Zwei Jahre Nacht (eBook)
752 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-10074-9 (ISBN)
Damir Ov?ina, 1973 in Sarajevo geboren, studierte dort Literaturwissenschaft. Er ist Direktor einer Schule für blinde und sehbehinderte Kinder (und publiziert auf seiner Website impruva.ba). Sein erster Roman, den er gut zwanzig Jahre nach seinem Debüt veröffentlichte, wurde in Bosnien und Herzegowina gefeiert wie lange kein Buch mehr: «Zwei Jahre Nacht» wurde 2016 mit dem Hasan-Kaimija-Preis für das beste Prosawerk des Landes sowie mit dem Mirko-Kova?-Preis, einem der wichtigsten Literaturpreise im südslawischen Raum, ausgezeichnet.
Damir Ovčina, 1973 in Sarajevo geboren, studierte dort Literaturwissenschaft. Er ist Direktor einer Schule für blinde und sehbehinderte Kinder (und publiziert auf seiner Website impruva.ba). Sein erster Roman, den er gut zwanzig Jahre nach seinem Debüt veröffentlichte, wurde in Bosnien und Herzegowina gefeiert wie lange kein Buch mehr: «Zwei Jahre Nacht» wurde 2016 mit dem Hasan-Kaimija-Preis für das beste Prosawerk des Landes sowie mit dem Mirko-Kovač-Preis, einem der wichtigsten Literaturpreise im südslawischen Raum, ausgezeichnet. Mascha Dabić, 1981 in Sarajevo geboren, lebt in Wien. Sie übersetzt Literatur aus dem Balkanraum und wurde mit mehreren Übersetzungsprämien der österreichischen Bundesregierung ausgezeichnet. 2017 erschien ihr Debütroman «Reibungsverluste».
Endlose Abendnachrichten. Darin Daten, Zahlen, Prognosen, Ankündigungen, Befürchtungen, Aufrufe, Beispiele, Abkommen, Berichte. Ich lese kurz und mit zerstreuter Aufmerksamkeit, schreibe dann mit ungelenker Handschrift und lange.
Mitternacht vorbei. Auf dem Parkplatz Schatten. Nur wenige Autos in Richtung Lebensmittelgeschäft. Irgendwo ein Hund. Mutter döst ruhiger. Vater ist unermüdlich dabei, etwas zu richten. Radio leise auf dem Regal in der Küche. Der Kühlschrank brummt und beruhigt sich dann wieder. Waschmaschine eingeschaltet. Ich schlafe für eine Sekunde auf dem Ofen ein, und in diesem Moment träume ich, dass ich vom Ofen herunterfalle. Von der Straße ein verspieltes Schreien. Ein Auto fährt die Ulica Akifa Šeremeta hinunter. Ich träume eine dicke Schneeschicht über dem Schneegitter.
Graue Morgendämmerung. Warme Luft aus dem Thermoakkumulationsofen. Sie hat neununddreißig Grad Fieber. Die halbe Infusionsflasche aufgebraucht. Die Krankenschwester soll um acht Uhr kommen. Der erste Tag des dritten Monats des dritten Jahres des letzten Jahrzehnts des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Fernsehsprecherin ernst. Im Laufe der Nacht wurden die Zufahrtsstraßen zu Sarajevo unter Kontrolle gestellt. Sie erklärt, wo und was, dann melden sich einige Journalisten aus unterschiedlichen Standorten in der Stadt. Sie erzählen, was sie sehen. Kalt und bewölkt. Kein Mensch auf dem Parkplatz oder auf der Straße. Vater telefoniert. Fragt kurz und hört länger zu. Legt auf.
Was ist denn los?
Wegen des Referendums.
Wir müssen Hilfe finden.
Auf dem Tisch Tassen, Tee, Orangen, Fläschchen, Brot, Podravka-Marmelade aus Hagebutten und die gestrige Ausgabe von Oslobođenje. Ich schaue durch den Vorhang, dass niemand auf den Parkplatz kommt. Mutter dreht sich um. Ich richte ihr Kissen und frage sie, was und wie, aber sie antwortet nicht. Er hat für uns beide Kaffee gekocht, also sitzen wir in der Küche. Auf dem Balkon auf der anderen Seite des Hofes schaut eine Frau kurz in Richtung Straße. Winseln aus dem Zimmer. Wir dorthin und fragen besorgt, was wir tun sollen. Sie schweigt. Zeigt etwas und döst ein. Ich suche nach anderen Beispielen, in denen es irgendjemandem mal schlechtgegangen ist, dann wieder besser, dann wieder ziemlich schlecht, und dann plötzlich viel besser.
Das Brot von gestern bestreiche ich mit Marmelade. Vater schneidet ambitioniert Käse und getrocknetes Fleisch. Rund um Käse und Fleisch legt er, ohne zu sparen, saure Gurken aus dem Vitaminka-Glas, dann auch Ajvar von der gleichen Marke. Er schaut ins Zimmer. Ich frage kurz mit dem Blick, er antwortet mit den Augenbrauen. Die Nachrichten wiederholen sich, neue kommen dazu. Ich stelle zwei Teller und zwei Gläser auf den Tisch. Schenke Saft ein, dann Wasser für noch mehr Kaffee.
Die Nachbarschaft berät sich um halb acht bei der Eingangstür, was zu tun sei, wenn dies und jenes, und man kommt zu dem Schluss, dass keiner weggeht, solange nicht abzusehen ist, was los ist und wie es weitergeht. Man wird wohl im Radio durchsagen, was zu tun ist, bis sich die Lage entspannt. Das Treppenhaus bleibt abgesperrt. Die Straße leer.
Mutter ruhiger. Die Kaffeekanne auf der gestrigen Ausgabe von Oslobođenje. Das Telefon klingelt laut und unerwartet.
Du bist es.
Wie geht es ihr?
Sie schläft.
Wir haben die eine Krankenschwester aus dem Militärkrankenhaus angerufen. Sie sagt, ihr sollt sie hinbringen.
Wenn das möglich ist. Anscheinend ist Krieg. Wie ist es dort?
Die Hauptstraße bei der Wirtschaftsschule ist blockiert.
Wie sehen die Männer aus?
Einer hat so eine Jacke wie du. Sie tragen Sturmmasken. Ein Lada kam von Grbavica. Offenbar haben sie ihren Militärstab im Stadtteil Vraca. Mein Vater schaut mit dem Fernrohr. Er sagt, sie tragen Gewehre im großen Stil.
Ist die Polizei auch da?
Kaum.
Gibt es dort Barrikaden?
Man sieht nichts.
Ich rufe dich später an.
Passt.
Mutter wacht auf. Sie sagt etwas, zeigt zum Fenster.
Dort ist niemand. Magst du etwas trinken?
Sie antwortet nicht. Er will sie aufrichten. Sie winselt, lässt ihn nicht. Ich im Sessel.
Probier es telefonisch!
Wie soll ich es erklären?
Irgendwie.
Ich hab die Nummer nicht.
Ruf die Auskunft an!
Ich wähle neun acht acht. Überlastet. Er schnauft. Sie döst. Ich blättere im zerfledderten Adressbuch. Unter dem Buchstaben S eine lange Liste von Nachnamen und der ein oder andere Vorname. Ich finde den gesuchten Nachnamen und die schon vor langer Zeit eingetragene Nummer mit einem Bindestrich in der Mitte. Ich wähle die Fünf, ist nicht besetzt. Es klingelt. Es klingelt dreimal. Am anderen Ende eine besorgte Stimme. Ich stelle mich vor. Er ist misstrauisch. Ich verlange seinen Sohn. Er fragt, ob ich derjenige bin, den er kennt. Ich bestätige. Er gibt mir seinen Sohn. Ich denke nicht, dass wir schon mal miteinander telefoniert haben. Ich beginne zu erklären. Er nimmt es herzlich, aber besorgt auf. Er will mir seine Mutter geben, damit ich ihr erkläre, was wir auf technischer Ebene brauchen. Ich warte. Dann ist die Frau dran. Ich erzähle. Sie versteht, wundert sich aber, woher diese Krankheit kommt, in den besten Jahren. Ich soll unten im Hof warten, in einer halben Stunde. Ich bedanke mich und geh los, durch den Durchgang in den Hof. Auf der Weide die Äste eingefroren. Schnee auf der Hecke. Die Erde hart. Die Tauben im grauen Himmel zwischen den Wohnhäusern. Ich stand ein wenig tiefer, als der älteste Sohn gestorben war. Vater hatte mich vom Balkon gerufen. Damals war es auch ein Sonntag.
Die Frau mit der Tasche kommt mir entgegen. Vom Balkon schaut eine ältere Nachbarin zu. Sie hat die Hände über den Mund und bewegt den Kopf von links nach rechts.
Die Krankenschwester ist herzlich. Ich sperre die Tür zum Hof hinter uns ab. Sie vor mir. Vater im Treppenhaus. Die Nachbarin bietet ihre Hilfe an. Wir bedanken uns.
Die Frau schaut Mutter an, begrüßt sie dann aufmunternd. Mutter dreht den Kopf auf die andere Seite. Die Krankenschwester überprüft die Kanülen, dann betrachtet sie den Entlassungsbrief und die Medikamente. Sie misst die Temperatur. Vater bringt Kaffee. Ich auf dem Ofen. Die Krankenschwester dreht Mutter sehr rücksichtsvoll auf die Seite. Sie legt noch eine weitere Kanüle. Die andere Infusionsflasche hängt sie auf den Träger neben dem Bett. Vorsichtig reinigt sie die verletzte Haut mit einem feuchten Handtuch. Sie richtet das Kopfkissen, dann schaut sie die restlichen Papiere durch. Wir bedanken uns ganz oft.
Sie muss ins Krankenhaus. Dringend.
Was denken Sie denn?
Sie schüttelt den Kopf.
Mittag. Das Zentrum des Sicherheitsdienstes meldet, dass die Stadt an mehreren Stellen abgeschnitten ist. Die Polizei ruft die Bewohner auf, sich gut um ihre Häuser, Nachbarn und Stadtteile zu kümmern und Spannungen abzubauen.
Mutter wacht nicht auf. Ihr Gesicht ruhiger. Das Quecksilber auf neununddreißig. Wir beide am Küchentisch. Vor uns Würstchen und Kolinska-Senf. Er schaut aus dem Fenster.
Ist da jemand?
Nein.
Am Parkplatz?
Niemand. Alles steht.
Wir müssen Wasser eingießen.
Ich mach das.
Ich schütte Wasser in zwei orangefarbene Eimer von je etwa zehn Litern. Dann lasse ich die Badewanne ein, halb voll. Am Nachmittag kühl. Die Türklingel reißt uns aus den Gedanken. Die Krankenschwester, den Mantel über die Schultern gelegt. Sie trägt eine Tasche und spricht wieder aufmunternd, sowohl über unsere Patientin als auch über die Gesamtsituation, die sie als unruhig einstuft, aufgrund der allgemeinen Verwirrung, Unzufriedenheit und des medialen Drucks. Die Beziehungen zwischen den Menschen seien viel zu stark, als dass etwas Ernstes passieren könnte. Wir hätten doch alle eine ähnliche Mentalität. Wir nicken. Ich erkundige mich nach ihren Kindern. Sie erzählt von den Plänen ihres Sohnes zu studieren und von den bisherigen Herausforderungen des Wirtschaftsstudiums der Tochter.
Vater bringt ein feuchtes Handtuch und bleibt neben der Couch stehen. Die Krankenschwester wechselt den Beutel, der an der Plastikkanüle hängt. Die Infusion schaukelt an dem Gestell.
Die Nachrichten hören nicht auf. Fernsehen von allen Seiten. Es wird verhandelt. Die Barrikaden sind noch nicht beseitigt. Armee und Polizei werden gemeinsam patrouillieren. Auf der Straße Abglanz der Lichter aus den Wohnungen. Telefon.
Du bist es.
War die Krankenschwester da?
Zwei Mal. Morgen früh kommt sie wieder.
Und wie geht es ihr jetzt?
Ganz gleich, wo wir sie berühren, es tut ihr weh. Seit gestern ist sie nicht bei Bewusstsein. Wie sieht es bei euch aus?
Bei uns ist es gut. Die Nachbarn besuchen sich gegenseitig, geben sich die Türklinke in die Hand.
Die Männer halten unten noch immer die Stellung?
Ja. Sie wirken nicht besorgt. Offenbar sind sie auf einen längeren Aufenthalt eingestellt.
Die Tür zum Treppenhaus zugesperrt. Auch der Durchgang zum Hof überprüft und die Kellerfenster abgesichert. Die Glühbirne im Keller ausgewechselt. Besenrein. Die Blumen im Zwischenstock gegossen. Abgemacht sind neue Blumen im Hof, sobald es wieder möglich ist. Das Licht am Parkplatz funktioniert nicht. Im Hof scheinen von beiden Seiten die Fernsehbildschirme wider. Das Licht aus der Wohnung gegenüber beleuchtet einen vorbeilaufenden Hund, eine Sekunde lang.
Irgendwo eine Gewehrsalve. Wir beide in zwei grünen Sesseln. Sie eingeschlafen.
Vater in der Küche. Ich auf dem Ofen. Ein Beutel wird voll, der andere leer. Irgendwo ein Schuss. Wir sind tief in der Nacht. Vater macht einen Tee. Das Radio leise. Offenbar werden Barrikaden geräumt. Ich...
Erscheint lt. Verlag | 16.4.2019 |
---|---|
Übersetzer | Mascha Dabi? |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 1992-1995 • Belagerung • Belletristik • Bosnien • Bosnienkrieg • Conditio Humana • Grbavica • Humanität • Jugoslawien • Krieg • Liebe • Menschlichkeit • Sarajewo |
ISBN-10 | 3-644-10074-8 / 3644100748 |
ISBN-13 | 978-3-644-10074-9 / 9783644100749 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |

Größe: 7,2 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich