Sterne sieht man nur im Dunkeln (eBook)
320 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-22568-1 (ISBN)
Meike Werkmeister ist Buchautorin und Journalistin. Ihre Romane stehen regelmäßig auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg. Wann immer sie Zeit hat, fährt sie an die Nordsee, wo sie oft auch die Ideen für ihre Geschichten findet.
Einige Tage nach Susannes Hochzeit erwachte ich vom Klingeln des Paketboten, der die neuen Rahmen brachte. Ich hatte an diesem Samstag ausschlafen wollen, weil ich am Abend zuvor erst spät von der Arbeit gekommen war. In meinem übergroßen Flanellschlafanzug lief ich zur Tür, die Haare in alle Himmelsrichtungen abstehend.
»Mo-hor-gen!« Ich konnte nicht anders, als aus der gesungenen Freundlichkeit des Zustellers eine sadistische Freude darüber herauszuhören, dass er mich offensichtlich geweckt hatte. Er konnte ja nicht wissen, dass ich manchmal erst ins Bett ging, wenn er in der Früh seine Schicht begann.
Knurrend nahm ich die Lieferung entgegen und schob die Tür mit dem nackten Fuß hinter mir zu. Den Karton unter dem Arm, trat ich ans Fenster unserer Wohnküche und sah auf die anderen kleinen pastellfarbenen Altbau-Reihenhäuser in unserer Stichstraße. Thies’ Fahrrad lehnte nicht neben meinem an unserem verrosteten Vorgartenzaun. Er war wohl bereits zum Markt gefahren.
Ich trug das Paket an unserer Küchenzeile, dem Ikea-Tisch mit alten Schulstühlen und dem übergroßen Cordsofa vorbei in meine Arbeitsecke. Wie wir uns gefreut hatten, als wir damals die Zusage des Vermieters für diese Traumwohnung erhielten! Fünfundsiebzig Quadratmeter über zwei Etagen, mit Original-Holzdielen und kleinem Garten, und das mitten im ruhigeren Teil des coolen Bremer Viertels, in dem alle wohnen wollten, die es gerne fußläufig zu Kumpir-Buden und Kneipen hatten.
Heute musste ich mich manchmal an diese Freude erinnern, wenn die Dielen bei jedem Schritt knarrten, der Putz von den Wänden bröselte, die Duschwand leckte, uns frühmorgens betrunkene Studenten auf dem Heimweg in die Hecke kotzten oder ich schlicht nicht genug Platz für meine Entwürfe hatte. Ein eigenes kleines Atelier, davon durfte man doch mit vierunddreißig träumen, oder? Thies zog mich auf, wenn ich so sprach, und frotzelte, wir könnten uns ja nach einer altersgerechten Penthouse-Wohnung in einem Neubaugebiet am Stadtrand umsehen. Spätestens wenn wir Freunde in einem solchen besuchten, die stolz ihre Deckenstrahler und Carports präsentierten, war das Thema ganz schnell erledigt.
Ich wickelte Rahmen für Rahmen aus der Luftpolsterfolie. Mit dem Zeigefinger strich ich über das Holz, das sich rau und natürlich anfühlte, wie meine Kunden es mochten. Vorsichtig balancierte ich zwischen den ausgebreiteten Waren zu meinem Schreibtisch in der Ecke, einem Fund vom Flohmarkt, den ich mintfarben lackiert hatte. Obendrauf stand mein Rechner neben zwei Emaille-Bechern voller Stifte und Pinsel, darunter mein ganzer Stolz: ein schnittiger Farblaserdrucker, aus dem in der Woche etwa zehn bis fünfzehn Prints surrten. Gar nicht so schlecht, wenn man bedachte, dass ich vor weniger als zwölf Monaten angefangen hatte, meine Entwürfe in einem Online-Shop anzubieten. Ein frischer Stapel lag neben dem Laptop, ebenso die Tabelle mit den Bestellungen. Ich nahm beides und kniete mich wieder zwischen die Rahmen. Dann ordnete ich die Illustrationen zu: »Im Herzen trag ich Bikinifigur« kam zu dem Rahmen in A3, »Team Barfuß« zu dem in A4, »Das Leben ist kein Bällebad« zu dem A5-er in der weiß gebürsteten Shabby-Chic-Variante. Gleich drei Exemplare in unterschiedlichen Formaten durfte ich von meinem derzeitigen Bestseller verschicken:
Während ich die ersten Rahmenspangen löste, hörte ich von draußen das Knarzen unseres Vorgartentörchens. Das musste Thies sein. Dabei hätte ich hier gut noch ein paar ruhige Minuten gebrauchen können. Manchmal war dieses Häuschen wirklich zu klein für zwei Menschen, von denen einer in seiner Freizeit Kunstdrucke rahmte und der andere mit Ganzkörpereinsatz kochte.
»Huhu!« Thies tauchte im Türrahmen auf, wobei ich zunächst nur den unteren Teil von ihm sah. Der obere war hinter einer großen Kiste mit Einkäufen versteckt, aus der Möhrengrün, Salatblätter und Baguette-Stangen ragten.
»Vorsicht!«, rief ich gerade noch rechtzeitig, ehe Thies einen Sneaker-Abdruck auf »Team Barfuß« hinterlassen konnte.
»Ah, du bist fleißig.« Thies schob sich so vorsichtig an der Wand entlang Richtung Kühlschrank, wie es mit einem Meter zweiundneunzig und beinahe hundert Kilo Lebendgewicht möglich war.
»Gut geschlafen?« Er war an unserer Küchennische angelangt und begann, alles auf der Holzarbeitsfläche auszubreiten. Dabei kam immer mehr von ihm zum Vorschein, und ich registrierte, dass er sein Wochenend-Outfit trug, Sweatshirt zu bequemen Jeans.
»Jup«, murmelte ich und legte den ersten Print vorsichtig in den Rahmen ein. »Ich mach das hier eben fertig, ja?«
»Es gibt nachher Gemüselasagne. Und für morgen Abend habe ich Büffel-Burrata gekauft, mittags sind wir ja bei meiner Mutter zum Spargelessen.«
»Morgen Nachmittag muss ich leider für zwei, drei Stündchen ins Büro, ich bin gestern nicht fertig geworden.« Vorsichtig schloss ich eine Klemme. »Weiß nicht, wann ich zurück bin.«
»Ach, schade! Dann mach ich dir daraus ein schönes Sandwich.«
»Das ist lieb, danke. Du, ich muss hier noch eben …«
Thies drehte sich um und betrachtete mich ernst, wie ich in meinem Schlafanzug auf dem Boden hockte.
»Anni, ich habe mir was überlegt.«
»Kann das warten, bis ich …«
»Nee, kann es nicht.«
»Oh.«
In einer Hand hielt Thies eine Rhabarberstange, in der anderen eine braune Papiertüte, aus der oben Tomatenrispen herauslugten, und ich weiß das deswegen so genau, weil ich diesen Moment nie in meinem Leben vergessen werde. Weil Thies nämlich einen Satz sagte, von dem ich dachte, er würde ihn niemals sagen. Er sah mich an, mit dieser eigenartigen Seelenruhe, die er immer dann ausstrahlte, wenn er eigentlich angespannt war, eine der vielen Eigenschaften, die ich an ihm liebte.
Er sagte, und es war eindeutig kein Scherz: »Ich finde, wir sollten heiraten.«
Einige Momente saß ich regungslos auf dem Boden, auf dem Schoß einen Holzrahmen, in der Hand eine Metallklemme. Thies stand zwischen seinen Einkäufen in der Küche und sah mich erwartungsvoll an.
»Anni?«
Ich wollte antworten, irgendetwas Angemessenes sagen, aber meine Gedanken nahmen wild Reißaus und rannten in eine andere Richtung, kamen schließlich bei meinen Prints an, die ich verpacken musste, wenn ich es noch rechtzeitig zur Post schaffen wollte. Mit meiner freien Hand tastete ich nach der Noppenfolie, die neben mir lag.
»Ach, Anni!« Thies legte endlich das Gemüse aus der Hand, kam auf mich zu und hockte sich vor mich auf den Boden. Er nahm mein Gesicht in beide Hände. »Hey!«
Ich ließ die Folie sinken. »Ich bin überfordert.«
Er legte seine Stirn an meine. »Ich hab dich überrumpelt, entschuldige. Es ist nur … seit Susannes Vater neulich gesagt hat, dass ich nicht zu lange warten soll … Mir ist das nicht mehr aus dem Kopf gegangen.«
Er rieb sanft seine Nase an meiner. »Es ist nur so eine Idee.«
In diesem Moment klingelte das Telefon. Noch ehe ich ihn davon abhalten konnte, sprang Thies auf und suchte es. Ich hörte an seiner freundlichen Abwehrhaltung, dass seine Mutter dran war.
»Ja, Mo.« Er lief auf und ab. Bei jedem seiner Schritte knarzten die Dielen. »Ja, wir kommen morgen, wie verabredet … Doch, wir mögen Spargel, das war doch abgesprochen … Mo … Okay, ich gebe sie dir.«
Mit entschuldigender Geste reichte er mir den Hörer.
»Anni!« Ich musste das Telefon etwas weiter weghalten, weil sie so laut sprach.
»Hallo, Mo.«
Am anderen Ende der Leitung raschelte es. »Verträgst du Spargel?«
»Aber ja, ich freue mich schon.«
»Gut, nicht dass der Junge da wieder was missverstanden hat. Tschüss.« Noch ehe ich etwas erwidern konnte, hatte sie aufgelegt.
Ich sah zu Thies hinüber, doch er hatte mir den Rücken zugewandt und räumte seine Einkäufe in den Kühlschrank. Ratlos betrachtete ich den Hörer in meiner Hand. Diese Familie hat ein Talent für falsches Timing, dachte ich. Thies pflückte seelenruhig ein paar welke Blättchen von einem Salatkopf und begann leise vor sich hin zu summen.
Ich schaute den Rahmen auf meinem Schoß an, die Noppenfolie, das Packpapier. Dann machte ich da weiter, wo ich vor Thies’ denkwürdigem Satz aufgehört hatte. Wenn ich mich beeilte, könnte ich die Bestellungen heute noch versenden.
»Was ist hier eigentlich los?« Thies’ Mutter Monika, von allen nur Mo genannt, stand in lilafarbenen Crocs in ihrer Eicheneinbauküche, in einer Hand den selbst gemachten Eierlikör, in der anderen das Messer, mit dem sie gerade die Tiefkühltorte anschneiden wollte. »Warum macht ihr heute so lange Gesichter?«
Thies und ich saßen eng nebeneinander am Küchentisch auf ihrer Holzbank, in deren Lehne Herzchen gefräst waren. An unseren Füßen trugen wir die Gästehausschuhe aus buntem Filz, die Mo verteilte, sobald wir ihr Haus betraten. Ich spürte, wie Thies unruhig neben mir hin und her rutschte, während ich mich bemühte, möglichst unbeteiligt zu wirken. Mo atmete laut. Fast jeden Sonntag verbrachten wir in ihrem Künstlerbungalow in Worpswede, aßen mit wenig Kompetenz und großer Experimentierfreude zubereitete Gerichte und lauschten Mos Geschichten über ihr hübsches Heimatdorf. Es gelang uns nur selten, derart in den Mittelpunkt ihres Interesses zu rücken wie heute.
»Thies? Anni? Einer von euch verrät mir jetzt, was Sache ist!« Sie setzte sich auf die Stuhlkante. Vom Kuchen ließ sie ab, worüber ich nicht allzu traurig war, denn von diesen halb aufgetauten Sahnebomben bekam ich jedes Mal Bauchweh.
»Also gut«, sagte Thies irgendwann. »Ich habe Anni vorgeschlagen zu heiraten. Und sie weiß nicht so recht.«
Ich war selbst überrascht davon, dass sich die...
Erscheint lt. Verlag | 8.4.2019 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Auszeit • Beste Freundin • Café am Meer • eBooks • Erste Liebe • Frauenbuch • Frauenromane • Hochzeit • Insel • Karriere • kleine geschenke für frauen • Lebensentscheidung • Liebe • Liebesgeschichte • Liebesromane • liebevolle Illustrationen • Norderney • Nordsee • Romane für Frauen |
ISBN-10 | 3-641-22568-X / 364122568X |
ISBN-13 | 978-3-641-22568-1 / 9783641225681 |
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