Die Zeit mit Anaïs (eBook)

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2020 | 1. Auflage
224 Seiten
Hoffmann und Campe (Verlag)
978-3-455-00527-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Zeit mit Anaïs -  Georges Simenon
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Bei eisigem Unwetter kehrt Albert Bauche in einer abgeschiedenen Gastwirtschaft ein; er ist mit seinem Wagen im Wald von Orléans liegengeblieben. Nach einigen Schnäpsen ruft er bei der Polizei an - nur, um einen Mord zu gestehen. Tatsächlich findet sie die brutal zugerichtete Leiche seines Geschäftspartners Serge Nicolas, man erhebt Anklage gegen Bauche. Seine Chancen, den Kopf noch aus der Schlinge ziehen zu können, stehen nicht gut. Doch dann beginnt der Mörder, der selbst keine Schuld empfindet, den Geschworenen seine persönliche Wahrheit zu erzählen - und von Anaïs, der jungen Frau, der er einst verfallen ist.

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.

Cover
Titelseite
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Über Georges Simenon
Impressum

1


Er war nichts weiter als ein Mann am Steuer, der an diesem Abend sein Auto bei strömendem eiskaltem Regen erst durch das Lichtermeer von Paris, dann durch die Vorstadt und schließlich auf die große Landstraße lenkte, wo ihm andere Wagen zwischen aufspritzendem Wasser entgegenkamen. Er hatte Ortsschilder gesehen, ohne sie zu lesen, und war dann in diesen dichten Wald eingetaucht, wo die Tannen sich über ihm zu einer Kuppel wölbten. Er war das pulsierende, schmerzerfüllte Zentrum der Welt und jeder Wassertropfen, den der Scheibenwischer zur Seite fegte, wie ein Gestirn; die nadelförmigen Regenspritzer, die von seinen Scheinwerfern gleichsam aufgesogen wurden, setzten sich aus Myriaden von Sternen zusammen, und auch die anderen Scheinwerfer eben noch auf der Landstraße, jene trüben Augen, die aus dem Nichts auftauchten und unter lautem Gedröhn wieder dorthin zurückkehrten, waren Meteore wie er selbst, die keuchend ins Unendliche stürzten.

Im Vorbeifahren hatte er kleine schimmernde Rechtecke zwischen dunklen Mauern gesehen, Lampen, die von der Decke herabhingen, und Menschen, die in ihrem Licht saßen. Und er glaubte mit einem Mal alles zu begreifen, wie es einem manchmal im Traum oder bei Fieberanfällen ergeht. Kaninchen waren vor ihm über die Straße gelaufen, und auch das fügte sich zu einem Ganzen, denn alles war wie unlösbar ineinander verwoben: das schlürfende Geräusch der Räder auf dem nassen Boden, das gleichmäßige Brummen des Motors, das unerbittliche Hin und Her der Scheibenwischer, die jedes Mal kurz bebend innehielten, bevor sie zu einer neuen Bewegung ansetzten. Selbst sein Pulsschlag, den er hören konnte, den er deutlich als ein Pochen außerhalb seines Körpers wahrnahm, wirkte mit im schwindelerregenden Crescendo dieser Symphonie, die ihn unaufhaltsam fortriss.

An einer Kreuzung sah er einen fahlen Wegweiser, der in verschiedene Richtungen zeigte. Aber immer noch wurde die Fahrbahn von dicht aneinandergedrängten Bäumen gesäumt, zwei Mauern aus Stämmen und schwarzer Nacht im Lichtbündel der Scheinwerfer, dazwischen die glitschige Spur, deren Pfützen er eine nach der anderen spritzend durchfuhr, und dazu das Prasseln des Regens – diese Tränen, die im Zickzack über die Scheiben rannen.

Der Geruch nach verbranntem Gummi war ihm entgangen, und ganz plötzlich, als die Symphonie schon ins Unerträgliche anzuschwellen schien, brach sie unvermittelt ab, und um ihn herum waren nur noch Dunkelheit und Schweigen.

Der Motor stand still. Die Scheinwerfer waren erloschen, wie auch der schwache, anheimelnde Lichtschein des Armaturenbretts. Das Auto bewegte sich nicht mehr, hing nutzlos und ein wenig schief über der Böschung.

Das einzig Lebendige auf dieser Welt war der stumpfsinnige, monotone Regen, der auf das Wagenblech trommelte.

Ihn fröstelte, er befühlte seine klammen Finger, tastete nach seinem Regenmantel, fand ihn nicht und erinnerte sich, dass er ihn in der Wohnung vergessen hatte. Er fischte eine Zigarette aus seiner Westentasche, musste sich mit der Zungenspitze die Lippen anfeuchten, so ausgetrocknet waren sie. Er hatte keine Streichhölzer. Er kam nicht gleich darauf, dass der elektrische Zigarettenanzünder nicht funktionierte.

Er blieb lange unbeweglich, mit leerem Kopf sitzen, schließlich drückte er sich den Hut tief in die Stirn, stellte seinen Jackettkragen hoch und öffnete, die unangezündete Zigarette im Mundwinkel, die Wagentür, streckte seine Füße in die Nacht hinaus und trat zögernd, ja, wie mit einem Gefühl des Ekels auf den schlammigen Weg.

 

Er folgte einem Lichtschein, der da und dort zwischen den Bäumen hindurchschimmerte, und bald entdeckte er eine abschüssige Wiese, die offenbar zu einem Bauernhof gehörte, aber er blieb auf dem Weg, der jetzt nur noch an einer Seite vom Wald gesäumt wurde. Eine weitläufige Lichtung tauchte auf, niedrige Häuser, aus denen Rauch aufstieg, einige erleuchtete Fenster, der gedrungene Schatten einer Kirche mit einem seltsamen, spitz zulaufenden Turm, wie er noch keinen gesehen hatte.

Er kam an ein Ortsschild, aber es war zu dunkel, um die Aufschrift lesen zu können, zu dunkel auch, um auf seiner Uhr die Zeiger zu erkennen. In der Mitte eines Platzes stand ein Haus mit drei erleuchteten Fenstern, zwei davon gaben den Blick auf Regale mit Lebensmitteln frei. Eine Glastür war mit durchsichtigen Reklameschildchen beklebt.

Er stieß die Tür auf, was eine Ladenglocke in Bewegung setzte. Sogleich strich ihm eine Katze um die Beine, und beinahe wäre er gestürzt, weil er eine Stufe übersehen hatte. An der mit schwarzen Balken durchzogenen Decke brannte eine einzige verstaubte Glühbirne, und die Luft stand so still, dass er erst meinte, der Raum sei leer.

Doch gleich tauchte hinter den Bonbongläsern, mit denen der Ladentisch vollgestellt war, das Gesicht einer alten Frau auf. Die Alte sah ihn schweigend an, dann wandte sie sich zum rückwärtigen Raum, wo vier Männer auf Korbstühlen um einen Tisch mit Flaschen und Gläsern saßen.

Die Männer sahen zu ihm herüber. Auch zwei Jagdhunde, die unter dem Tisch lagen, ließen kein Auge von ihm. Drei der Männer trugen Jägerjoppen und lederne Gamaschen, der Vierte, beleibter und älter als die anderen, in weißem Hemd und Straßenhose, hatte sich eine blaue Schürze umgebunden.

Über dem Kamin, in dem ein paar dicke Scheite brannten, stand ein Reklamewecker, dessen Ticken deutlich zu hören war. Er zeigte halb zehn an.

Die ersten Worte, die über seine Lippen kamen, hatte er sich nicht vorher zurechtgelegt, und sie schienen ihm auch keineswegs fehl am Platz. Er trat mit ausgestreckter Hand an den Ladentisch.

»Haben Sie Streichhölzer?«

Die Alte rührte sich nicht von der Stelle, doch der Mann mit der Schürze erhob sich, begab sich hinter die Theke, als wollte er seinen schweren Leib wie eine Art Schutzwall vor die Frau schieben.

»Streichhölzer wollen Sie?«

Er nickte. Er brachte sogar ein schüchternes Lächeln zustande, als er seine unangezündete Zigarette, die vom Regen ganz aufgeweicht war, wegwarf und sein Päckchen aus der Tasche zog.

Er fühlte sich bemüßigt, gleichsam entschuldigend hinzuzufügen:

»Der Zigarettenanzünder geht auch nicht.«

Mit einem verstohlenen Blick zu seinen Tischgenossen hatte der Mann eine große Schachtel Schwefelhölzchen, wie man sie heute noch auf dem Land verwendet und die mit einer winzigen blauen Flamme zu brennen anfangen, auf den Ladentisch gelegt.

»Ich glaube, ich sollte etwas zum Aufwärmen trinken.«

Seine nassen Finger waren so klamm, dass er kaum fähig war, das Streichholz anzureiben.

Er bekam keine Antwort. Sie warteten ab, ließen ihn nicht aus den Augen.

»Haben Sie Rum?«

»Nur Branntwein.«

»Schenken Sie mir ein Glas ein.«

Diesmal warf der Wirt mit der Schürze den anderen einen vielsagenden Blick zu und sagte zu seiner Frau:

»Setz dich rüber.«

Sie trug einen schwarzen Wollschal, den sie enger um ihre Schultern zog, als sie sich in einem Korbsessel zur Rechten des Kamins niederließ, während ihr Ehemann sich dem Regal zuwandte und ihm ein kleines Wasserglas und eine Flasche, deren Korken in einen langen Zinnschnabel auslief, entnahm.

Der Alkohol, klar wie Wasser, roch sehr würzig, und Bauche stürzte ihn in einem Zug hinunter, verschluckte sich beinahe, brachte dennoch ein klägliches Lächeln zustande, wie um die andern milde zu stimmen.

»Bin ich hier weit von Paris entfernt?«

Sie sahen einander an, als wäre es nun erwiesen, dass ihr Instinkt sie nicht getrogen hatte.

»Sie wissen also nicht, wo Sie sind?«

»Ich hatte eine Panne, zwei- oder dreihundert Meter vor dem Dorf.«

»Im Wald?«

Einer der Männer mit Ledergamaschen, der die Mütze eines Jagdaufsehers trug, hüstelte demonstrativ.

»Ja, im Wald.«

»Und Sie kennen den Namen des Weilers nicht?«

»In der Dunkelheit konnte ich das Ortsschild nicht lesen.«

»Haben Sie die Kirche nicht erkannt? Sie sind wohl nicht aus der Gegend?«

»Ich komme von Paris.«

»Hatten Sie sich verfahren?«

»Wahrscheinlich.«

»Wohin wollten Sie denn?«

»Ich weiß nicht. Irgendwohin.«

Das nun eintretende Schweigen hatte plötzlich etwas Beklemmendes. Schließlich fragte einer der Männer im Hintergrund, während er sich zu trinken einschenkte:

»Was hatten Sie denn so spät noch vor?«

Unterwegs hatte er sich überlegt, was er sagen würde, aber er spürte, dass das jetzt nicht mehr passte.

»Sie haben wohl nicht zufällig einen Automechaniker im Dorf?«

»Bis zur nächsten Werkstatt sind es gute fünfzehn Kilometer.«

»Kann ich dort anrufen?«

»Wenn das Telefon funktioniert. Aber niemand wird sich jetzt noch auf den Weg machen.«

Mechanisch deutete Bauche auf sein Glas, und der Wirt neigte die Flasche mit dem Zinnschnabel darüber.

Wiederum leerte er das Glas in einem Zug und sagte gedankenverloren:

»Ich muss telefonieren. Doch zuerst sollte ich wissen, wo ich bin.«

»In Ingrannes.«

»Wo liegt das genau?«

»Durch welchen Wald sind Sie wohl gefahren? Was denken Sie?«

»Keine Ahnung.«

Die drei Männer an ihrem Tisch brachen in Gelächter aus, stießen sich mit den Ellbogen an.

»Na, so was! Natürlich der Wald von Orléans. Sie befinden sich etwa auf halbem Weg zwischen Pithiviers und Orléans, der nächste Marktflecken ist Vitry-aux-Loges.«

Sein Blick verweilte auf den Bonbongläsern, den Sardinenbüchsen und Scheuermitteln, in einer Ecke stand ein Petroleumfass mit einer Pumpe.

»Dann...

Erscheint lt. Verlag 5.8.2020
Reihe/Serie Die großen Romane
Übersetzer Ursula Vogel
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Belletristik • Beziehung • Beziehungschaos • Familie • Familiengeschichte • Freundschaft • Geheimnis • Karrierefrau • Kriminalpsychologie • Liebesgeschichte • Liebesroman • Liebesromane • Mörder • Orléans • Paris • romantisch • Schicksal • Schuld • Simenon Georges • Verführung
ISBN-10 3-455-00527-6 / 3455005276
ISBN-13 978-3-455-00527-1 / 9783455005271
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