aus einer Infusionsflasche, die an einem Infusionsständer über dem Bett hängt. So auch der Tee, denn der Kranke ist sehr durstig.)
Der Husten, der ihn quält; die Notwendigkeit, das Bettuch zu wechseln, denn fast jedesmal, wenn er stark husten muß – weil die Kanüle, die er im Hals hat, in der Luftröhre, er bekam einen Luftröhrenschnitt (Tracheotomie), verschleimt –, macht er unter sich; die flüssige Nahrung (Sondenkost) verursacht Durchfall. Dann muß ihm Frau von Ardenne ein neues Leintuch unterlegen, den Studenten, der nur ein kurzes Turnhemd anhat, umlagern. Er ist rechtsseitig gelähmt, es bedarf also einiger Anstrengung, ihn zunächst auf die gelähmte, dann auf die gesunde Seite zu wälzen und das Tuch unterzuschieben. Sie gibt ihm Opiumtropfen.
Sie muß ihm hin und wieder Ellenbogen und Beine beugen, weil er das wegen der Lähmung nicht kann.
Die Luftwege müssen, wenn sie verschleimt sind, mit einem Sauggerät durch einen dünnen Schlauch abgesaugt werden, immer dann, wenn sein Röcheln zeigt, daß der künstliche Atemweg – die Sonde im Hals – verstopft ist, durch Schleim.
Sein Kopf ist bandagiert, auch die – herausgeschossenen – Augen; frei sind nur Ohren, Nase, Mund und Kinn.
Es ist durchaus fraglich, ob der Patient noch hört; Else von Ardenne hält das für möglich, denn Bewußtlose haben keinen Hustenreflex, weshalb sie ihn anspricht, ihm vorliest, Musik macht.
Sie wäscht ihm einmal auch den Rücken. Sie wäscht ihn, so oft sie das Tuch wechselt, unterhalb des Nabels. Sie hat eine Waschschüssel mit mehreren Lappen. Sie reibt ihm einmal mit Wacholdergeist das Kreuz ein, sie mißt dreimal unter der Achsel sein Fieber. Sie hält ihm die Hand, spricht zu ihm …
Elisabeth tritt aus dem halbdunklen Hintergrund an der rechten Wand, wo sie sich über den fast schon leblosen Kopf im Bett gebeugt hat, in die durch eine Stehlampe erhellte Mitte des Raumes. Sie sagt so selbstverständlich zu sich, wie andere zu anderen sprechen, denn Selbstgespräche haben seit Jahrzehnten die Nachtwachende davor bewahrt, einzuschlafen; und sie weiß, der Zerschossene hört vermutlich nichts mehr; ist dessen aber keineswegs sicher:
Endlich schläft er – noch nicht zum letztenmal,
obgleich er heute – bis jetzt – ganz ohne Angst war.
Schrecklich, daß ich die Nachrichten … die englischen,
ganz unbesorgt hören darf,
weil ja der arme Junge nicht mehr denunzieren könnte,
daß ich den «Feind»-Sender höre,
heute hier in diesem fremden Hause …
Sie geht zu dem ihr nicht vertrauten Radio und dreht ein wenig an ihm herum, bis sie BBC gefunden hat, sieht dann aber auf die Uhr und murmelt:
Noch nicht zehn … vor dem Haus kann keiner stehen,
der mich belauscht, wegen des großen Vorgartens …
ich spüre wie oft nun schon
und mache doch immer unbelehrbar weiter:
mit über neunzig soll man eben keine Wache mehr
bei Sterbenden übernehmen – je näher selber dem Grab,
je strikter meidet man den Anblick Dahingehender …
Und dann: Wer ist man schon,
fragt man sich immer öfter,
daß man aufbewahrt wurde, verschont blieb
– um sogar Jungen, ja Kindern beizustehen, zuletzt,
die siebzig Jahre jünger sind als man selbst …
Und doch, ungelebt, ungeliebt: schon wegmüssen!
Wie zwei – bisher schon zwei, wer weiß,
wer ihnen noch folgt –
meiner Enkel … Jetzt BBC!
Sie stellt nach einem Blick auf die Armbanduhr das Radio an, einen kleinen sogenannten Volksempfänger («Volks-Einfänger!»), nachdem sie sich dicht vor ihn gesetzt hat, sozusagen das Ohr am Apparat – und schrickt zurück und dreht rasch leiser, weil das Motiv aus Beethovens Fünfter mit Macht einsetzt, dieser weitaus spektakulärste aller Symphonien-Einsätze, den die britische Propaganda mit gutem Instinkt ausgewählt hat, um deutsche Hörer zu verlocken, den britischen Rundfunk einzuschalten. Obgleich doch das Abhören des «feindlichen Rundfunks» mit Einweisung ins KZ bestraft wird, und sogar die Guillotine wartet auf jene «Volksgenossen», die herumerzählen, was die Briten meldeten.
Jetzt hört sie; es spricht in tadelfreiem «hannoverschem» Hochdeutsch ein Emigrant:
«Deutsche Hörer!
In Nordafrika ist der Krieg zu Ende: Sämtliche Deutschen, die seit zwei Jahren auf Befehl Hitlers in das einst als unbesiegbar gerühmte Afrika-Korps des Marschalls Rommel eingerückt waren, sind in britischer Gefangenschaft oder – tot. Premierminister Churchill hat alle britischen Kirchen um dreitägiges Glockenläuten gebeten.
Und er nannte heute früh im Unterhaus die totale Vernichtung der Rommeltruppen durch die Achte Armee des Feldmarschalls Montgomery den ‹triumphalsten Sieg, den in ihrer mehr als tausendjährigen Geschichte britische Landstreitkräfte über einen Feind errungen haben›. Mr. Churchill fügte hinzu: ‹Auch für die Deutschen ist ihre Kapitulation in der Wüste ein alarmierender Tag. Denn nie zuvor sind die einst so ruhmreichen Armeen Friedrichs des Großen in solchen Massen getötet oder gefangen worden wie heute hier durch englische Soldaten und wie vor erst einem halben Jahr durch Marschall Stalins Rote Armee in Stalingrad. Während der vier Jahre des Ersten Weltkrieges gab es nirgendwo eine Schlacht, in der auch nur annähernd so viele Deutsche gefangengenommen worden wären wie im Winter in Stalingrad und nun heute in der Wüste. Das deutsche Volk›, setzte Mr. Churchill hinzu, ‹hat längst begriffen,...
Erscheint lt. Verlag | 26.3.2019 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Dramatik / Theater |
Schlagworte | Effi Briest • Elisabeth Freifrau von Ardenne • Theater • Theodor Fontane |
ISBN-10 | 3-644-00400-5 / 3644004005 |
ISBN-13 | 978-3-644-00400-9 / 9783644004009 |
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