Verführung (eBook)
508 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-688-11621-8 (ISBN)
Catherine Gildiner wurde 1948 in Lewiston, New York, geboren und lebt seit 1970 in Toronto. Mehrere Jahre lang betrieb die promovierte Psychologin eine eigene Praxis. Heute arbeitet sie als Journalistin und Buchautorin. Ihr erster Roman 'Verführung wurde in Kanada auf Anhieb zum Bestseller.
Catherine Gildiner wurde 1948 in Lewiston, New York, geboren und lebt seit 1970 in Toronto. Mehrere Jahre lang betrieb die promovierte Psychologin eine eigene Praxis. Heute arbeitet sie als Journalistin und Buchautorin. Ihr erster Roman "Verführung wurde in Kanada auf Anhieb zum Bestseller.
Teil I Brieffreundschaft
1 Zellenaktivität
Geh in dich, in deine Tiefen und lerne dich erst kennen, dann wirst du verstehen, warum du krank werden mußt, und vielleicht vermeiden, krank zu werden.
Sigmund Freud, «Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse»
Es ist mir wirklich peinlich, aber ich kann mich nicht erinnern, warum ich meinen Mann umgebracht habe.
Die Mehrheit der Menschen bringt ihren Ehepartner nicht um. Ich habe mich damit abgefunden, einer Minderheit anzugehören. Da ich ohnehin eingesperrt bin, habe ich beschlossen rauszukriegen, was mir entgangen ist, was alle anderen anscheinend wissen. In einem früheren Leben habe ich Darwin studiert und untersucht, wie aus Trieb Instinkt wird. Das taugte für die Beobachtung, wie Vögel ihre Nester bauen und nach Süden fliegen, aber es erklärte mir weder, warum ich meinen Mann umgebracht habe, noch wie ich mich verhalten soll, wenn und falls ich je aus dieser Zelle rauskomme. Ich habe versucht, religiöse Schriften zu lesen, bloß dass mich das nicht wirklich interessiert hat. Die Philosophie hingegen war interessant, aber bei der Lektüre fragte ich mich andauernd, warum ich überhaupt existierte.
1974, vor ungefähr acht Jahren – ich bin jetzt neun Jahre in diesem von der eisigen Tundra umgebenen Bunker –, stieß ich auf Freud. Ich fing mit Band eins seiner Gesammelten Werke an – so eine bin ich nun mal – und habe alle dreiundzwanzig gelesen (so eine bin ich eben auch). Freuds Theorie ist ein schlüsselfertiges Verfahren. Man muss sich nur im Unterbewussten einquartieren, und alles andere ergibt sich von selbst. Es ist, wie wenn man in einer Luxussuite logiert: Man mag etwas an der Möblierung auszusetzen haben, aber man bewohnt ein anständiges Quartier.
Mein größtes Interesse galt dem frühen Freud, seinen Erkenntnissen, bevor er berühmt wurde. In seinen Briefen erklärte er, dass er tagsüber Patienten behandelte und dann, allein in seinem kleinen Studierzimmer, die ganze Nacht hindurch arbeitete. Wenn er schlafen ging, träumte er vom Holzhobeln – er feilte noch an seiner Theorie. Freud nannte jenes erste Jahrzehnt seiner ureigensten Erkenntnisse, als er noch keine Anhänger hatte außer einem durchgeknallten Kumpel namens Wilhelm Fließ, seine «splendid isolation» – seine herrliche Einsamkeit.
Ich war ebenfalls isoliert und las Tag und Nacht Freud in der knapp zwei mal drei Meter großen Zelle. Vielleicht lag es an der Ähnlichkeit unserer herrlich einsamen Umstände, aber ich hatte das Gefühl, Freud schrieb an mich. Ich habe sogar auf seine Briefe geantwortet, in einem Notizbuch, das ich in meiner Zelle versteckt hielt. Wenn ich mitten in der Nacht nach zehn lahmen Stunden richtig in Fahrt kam, hatte ich das Gefühl, wir seien Koautoren.
Es heißt, das Gefängnis sei die Hölle, und ich nehme an, dass es das auf eine äußerst konventionelle Art ist, obwohl ich es als asketischen Ort ansehe, wo man von jeglicher Ablenkung gnädig befreit ist. Nicht viele Menschen teilen fast ein Jahrzehnt lang eine Zelle mit einem der größten Genies aller Zeiten. Natürlich habe ich meinem Gefängnispsychiater nichts davon gesagt – er hätte mich für verrückt gehalten –, aber ich habe das Gefühl, das Eingesperrtsein mit Freud hat mich vor dem Wahnsinn bewahrt.
Fünfzig Prozent der weiblichen Gefängnisinsassen haben höchstens Volksschulbildung; vierzig Prozent sind Analphabeten; die Mehrzahl war zur Zeit ihres Verbrechens arbeitslos. Obwohl die Eingeborenen nur zwei Prozent der Nationalbevölkerung ausmachen, bilden sie achtunddreißig Prozent der kanadischen Gefängnisinsassen. Zwei Drittel der weiblichen Häftlinge sind ledige Mütter. Achtzig Prozent sind sexuell missbraucht oder körperlich misshandelt worden. Weniger als ein Prozent der Frauen sitzt wegen Gewaltverbrechen im Gefängnis. In den seltenen Fällen, wo sie Gewaltverbrechen begehen, richtet sich die Aggression fast immer gegen einen Ehemann, der sie wiederholt misshandelt hat.
Keine dieser Statistiken trifft auf mich zu. Und ich war immer ein Statistikfan, weil sich mit Zahlen immer gut malen lässt.
Ich habe nur eins mit meinen Mithäftlingen gemeinsam – und mein Psychiater erinnert mich immer wieder gern daran: Wir haben allesamt Verbrechen begangen. Irgendwie finde ich nicht, dass damit das Eis gebrochen ist.
Freud war ein Biologe, der zum Psychologen wurde, so wie ich. Tatsächlich beschrieb er sich so: «Ich bin nämlich gar kein Mann der Wissenschaft, kein Beobachter, kein Experimentator, kein Denker. Ich bin nichts als ein Conquistadorentemperament – ein Abenteurer, wenn Du es übersetzt willst, mit der Neugierde, der Kühnheit und der Zähigkeit eines solchen.» Über solche Züge verfüge auch ich zur Genüge. Was Neugierde betrifft, habe ich von Kind an alles untersucht, was mir in die Hände fiel. Wenn Sie von Kühnheit reden wollen, bitte sehr, ich habe meinen Mann umgebracht. Wenn das die Eigenschaften eines Konquistadors sind, dann war Freud ein großer solcher, und ich bin auch einer, pathologisch oder nicht. Kein Wunder, dass ich ihm verfallen bin.
Ich war entschlossen, alles zu lesen, was mir erklärte, warum ich so «ungewöhnlich» war. Je nachdem, welche psychologische Beurteilung man über mich liest, kann «psychopathisch» oder «paranoid» das Wort «ungewöhnlich» ersetzen. Ich war nie allzu erbost über diese Bezeichnungen, denn, seien wir ehrlich, Psychiater werden dafür bezahlt, Menschen mit einem Etikett zu versehen.
Vor der Gefängniszeit war ich den Naturwissenschaften verfallen – ich überprüfte Hypothesen und kam zu physikalischen oder numerischen Ergebnissen. Man spricht von «exakter Wissenschaft», wenn es etwas Exaktes oder Physikalisches zu messen gilt. Es ist ungeheuer tröstlich, etwas zu messen, was man sehen kann. Obwohl Freud Mediziner war, war die Physiologie mitsamt der damit einhergehenden biologischen Forschung seine große Leidenschaft. Als er mit vierzig Jahren nicht den gewünschten akademischen Forschungsauftrag bekam, qualifizierte er sich als Neurologe und machte eine Privatpraxis auf. Damals, als die Psychiatrie offiziell noch kein Wissenschaftszweig war, landeten Psychotiker in Irrenanstalten, die von so genannten Nervenärzten geführt wurden. Soweit ich das beurteilen kann, haben diese ihre Patienten eher in die Irre geführt. Ihre Aufgabe bestand darin, dafür zu sorgen, dass die Türen zugesperrt waren und die Verrückten Stroh in ihren Zellen hatten. Die Neurotiker des 19. Jahrhunderts hatten keinen Ort, wohin sie gehen konnten, und in ihrer Verzweiflung schleppten sie ihre Angst, Hysterie und Nerventics in die Praxen der Neurologen. Freud, einer der wenigen Neurologen, die sich mit der Erforschung von Hysterie befassten, verbrachte Stunde um Stunde damit, Patienten zu empfangen, hauptsächlich Frauen, die alle möglichen Symptome ohne erkennbare physische Ursache hatten. Weil er strikt der wissenschaftlichen Tradition folgen wollte, war er in einer Zwickmühle; er musste den Geist untersuchen, um seinen Patienten zu helfen, doch die exakte Wissenschaft verfügte über keine adäquate Methode. Man kann geistige Phänomene nicht messen und bestimmen. Also musste Freud seine eigene Methode ersinnen, die als Psychoanalyse bekannt wurde.
Laut Freud wird jeder Mensch mit zwei Trieben geboren, dem Geschlechts- und dem Aggressionstrieb. Der Mensch braucht den Geschlechtstrieb, um sich fortzupflanzen, und den Aggressionstrieb zum Kampf um Nahrung und Revier und zur Beschützung seiner Brut. (Jeder, der meint, Frauen seien nicht aggressiv, soll mal versuchen, ihnen die Brut wegzunehmen.) Freud interessiert, was in einer zivilisierten Gesellschaft passiert, wenn Sexualität und Aggressivität beschnitten werden. Man kann nicht nach Lust und Laune Sex haben oder morden; es gibt Gesetze, die das verbieten. Wer seinen Trieben freien Lauf lässt, landet auf meiner Seite der Gitter und guckt von drinnen nach draußen.
Freud sagt, der Kessel mit Sexualität und Aggression brodele in unser aller Unterbewusstsein. Um nicht nach diesen Trieben zu handeln, haben wir Abwehrmechanismen zur Verfügung – diverse Methoden, um unsere Triebe zu mäßigen oder abzuschwächen, um nicht unmittelbar von ihnen bestimmt zu sein. Er machte mehrere solcher Abwehrmechanismen aus. Der meistverbreitete ist Verdrängung: Ich bin nicht wütend auf meinen Ehemann. Dann das Leugnen: Welchen Ehemann? (Das ist ziemlich primitiv, gefällt mir aber.) Dann die Intellektualisierung: Über die Ermordung eines Ehemannes schreiben. Und schließlich Ersatzbefriedigung: Ich habe Lust, meinen Mann umzubringen, stattdessen kauf ich mir was Schönes.
Was passiert, wenn die Abwehrmechanismen versagen? Freud sagt, dann schreite die Gesellschaft ein und führe Religion oder nacktes Schuldbewusstsein ins Feld. Wenn diese versagen, fährt man größere Geschütze auf und versucht es mit Schamgefühl und sogar Tabu. (Die großen Tabus verbieten Geschlechtsverkehr innerhalb der Familie und Töten.)
Mir gefiel Freuds Theorie insofern, als sie mir klar machte, dass ich mich nicht maßgeblich von allen Übrigen unterschied. Ich meine, unser aller Hirn rast mit denselben Trieben, nur dass meins im vierten Gang fuhr. Das Problem war schlicht, dass ich nach meinem Aggressionstrieb handelte und vergaß, in einen Abwehrmechanismus zu schalten.
Freud ersann etliche geniale Methoden zur Bestimmung des Unbewussten. In manchen Situationen, sagte er, sickert das Unbewusste heraus. Wenn man beispielsweise in Träume hineinsieht, gleiten die Zunge und die Symptome der Geisteskranken hervor.
Wer von uns hatte noch nie einen sexuellen oder...
Erscheint lt. Verlag | 16.11.2018 |
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Übersetzer | Margarete Längsfeld, Sabine Maier-Längsfeld |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Freud • Gefängnispsychologe • Hafturlaub • Leiche • Privatdetektiv |
ISBN-10 | 3-688-11621-6 / 3688116216 |
ISBN-13 | 978-3-688-11621-8 / 9783688116218 |
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