Eine Odyssee (eBook)

Mein Vater, ein Epos und ich - Der internationale Bestseller
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
352 Seiten
Siedler (Verlag)
978-3-641-16330-3 (ISBN)

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Eine Odyssee -  Daniel Mendelsohn
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Eine berührende Vater-Sohn-Geschichte auf den Spuren des homerischen Epos
Als Jay Mendelsohn, pensionierter Mathematiker und 81 Jahre alt, eines Tages spontan beschließt, den Uni-Grundkurs seines Sohnes Daniel zum Thema 'Odyssee' zu besuchen, ahnen beide Männer nicht, dass dies der Beginn einer ganz eigenen Familien-Reise ist. Vater und Sohn folgen auf einer Schiffsroute den Spuren des homerischen Epos - und im Angesicht der eigenen Sterblichkeit überwinden sie ihr gegenseitiges Schweigen.

Ein 3000 Jahre alter Mythos behandelt all die Menschheitsthemen, die uns noch immer bewegen: Familie, Identität, Heimat. Und zugleich weist er einem Vater und einem Sohn den Weg, wieder zueinander zu finden.

Daniel Mendelsohn, geboren 1960 in New York, gehört zu den bedeutendsten Intellektuellen in den USA und ist als Autor und Übersetzer bekannt geworden. Er promovierte 1994 in Classical Studies und arbeitete als Kritiker u. a. für The New York Review of Books, das New York Magazine, für The New Yorker und die New York Times. 2006 veröffentlichte er sein aufsehenerregendes, preisgekröntes Familien-Memoir »Die Verlorenen. Eine Suche nach sechs von sechs Millionen«. Zuletzt erschienen auf Deutsch »Eine Odyssee. Mein Vater, ein Epos und ich« (2019) und »Flüchtige Umarmung. Von der Sehnsucht und der Suche nach Identität« (2021). 2022 erhielt Daniel Mendelsohn den renommierten Malaparte-Preis.

1. PAIDEUSIS

(Väter und Söhne)

Eine der seltenen Kindheitserinnerungen, von denen mein Vater erzählte – selten jedenfalls in den Jahren, in denen wir heranwuchsen, denn im Alter hat er bereitwilliger über seine Vergangenheit gesprochen, auch wenn sein Vorrat an Anekdoten es nicht mit den lustigen und dramatischen Geschichten aufnehmen konnte, die meine Mutter und ihr Vater auf Lager hatten –, handelte davon, wie sein Lateinunterricht zu Ende ging.

Eines Tages, begann er, eines Frühlingstages kurz vor Kriegsende (für meinen Vater war der Zweite Weltkrieg immer »der Krieg«, so wie ein antiker Barde »Troja« meinte, wenn er von »Krieg« sprach), es muss am Ende meines letzten Jahres auf der Junior Highschool gewesen sein, fragte unser Lateinlehrer, ein sehr feiner Kerl, europäischer Emigrant – ich erinnere mich, er war ein Deutscher, der es gerade noch geschafft hatte –, was wir im nächsten Jahr vorhätten. Wir waren in der zehnten Klasse, hatten seit der siebten Latein, und in dem Jahr hatten wir Ovid gelesen.

Ohhvid.

Hier räusperte sich mein Vater vielleicht. Er kam aus Deutschland, fuhr er fort. Ich weiß noch, dass er Wert darauf legte, gut gekleidet zu sein, obwohl man sehen konnte, dass seine Sachen oft gewaschen worden waren, der Hemdkragen war ausgefranst, die Ellbogen seiner Jacke glänzten. An diesem Tag fragte er uns, wer in der Oberstufe mit Latein weitermachen werde. Oberstufen-Latein war die Krönung des Lateinunterrichts, denn da wurde endlich Vergil gelesen. Die Aeneis.

Wenn er diese Geschichte in der jüngsten Zeit erzählte, fiel mir auf, wie detailliert er über das Äußere des Lehrers sprach, den ausgefransten Kragen, die glänzenden Ellbogen. Dass er derlei überhaupt registriert hatte, wäre mir früher merkwürdig erschienen, denn mein Vater war in puncto Kleidung ein notorischer Muffel. Er hatte ein untrügliches Gespür dafür, stets das Falsche zu tragen, so wie bestimmte Leute stets das Richtige tragen. Als wir uns am ersten Abend unserer Odyssee-Kreuzfahrt für die Captain’s Cocktailparty umkleideten, wollte er sich ein glänzendes braunes Hemd anziehen, woraufhin ich sagte: Daddy, wir sind auf einer Mittelmeer-Kreuzfahrt, du kannst unmöglich braunen Polyester tragen. Ich nahm das Hemd, ging auf den Balkon und warf es ins Meer. Neeiiin!, rief er, das war ein teures Hemd! Er stürmte durch die Kabine, trat auf den Balkon und schaute unglücklich hinunter auf das Hemd, das im Wasser robbenartig schimmerte und noch eine Weile auf den Wellen tanzte, bis es schließlich unterging. Erst in seiner späten, nostalgischen Phase – ich muss damals Mitte dreißig gewesen sein – überraschte er mich mit einer Anekdote, die seinen aufmerksamen Blick für die Garderobe seines alten Lehrers erklärte. Während seines Studiums an der New York University, erzählte er eines Tages (und sofort wies er darauf hin, dass ihm diese Universität nur wegen der GI Bill offenstand und er nur deshalb davon profitieren konnte, weil er mit siebzehn genau deswegen zur Armee gegangen war, um nämlich später studieren zu können), hatte er bei Brooks Brothers gejobbt. Er grinste schief, als er meine Reaktion bemerkte. Na ja, sagte er, es war nur der Verpackungsraum, aber ich habe etwas gelernt! In diesem Moment spürte ich so etwas wie scheuen, eigensinnigen Stolz unter seiner Selbstironie, ein leises Triumphieren über seinen kurzen Auftritt in der exquisiten Welt amerikanischer Patrizier, als wollte er sagen: Schau, wie weit ich es gebracht habe! Nicht schlecht für einen Jungen aus der Bronx! Bei dem Aber ich habe etwas gelernt sah ich ihn plötzlich als Zwanzigjährigen, damals unglaublich dünn, die Hose zusammengezurrt um die schmale Hüfte und von einem Gürtel gehalten, wie er, mit einem Päckchen in der Hand, auf Zehenspitzen durch die mahagonigetäfelten Geschäftsräume an der Madison Avenue schleicht, unter der Kassettendecke und den Kronleuchtern, ungläubig die polierte Holztäfelung mit den feinen Messingbeschlägen bewundernd – vermutlich nicht viel anders als Telemachos, der junge Sohn des Odysseus, der im vierten Gesang der Odyssee den prächtigen Palast des Königs von Sparta, Menelaos, bewundert, des langmütigen Gatten der Helena von Troja, den er im Zuge seiner Suche nach dem verschollenen Vater besucht. »Zeus’ Hof auf dem Olymp kann nicht herrlicher sein!«, ruft der naive Telemachos, der im Gedicht zwanzig Jahre alt ist, so alt wie mein Vater, als er bei Brooks Brothers jobbte.

Er hat, wiederholte mein Vater, in Gedanken bei seinem Lateinlehrer, einem deutschen Flüchtling, dem Mann, der auf sein Äußeres großen Wert legte, obwohl seine Sachen ganz abgetragen waren, er hat uns also gefragt, wer von uns im nächsten Jahr weitermachen und Vergil lesen würde.

Hier hielt mein Vater meist inne, um das Schweigen anzudeuten, das damals im Klassenzimmer in der Bronx geherrscht hatte.

Keiner sagte ein Wort, fuhr er dann fort und wich dabei meinem Blick aus. Der Lehrer stellte die Frage, dann fragte er noch einmal, aber niemand sagte ein Wort.

Fünfundsechzig Jahre später – der Lehrer mit dem ausgefransten Kragen und den enttäuschten Hoffnungen war längst verschwunden, viele der Kids aus der Bronx, die so verlegen geschwiegen hatten, waren Männer und dann Väter und dann Großväter geworden und dann alte Männer wie mein Vater, die sich, plötzlich und unerwartet, an alte und unverzeihliche Fehler erinnerten –, fünfundsechzig Jahre später schüttelte mein Vater den Kopf und presste die dünnen Lippen zu der vertrauten schmalen Linie zusammen.

Ich erinnere mich noch an das Zimmer, sagte er, weil es so still war. Wir brachten vor lauter Verlegenheit kein Wort heraus. Da sah uns der Lehrer plötzlich an und zeigte mit dem Finger auf jeden Einzelnen, ungefähr so, und sagte (hier imitierte mein Vater einen starken deutschen Akzent): »Ihr verschmäht den Rrreichtum des Fergiel? Das werdet ihr noch bereuen!« Damit klappte er seine Aktentasche zu und ging hinaus.

Das war, fuhr mein Vater fort, das Ende des Lateinunterrichts an dieser Schule.

Vergesst nicht, fügte er hinzu, es war nicht die beste, aber doch eine gute Highschool.

Ich erinnerte mich vage an irgendeine Geschichte, die uns jemand erzählt hatte, meine Mutter, meine Tante, ich weiß nicht mehr, wer, vielleicht einer meiner Onkel. Daddy war das schlaueste Kerlchen auf der Junior Highschool gewesen, ein Mathe-Ass, aber aus irgendeinem Grund war er nicht auf die anspruchsvollste Highschool gegangen, die Bronx Science, auf die alle mathematischen und naturwissenschaftlichen Talente gingen. An den Rest der Story konnte ich mich nicht mehr erinnern, ich konnte nicht sagen, warum er nicht auf die beste Schule gegangen war.

Es war eine gute Schule, sagte mein Vater. Nur sehr wenige Schüler hatten Latein gewählt, der Kurs hing also von uns ab! Aber wir haben schon vor der Oberstufe aufgehört. Und ein, zwei Jahre später wurde Latein schließlich komplett gestrichen.

Man konnte sehen, dass diese Geschichte meinen Vater noch immer beschäftigte, nach all den Jahren – dass er und seine Klassenkameraden das Angebot jenes liebenswürdigen deutschen Juden abgelehnt hatten, der von so weit her gekommen war mit nichts anderem im Gepäck als seinem wertvollen Wissen. Man konnte ihm ansehen, dass er noch immer sauer auf sich war, dass er, nachdem er es so weit in Latein gebracht, das letzte Stück Weg nicht mehr gegangen war und das bedeutendste Werk in jener Sprache nicht gelesen hatte – ein Werk über einen Mann, der seinen alten Vater aus den brennenden Ruinen seiner besiegten Stadt rettet und dann mit seinem Vater und seinem jungen Sohn in ein fernes, fremdes Land reist, um dort mit ihnen ein neues Leben zu beginnen. Aeneas, der sich durch beispielhaftes Pflichtbewusstsein auszeichnet – keine Kleinigkeit, was mein Vater sehr wohl wusste.

Als ich in meiner Kindheit zum ersten Mal die Geschichte von der Entscheidung meines Vaters hörte, den Lateinunterricht nicht weiter zu verfolgen – und selbst später, während meines Studiums, als sich die Frage stellte, welchen Berufsweg ich einschlagen würde, was ihn veranlasste, seine Geschichte abermals zu erzählen, ein wenig versonnen, als würde er durch immer neues Erzählen am Ende verstehen, warum in seinem Leben alles so gekommen war, wie es gekommen war –, war ich so fasziniert von ihrer Dramatik und Heftigkeit, von dem armen deutschen Juden, der in letzter Minute entkommen war, von den achtlosen Teenagern, die in New York an einem warmen Tag kurz nach Kriegsende sehnsüchtig aus dem Fenster schauten, desinteressiert an den Reichtümern der Vergangenheit, vor allem aber von dem fast unerträglichen Bild eines Lehrers, dessen Wissen niemand haben wollte, dass ich überhaupt nicht auf den Gedanken kam, meinen Vater zu fragen, warum er ein Fach abgewählt hatte, in dem er ausgezeichnete Leistungen gezeigt hatte, ein Star gewesen war; so wie ich nicht auf den Gedanken gekommen war zu fragen, warum ein solcher Star die zweitbeste Schule besucht hatte.

Ein Junge sitzt abseits in einem Saal voller Menschen und träumt von seinem abwesenden Vater.

Es ist Telemachos, der Sohn des Odysseus. Zwanzig Jahre sind vergangen, seit sein Vater nach Troja aufbrach, und nie wieder hat man von ihm gehört. Seitdem haben sich Dutzende junger Männer aus Ithaka und Umgebung im Palast breitgemacht, die, davon ausgehend, dass Odysseus längst tot ist, der unverändert schönen Penelope den Hof machen, in der Hoffnung, sie zu heiraten und damit König von Ithaka zu werden. Doch ihre Anwesenheit ist ein...

Erscheint lt. Verlag 4.3.2019
Übersetzer Matthias Fienbork
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel An Odyssey. A Father, a Son and an Epic
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Antikes Epos • Biografie • Biographien • eBooks • Familiendrama • Griechenland • Homer • Klassiker • Menschheitsfragen • Mythos • Odyssee • Schiffsreise • Vater-Sohn-Beziehung
ISBN-10 3-641-16330-7 / 3641163307
ISBN-13 978-3-641-16330-3 / 9783641163303
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