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Blumenspiel (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2019
288 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-20786-1 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
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Von Cöln am Rhein zum Monte Verità - ein langer Weg zum kurzen Glück
Mit einem Strohhut auf dem Kopf und seinem Hammer im Rucksack verlässt der junge Kunstschmied Heinrich 1908 das heimatliche Bergische Land. In Cöln am Rhein, so hat er gehört, werden tüchtige Männer gesucht. Doch die Stadt, in der es kreischt und kracht, hupt und dröhnt, schüchtert ihn ein. Trotz der Warnung seiner Vermieterin Else lässt er sich durch Straßen und Gassen treiben, von einer Kneipe zur anderen. Alles ändert sich, als er die wunderschöne, flatterhafte und doch selbstbewusste Näherin Hedwig kennenlernt. Heinrich träumt von einer gemeinsamen Zukunft. Doch Hedwig hat andere Pläne. Sie hat von einem Berg gehört, auf dem es sich so frei leben ließe wie sonst nirgendwo. Am Ende nimmt sie den stillen Heinrich mit nach Ascona und hoch auf den Monte Verità. Was dort passiert, verändert alles.

Hajo Steinert, geboren 1952, arbeitete von 1986 bis 2016 in der Literatur-Redaktion des Deutschlandfunks. Buchveröffentlichungen und Herausgaben erstrecken sich über die Themengebiete Deutsche Literatur, Lyrik, Fotografie und Kulturgeschichte des Fußballs. 2015 erschien sein Roman »Der Liebesidiot« im Knaus Verlag. Hajo Steinert lebt in Köln.

1

Noch vor Sonnenaufgang wanderte er los, über Feldwege, an blühenden Wiesen, Weiden und Waldrändern vorbei, über die Landstraße, fast nur bergab. Gelegentlich hielt ein Fuhrwerk und nahm ihn ein Stück des Weges mit. Wohin er denn wolle mit seinem Gepäck. Als er den Kutschern sein Ziel nannte, schauten sie ihn ungläubig an und schüttelten den Kopf. Wer in diese Stadt ziehe, der komme nicht mehr lebend zurück.

Das Nötigste an Kleidung war in seinem Koffer verstaut, in seinem Rucksack eine Feldflasche mit Wasser, sein Hammer, Soldatenmesser, Zeichenblock, seine Farbstifte, die Bibel, das Hochzeitsfoto seiner Eltern, ein Umschlag mit Geld und eine geschmiedete, blattgoldüberzogene Rose. Einen Strohhut auf dem Kopf, Schweißperlen auf der Stirn, das Hemd am Rücken durchnässt, die Haut an der linken Ferse ein Stück aufgerissen, kam er noch am selben Tag mit schweren Beinen und Schmerzen in Cöln am Rhein an. Es war schon fast dunkel.

Gesehen hatte er ihn schon von Weitem. Ihm war, als bohrten sich seine beiden Spitzen in die Wolken hinein. Er kannte ihn nur vom Hörensagen. Sein Vater, seine Mutter und der Schankwirt in Engelskirchen hatten häufig von ihm gesprochen. Wie hoch er in Wirklichkeit war, hatte er sich nicht vorstellen können. Als er endlich vor ihm stand, fasste er ihn an, hielt sich an ihm fest, trat einige Meter zurück und schaute steil an ihm hoch. Ihm wurde schwindlig. Er griff sich an die Stirn, sank auf die Knie vor Erschöpfung. Eines Tages, hatte sein Vater gesagt, fiele der Cölner Dom um, er stehe auf Sand, die ganze Stadt sei dem Untergang geweiht. Passanten halfen Heinrich wieder auf die Beine, setzten ihm den Strohhut auf den Kopf, gingen weiter und drehten sich nicht nach ihm um. Er stand da, wusste nicht vor, nicht zurück.

Ein Zweispänner rasselte an ihm vorbei, ein Automobil röhrte über das Pflaster, ein Kutscher ließ seine Peitsche knallen, eine Straßenbahn quietschte um die Kurve, kam direkt auf ihn zu, an der Oberleitung sprühten die Funken. Er duckte sich, hielt sich die Ohren zu und lief weg. Nach wenigen Metern blieb er stehen, drehte sich um, der Koffer stand noch da, wo er ihn zurückgelassen hatte. Woher sollte er wissen, dass die Elektrische nicht auf ihn, sondern er auf sie achten musste?

Er traute sich nicht, jemanden zu fragen, mit welcher Linie, in welche Richtung er fahren müsse, um hinzukommen, wo er erwartet wurde. Klettenberg? Zoo-Flora? Nippes? Chlodwig-Platz? Ein Mann in Uniform – Pickelhaube auf dem Kopf, der Schnurrbart gezwirbelt, die Backen wie aufgeblasen – stellte sich vor ihm auf, schob eine Trillerpfeife zwischen seine Lippen und blies hinein. Der schrille Ton ließ Heinrich zusammenzucken. Und als wäre es damit nicht genug, herrschte die Pickelhaube ihn mit schneidender Stimme an. Er solle sich verdammt noch mal rühren, stehen bleiben sei hier lebensgefährlich. Dann, etwas leiser in der Stimme die Frage, was er denn da schon die ganze Zeit in der Hand festhalte, ob er ihm etwas verheimliche.

Gehorsam streckte Heinrich ihm einen abgegriffenen Zettel entgegen. Außer einer Adresse und einem Gruß stand darauf nichts. Mit dem Daumen wies der Schutzmann Heinrich den Weg. »Linie 5, zwanzig Pfennige, einfache Fahrt«, rief er noch hinterher, »sechs Stationen bis zum Ubier-Ring.« Dann steckte er wieder seine Trillerpfeife in den Mund. Es war dieses Mal kein lang gezogener Pfiff, kein befehlshaberischer Ton, sondern nur ein kurzes, helles, fast freundliches Piepen. An Blumenrabatten vorbei ging Heinrich geradeaus weiter, Richtung Rheinufer, zur Straßenbahnhaltestelle, wo einige Männer und Frauen, ohne miteinander zu sprechen, in einer Reihe standen und warteten, bis eine Elektrische quietschend heranfuhr.

Heinrich schaute zu, wie die Wartenden, einer nach dem anderen, in die Bahn stiegen, die rumpelnd davonfuhr. Heinrich blieb draußen stehen. Als sich die nächste Bahn eine halbe Stunde später näherte und sich schon wieder eine Warteschlange gebildet hatte, rückte er nach, ließ aber allen anderen den Vortritt. Niemand sollte beobachten, wie er sich beim Einsteigen anstellte. Keinen wollte er beim Hochschieben des Koffers inkommodieren. So musste er, weil im Inneren kein Platz für ihn war, außen, auf einem Trittbrett stehend, die Fahrkarte lösen und am Rhein entlang in den Süden der Stadt fahren. Seine linke Hand umklammerte eine kalte Eisenstange, den Koffer hatte er zwischen seine Beine geklemmt, direkt neben ihm stand der Fahrer. Es war die erste Straßenbahnfahrt seines Lebens.

Bald schaute er nicht mehr nur ängstlich nach unten zu seinem Koffer, er reckte sich nach den Dampfern auf dem Fluss. Als wären sie aneinandergekettet, lagen sie dicht an dicht am Ufer an. Er hatte noch nie echte Schiffe gesehen. In der Agger, dem schmalen Fluss seiner Kindheit, waren es Papierboote, denen er am Ufer, einen Stock in der Hand, nachgelaufen war, bis sie versanken.

Eine junge Frau stieg an der nächsten Haltestelle zu, schob sich hastig an ihm vorbei. Fast wäre sie auf seinen Fuß getreten. Er wollte sich nach ihr umdrehen. Dabei drückte sein Rucksack gegen ihre Schulter. Ihren Hut mit imposantem Blumenaufbau hielt sie fest, Heinrich blickte betreten zur Seite, dachte für eine Sekunde daran, seinen Strohhut zu ziehen und sich zu entschuldigen, tat dann aber doch so, als wäre ihm keinerlei Missgeschick unterlaufen. Auch die Frau verhielt sich so, als wäre nichts geschehen. Aber vielleicht hatte sie ihn überhaupt nicht bemerkt. Heinrich war erleichtert, als sie, ohne ihn mit Blicken zu strafen, nach nur zwei oder drei Haltestellen wieder ausstieg.

Am Ubier-Ring war er an der Reihe. Er versuchte, trotz seines schweren Gepäcks, so zügig auszusteigen, wie es die Frau vor ihm tat. Wegen seiner schmerzenden Ferse musste er immer langsamer gehen. Als er schließlich vor dem gesuchten Straßenschild stand, zog er seinen linken Schuh aus und steckte ihn in den Rucksack.

Seine zukünftige Zimmerwirtin hatte angeboten, ihn am Bahnhof abzuholen. Doch Heinrich hatte ihr ein Telegramm geschrieben, das sei nicht nötig, er werde den Weg schon alleine finden. Dass er zu Fuß von Engelskirchen nach Cöln gehen wollte, weil er Angst vor einer Fahrt mit der Eisenbahn hatte, teilte er ihr nicht mit.

Das Haus mit der Nummer 7 in der Teutoburger Straße stand in einer Reihe mit anderen Neubauten in gleichem Stil. Die Fassaden waren mit eingemeißelten Fratzen, Löwenköpfen, Frauengesichtern, Girlanden und Häuptern lockenmähniger Heroen verziert. Auf der vierten Etage ragte ein kleiner Balkon hervor, mit schmiedeeisernem Geländer. Linker Hand am Hauseingang ein Klingelschild, darauf die unterschiedlichsten Namen. Für jede Wohnung gab es einen eigenen Klingelknopf. Neben dem obersten stand nicht nur »Else Römer«, sondern auch, und das in Buchstaben von gleicher Größe, »Heinrich Karthaus« eingraviert. Offensichtlich sollte er sich in Cöln schnell zu Hause fühlen. Aber wer würde hier schon klingeln und zu ihm hochkommen wollen? Niemand kannte ihn in dieser Stadt. Trotzdem war er stolz. Sein Name auf einem Klingelschild! Nur der Theodor zwischen Heinrich und Karthaus fehlte. Zu Hause hatte es weder ein Klingelschild noch eine Klingel gegeben. Man wusste im Dorf, wer wo wohnte. Dort wurde an die Haustüre geklopft. Den Türklopfer hatte er selbst geschmiedet. Das Skelett seines Elternhauses bestand aus schwarzen, recht- und spitzwinklig verstrebten Holzbalken. Es war flach und schon sehr alt.

Heinrich klingelte. Er war sich unschlüssig, ob seine Zimmerwirtin herunterkommen und ihn abholen würde. Als zwei Jungen sich an ihm vorbeidrängelten, gab er sich einen Ruck und folgte ihnen einfach durch die Haustür. Sie nahmen drei Stufen auf einmal im Sturm durch das Treppenhaus, er duckte sich, blieb im Flur stehen und schaute sich um. Eine Lampe hing an drei Eisenketten von der hohen Decke herunter. Sie war aus Milchglas und hatte die Form einer übergroßen Salatschüssel. Die Wände im Hausflur waren bis auf Brusthöhe blaugrün gekachelt. Der Knauf auf der untersten Strebe des Treppengeländers hatte die Form einer Pickelhaube. Die Streben am Geländer waren gedrechselt.

Beim Hochgehen ließ Heinrich seine Finger über den blanken Handlauf gleiten. Auch er war aus dunkler Eiche. Sollte sich hier einer, mit den Füßen voran, bäuchlings auf den Handlauf legen, käme seine Rutschfahrt an der Pickelhaube zu einem schmerzhaften Ende. Die Stufen waren aus Stein, nicht aus Holz. Niemand im Haus würde von seinem Aufstieg etwas mitbekommen, kein Knarren würde ihn verraten, keiner würde sehen, dass er, Heinrich Theodor Karthaus, in den vierten Stock eines Hauses in Cöln am Rhein hinaufschritt, in sein neues Zuhause. Auf jedem Stockwerk blieb er stehen, stellte seinen Koffer kurz ab und atmete durch.

Die Wohnung lag im vierten Stock unter dem Dachboden. Else Römer erwartete ihn schon vor der Tür, stellte ihren Kopf ein wenig schief, betrachtete ihn mit einem Willkommenslächeln, streckte ihm beide Hände entgegen und bat ihn herein. »Was ist mit Ihrem linken Schuh?« – »Er steckt in meinem Rucksack.« – »Was ist passiert?« – »An meiner Ferse ist die Haut ab.« – »Wie konnte das geschehen?« – »Ich weiß auch nicht, der Weg war sehr lang.« – »Sind Sie etwa zu Fuß vom Bahnhof gekommen?« – »Nein, mit der Straßenbahn.«

Elses braunes Haar war an den Seiten eingerollt. Über ihrer hochgeschlossenen weißen Bluse, an der eine jadegrüne Brosche steckte, und ihrem dunkelroten, großzügig Falten werfenden Rock trug sie eine grau-schwarze, längs gestreifte Trägerschürze. Die Zimmerwirtin führte ihn durch die Wohnung. Ihr Rock war so lang, dass er beim Gehen über den Boden wischte. Die Wohnung bestand aus zwei Kammern, einer Wohnküche und...

Erscheint lt. Verlag 25.3.2019
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Antilärm-Verein • Aussteigerkolonie • Cöln am Rhein • Der Antirüpel • eBooks • Früh Brauhaus Köln • Käthe Kruse • Kölner Blumenspiele • Monte Verità Bewegung • Roman • Romane • Schweiz • unglückliche Liebe • vegetabile Cooperative
ISBN-10 3-641-20786-X / 364120786X
ISBN-13 978-3-641-20786-1 / 9783641207861
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
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