Soziologie als Handwerk (eBook)

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2019 | 1. Auflage
380 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-44073-6 (ISBN)

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Soziologie als Handwerk -  Gerhard Schulze
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Es ist ein Spagat: Die Soziologie soll ihrem Gegenstand, der Gesellschaft, gerecht werden, und zugleich Wissenschaft im strengen Sinne sein. Doch welchen Platz nimmt die Soziologie in der Gesellschaft ein? Und wie kann sie in der Praxis umgesetzt werden? Mit Gerhard Schulze widmet sich einer der renommiertesten Vertreter des Faches den grundlegenden Fragen der Soziologie und ihres Verhältnisses zur Gesellschaft. Denn Soziologie, so seine These, ist überall. Schulze führt in den Forschungsgegenstand ein, zeigt, was die Soziologie als Wissenschaft auszeichnet und wie sie sich von den Naturwissenschaften unterscheidet. Wie entstehen Erfahrungen und wie werden sie von Soziologen erhoben und interpretiert? Das Buch beschäftigt sich auch mit der Frage, wie sich die Soziologie öffentlich besser zur Geltung bringen kann.

Gerhard Schulze ist emeritierter Professor für Methoden der empirischen Sozialforschung und Wissenschaftstheorie an der Universität Bamberg. Im Campus Verlag erschienen von ihm unter anderem 'Die Erlebnisgesellschaft' (1993) und 'Kulissen des Glücks' (1999).

Gerhard Schulze ist emeritierter Professor für Methoden der empirischen Sozialforschung und Wissenschaftstheorie an der Universität Bamberg. Im Campus Verlag erschienen von ihm unter anderem "Die Erlebnisgesellschaft" (1993) und "Kulissen des Glücks" (1999).

1. Kapitel: Soziologie als Handwerk


»The great aim of education is not knowledge but action.«

Herbert Spencer

Soziologie machen


Soziologie als Handwerk zu betrachten, ist ein ungewohnter Zugang. Wer schon einmal mit Soziologie als akademischer Disziplin in Berührung gekommen ist, mag als erstes an Methoden der empirischen Sozialforschung denken, an Fragebogenkonstruktion, Stichprobentechnik, Statistik und Forschungsorganisation. Gewiss: Diese Verfahren sind Handwerk im Sinn regelgeleiteter Arbeit. Es kostet Zeit und Anstrengung, dieses Handwerk zu erlernen; ohne Ausbildung entsteht unweigerlich Pfusch. Deshalb nimmt die empirische Sozialforschung in soziologischen Studiengängen weltweit einen wichtigen Platz ein. Doch Soziologie zu machen geht weit über die empirische Arbeit hinaus. Das Handwerk der Soziologie beginnt mit der oft unterschätzten Frage, was genau eigentlich jeweils Gegenstand der Analyse sein soll, und es hört mit der Auswertung von Daten und Beobachtungen noch lange nicht auf.

Im Leitmotiv des Handwerks, das für dieses Buch bestimmend ist, klingt ein ständiges Hin und Her zwischen zwei Ebenen an: zwischen dem Tun einerseits und seiner Beurteilung andererseits. Dafür verwendet man in wissenschaftstheoretischen und diskursanalytischen Kontexten oft das Begriffspaar von operativer Ebene und Metaebene. Doch die Dialektik von Tun und Beurteilung ist viel älter. Sie ist allgegenwärtig, seit es Menschen gibt: als rationale Form der Selbstbeobachtung in Bezug auf das eigene Handeln.

Von der Erfindung der ersten Werkzeuge unterscheidet sich die heutige Wissenschaft nur durch das Anliegen – hier Brauchbarkeit für praktische Zwecke, dort Brauchbarkeit für Erkenntnis. Die Beobachtung der operativen Ebene von der Metaebene aus zielt auf Qualität, ob es um Werkzeuge oder Wissen geht. Was nun beispielsweise eine gute Axt ausmacht, kann sich jeder leicht vorstellen. Doch was sind gute Werkzeuge der Erkenntnis, speziell in der Soziologie?

Darüber ist weiß Gott schon viel geschrieben worden. In kaum einer anderen Wissenschaft füllen so viele Einführungen, Lehrbücher und sonstige Grundlagentexte die Regale der Universitätsbibliotheken wie in der Soziologie. So verzeichnete der Suchbegriff »Einführung« im Katalog der Universitätsbibliothek Bamberg im Jahr 2019 kombiniert mit »Volkswirtschaftslehre« 562 Treffer, kombiniert mit »Betriebswirtschaftslehre« 1.265 Treffer, aber kombiniert mit »Soziologie« 7.263 Treffer. Auf den ersten Blick scheinen die vorhandenen Titel nichts offen zu lassen. Bei einer Durchsicht der Grundlagenliteratur treten verschiedene Schwerpunkte hervor, die teils monothematisch, teils in Kombination abgehandelt werden: Grundbegriffe, Geschichte, Theorien, Paradigmen, Perspektiven, Diagnosen, Handlungsfelder, Forschungsmethoden. Für all diese Themenbereiche sind fachlich und didaktisch hervorragende Texte verfügbar.7 Droht unter diesen Umständen nicht jeder neue Titel das Problem zu vergrößern, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen zu können? Muss nicht der Grenznutzen jedes weiteren Grundlagentextes gegen Null gehen? Ja, soweit es dabei um Wissen geht, nein, soweit es um Handeln geht.

Mein folgender Versuch orientiert sich an einem Modell des Lernens, das von einem Wechselspiel zwischen Wissen und Machen ausgeht. Gewiss lässt sich beides nicht im Sinn von entweder/oder trennen. Zwischen Wissen und Machen besteht kein Gegensatz, sondern eine produktive Dialektik. Soziologisches Wissen, etwa über Idealtypen bei Max Weber, erfüllt erst dann seinen Zweck, wenn man sich davon zum eigenen Denken anregen lässt; umgekehrt kann aus jeder soziologischen Arbeit Wissen werden, das dann in die zukünftige Denk-Praxis einfließt. Meine folgenden Überlegungen sind zwar auf die eher wissensorientierte soziologische Grundlagenliteratur angewiesen. Wissen ist aber erst am Ziel, wenn es operativ umgesetzt wird: Wie kann man selbst soziologisch weiterdenken, argumentieren, urteilen und sich in der Öffentlichkeit einbringen?

In diesem Buch liegt der Akzent auf dem Machen, auf der Praxis soziologischen Denkens, auf Soziologie als Handwerk. Was damit gemeint ist, zeigt sich in zahlreichen Einführungen in die Methoden der empirischen Sozialforschung. Dort finden sich Arbeitsanleitungen: Wie redigiert man einen Fragebogen? Was ist Skalierung und wie führt man sie durch? Wie plant man eine Stichprobe so, dass man auf Repräsentativität hoffen kann? Wie wertet man Daten aus?

Solche die konkrete Forschungspraxis betreffenden Fragen haben aber nur einen von vielen Aspekten im Auge. Auf welche weiteren Aspekte von Soziologie als Handwerk es darüber hinaus ankommt, mögen ein paar Fragen andeuten, die auf nachfolgende Kapitel verweisen: Was genau tut man, wenn man soziologisch denkt? Wie betreibt man Soziologie dezidiert als Wissenschaft? Wie argumentiert man soziologisch? Wie kann Soziologie öffentlichkeitswirksam werden? Pointiert gesprochen, geht es im Folgenden nicht primär um Fundstücke des Wissens, sondern um seine Herstellung; es geht weniger um Denkergebnisse anderer als um Selbstdenken; es geht um das Hinterfragen und die Weiterentwicklung von Prämissen; es geht um Prinzipien wissenschaftlicher Moral und die typischen Verstöße dagegen.

Eine Möglichkeit, Soziologie als Handwerk in der Lehre zu vermitteln, habe ich vielfach in »Debattierseminaren« an der Universität Bamberg erprobt. Dabei kam es auf spontanes Argumentieren an: Was ist aus soziologischer Sicht zu den jeweiligen Themen der Zeit zu sagen, die täglich in den Fernsehnachrichten, in sozialen Medien, in der Zeitung anklingen? Und allgemein: Worin konkret besteht eigentlich die soziologische Sicht? Meine didaktische Konzeption entsprach der eines soziologischen Forschungspraktikums, wie es inzwischen überall in soziologischen Studiengängen etabliert ist, allerdings bezogen auf die Soziologie insgesamt: learning by doing.

Entsprechend soll dieses Buch eher einen aktivierenden als einen rezipierenden Zugang zur Soziologie eröffnen. Es schließt an einige teils weit zurückliegende Vorläufer an, unter anderem an Max Webers Vortrag Wissenschaft als Beruf, Karl Poppers Thesen zur Logik der Sozialwissenschaften, Pierre Bourdieus Soziologie als Beruf, Karl-Dieter Opps Methodologie der Sozialwissenschaften und Peter L. Bergers Einladung zur Soziologie.8 Das mit dem zuletzt genannten Titel ausgesprochene Motto, aufgefasst als Aufforderung zum Mitmachen, gilt auch für dieses Buch. Abgesehen vom gemeinsamen Anliegen der Reflexion wissenschaftlichen Handelns unterscheiden sich die eben genannten Texte bezeichnenderweise untereinander viel stärker als die Texte der oben erwähnten soziologischen Grundlagenliteratur. Soziologisches Wissen ist heute weitgehend kanonisiert, soziologisches Machen keineswegs.

Im folgenden Abschnitt konkretisiere ich soziologisches Machen zunächst anhand einiger Beispiele, um dann eine vorläufige Systematisierung zu entwerfen, die drei große Felder soziologischer Arbeit absteckt: Kommunikation, Forschung und Fortsetzung der Fachtradition. In den daran anschließenden Abschnitten greife ich diese Stichworte auf.

Handwerkliche Standardsituationen der Soziologie


Wie manifestiert sich das Machen von Soziologie, auch, aber nicht nur innerhalb des bloßen Forschungsbetriebs? Ob man sich dessen bewusst ist oder nicht, zumindest implizit ist man bereits quasi-soziologisch aktiv, bevor man sich etwa beim Formulieren eines Fragebogens auch nur die erste Interviewfrage überlegt hat, und man ist mit dem Handwerk der Soziologie keineswegs bereits am Ende, wenn die Daten eingegeben sind und statistische Ergebnisse auf dem Bildschirm erscheinen.

Soziologie als Tätigkeit beginnt mit einer präzisen und immer wieder neu zu konkretisierenden Vorstellung davon, was man überhaupt wissen will. Das sei doch klar, bekommt man zu hören – es gehe um Gesellschaft, Beziehungen, Strukturen, Systeme, Kultur und so weiter. Mag sein, aber was ist damit eigentlich genau gemeint? Wer sich der Suggestion des scheinbar Selbstverständlichen verweigert und nachfragt, wird oft sein blaues Wunder erleben, durchaus auch im Gespräch mit ausgebildeten Soziologinnen und Soziologen. Der Forschungsgegenstand der...

Erscheint lt. Verlag 17.7.2019
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie Allgemeines / Lexika
Schlagworte Empirie • Forschung und Gesellschaft • Gesellschaft • normative Diskurse • Öffentlichkeit • Praxis • Wissenschaft • Wissenschaftliche Gesellschaften • Wissenschaftstheorie • Wissensfortschritt • Wissenstransfer
ISBN-10 3-593-44073-3 / 3593440733
ISBN-13 978-3-593-44073-6 / 9783593440736
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