Das kalte Reich des Silbers (eBook)
633 Seiten
cbj (Verlag)
978-3-641-23560-4 (ISBN)
Mirjem ist die Tochter eines gutherzigen Pfandleihers, der es nicht über sich bringt, Schulden einzutreiben. Als die Familie deshalb bittere Armut leidet, tritt Mirjem an die Stelle ihres Vaters. Unnachgiebig fordert sie zurück, was ihr zusteht. Sie ist erfolgreich, und bald heißt es, sie könne Silber zu Gold machen. Die Kunde davon dringt bis tief in die Wälder, zum gefürchteten Volk der Staryk - magische Wesen, die mehr aus Eis bestehen als aus Fleisch und Blut. Der König der Staryk entführt sie in sein Reich. Dort soll sie für ihn Silber zu Gold machen. Tut sie das nicht, wird der Staryk sie töten. Doch gleichzeitig versinkt die Menschheit nun in Kälte ...
New-York-Times-Bestsellerautorin Naomi Novik ist in New York geboren und mit polnischen Märchen und den Büchern von J.R.R. Tolkien aufgewachsen. Mit ihrem Debüt, der Fantasyreihe »Die Feuerreiter seiner Majestät«, wurde sie weltbekannt. Inzwischen hat sie zahlreiche Preise erhalten, darunter 2016 den Nebula Award für »Das dunkle Herz des Waldes« und 2019 den Locus Award für »Das kalte Reich des Silbers«. Naomi Novik lebt mit ihrer Familie und sechs Computern in New York.
Kapitel 1
Die wahre Geschichte ist nicht halb so hübsch wie die, die man euch erzählt hat. Die wahre Geschichte geht so: Die Müllerstochter mit ihrem langen goldenen Haar will einen Adligen, einen Prinzen, zum Ehemann, den Sohn eines reichen Vaters. Also geht sie zum Geldverleiher und borgt sich genug von ihm, damit sie sich einen Ring und eine Halskette kaufen kann, um sich für das Fest auszustaffieren. Und sie ist schön genug, dass der Adlige, der Prinz, der Sohn eines reichen Vaters, auf sie aufmerksam wird und mit ihr tanzt. Und als der Tanz vorüber ist, lockt er sie in eine abgelegene Scheune. Danach kehrt er nach Hause zurück und heiratet die reiche Frau, die seine Familie für ihn ausgesucht hat. Die sitzen gelassene Müllerstochter erzählt jedem, dass der Geldverleiher mit dem Teufel im Bunde sei, und das Dorf jagt ihn davon oder steinigt ihn vielleicht sogar, sodass dem Mädchen zumindest der Schmuck als Mitgift bleibt. Und der Schmied heiratet sie, ehe das erste Kind ein wenig zu früh auf die Welt kommt.
Denn darum geht es in dieser Geschichte in Wahrheit: wie man es vermeidet, seine Schulden zu begleichen. Das wird normalerweise nicht erzählt. Ich aber weiß genau, wovon ich spreche. Mein Vater war nämlich ein Geldverleiher.
Er war nicht sehr gut darin. Wenn jemand seine Schulden nicht rechtzeitig beglich, dann erwähnte er es ihm gegenüber nicht einmal. Nur wenn unsere Schränke wirklich leer waren oder uns die Schuhe von den Füßen fielen, und wenn meine Mutter leise mit ihm sprach, nachdem wir zu Bett gegangen waren, dann machte er sich auf den Weg. Bedrückt brach er auf und klopfte an einige Türen, und es klang wie eine Entschuldigung, wenn er um einen Teil dessen bat, was man ihm noch zurückzugeben hatte. Wenn wir Geld im Haus hatten und jemand es leihen wollte, so hasste er es, ablehnen zu müssen, obwohl wir nicht mal genug für uns selbst hatten. Und so kam es, dass unser ganzes Geld, das zum größten Teil aus der Aussteuer meiner Mutter stammte, in den Häusern anderer Leute zu finden war. Allen anderen gefiel das gut, obschon sie wussten, dass sie sich schämen sollten, und so erzählten sie die Geschichte häufig, vor allem dann, wenn ich sie hören konnte.
Auch der Vater meiner Mutter war ein Geldverleiher, aber er war sehr erfolgreich in seinem Geschäft. Er lebte in Wisnja, vierzig Meilen die alte Handelsstraße mit den vielen Schlaglöchern hinunter, die sich von Dorf zu Dorf zog wie ein Seil voller kleiner, schmutziger Knoten. Mama nahm mich oft mit zu ihm, wenn sie ein paar Pfennige erübrigen konnte, damit wir hinten auf den Karren eines Hausierers oder auf einen Schlitten klettern konnten, der uns dorthin mitnahm. Unterwegs mussten wir uns oft fünf- oder sechsmal neue Mitfahrgelegenheiten suchen. Manchmal sahen wir kurz durch die Bäume hindurch die andere Straße, die den Staryk gehörte und die glänzte wie die Oberfläche des Flusses im Winter, wenn der Schnee davongeblasen worden war. »Sieh nicht hin, Mirjem«, pflegte meine Mutter zu sagen, aber ich spähte immer aus den Augenwinkeln und hoffte, sie nicht aus dem Blick zu verlieren. Doch wer auch immer den Wagen lenkte, trieb die Pferde an, bis die Straße wieder verschwunden war.
Einmal hörten wir Hufgetrappel hinter uns, das von der Straße der Staryk in den Wald wechselte, und es klang wie berstendes Eis. Unser Kutscher versetzte seinen Zugtieren einen raschen Schlag, um den Wagen hinter einen Baum zu lenken und dort zum Stehen zu bringen. Wir alle versteckten uns im Wagen zwischen den Säcken. Meine Mutter legte ihren Arm über meinen Kopf und drückte ihn nach unten, damit ich nicht in Versuchung geriet, doch einen Blick zu wagen. Sie ritten an uns vorbei, ohne haltzumachen. Wir saßen auf dem Karren eines Hausierers, voll mit matten Blechtöpfen, und die Ritter der Staryk hatten es einzig auf Gold abgesehen. Die Hufschläge verklangen und ein messerscharfer Wind blies über uns hinweg. Als ich mich wieder aufrichtete, war das Ende meines dünnen Zopfes mit Weiß überzogen, ebenso der Ärmel meiner Mutter, den sie um mich geschlungen hatte, und unser Rücken. Aber die Reifschicht verschwand nach und nach, und als sie nicht mehr zu sehen war, sagte der Hausierer zu meiner Mutter: »Nun, das war Rast genug, nicht wahr?«, als erinnerte er sich nicht mehr daran, warum wir angehalten hatten.
»Ja«, antwortete meine Mutter und nickte, als wüsste sie den Grund ebenso wenig, und der Fahrer kletterte wieder auf den Kutschbock, trieb die Pferde mit einem lauten Schnalzen an und nahm die Weiterfahrt auf. Ich war noch jung genug, um mich ein bisschen länger zu erinnern, und noch nicht alt genug, um mir über die Staryk ebenso viele Gedanken zu machen wie über die ständige Kälte, die durch meine Kleidung schnitt, und über das beißende Gefühl in meinem Magen. Ich wollte auf keinen Fall etwas sagen, was den Wagen wieder zum Stoppen bringen könnte, denn ich wartete ungeduldig darauf, endlich in der Stadt und bei meinen Großeltern zu Hause anzukommen.
Meine Großmutter hatte immer ein neues Kleid für mich, schlicht und in dunklem Braun, aber es war warm und gut gearbeitet. Außerdem bekam ich jedes Jahr ein neues Paar Lederschuhe, die nicht an meinen Zehen drückten und nicht voller Risse und Flicken an den Seiten waren. Sie sorgte dafür, dass ich mir dreimal am Tag den Bauch vollschlug, und am letzten Abend, ehe wir wieder aufbrachen, machte sie immer einen Käsekuchen – ihren Käsekuchen, der außen goldgelb gebacken und innen üppig gefüllt und weiß und krümelig war und ein kleines bisschen nach Apfel schmeckte. Gedeckt war er mit süßen, goldenen Rosinen. Nachdem ich langsam und genüsslich den letzten Bissen eines Stückes verzehrt hatte, das breiter als meine Handfläche gewesen war, wurde ich nach oben ins Bett geschickt, in das große, gemütliche Schlafzimmer, wo auch meine Mutter und ihre Schwestern als junge Mädchen geschlafen hatten, in dasselbe schmale Holzbett voller geschnitzter Tauben im Kopfteil. Meine Mutter setzte sich zu ihrer Mutter ans Feuer und lehnte ihren Kopf an deren Schulter. Sie sprachen nicht, aber als ich älter wurde und nicht mehr sofort einschlief, sah ich im Schein des Feuers, dass auf den Gesichtern beider Frauen dünne Tränenspuren glitzerten.
Wir hätten dortbleiben können. Es gab genug Platz im Haus meines Großvaters und wir waren willkommen. Aber wir kehrten immer wieder in unser eigenes Heim zurück, weil wir meinen Vater liebten. Er war schrecklich im Umgang mit Geld, aber er war unendlich warmherzig und gütig, und er versuchte, sein Versagen wiedergutzumachen. Beinahe jeden Tag war er von morgens bis abends in den kalten Wäldern unterwegs auf der Suche nach Nahrung und Feuerholz, und wenn er wieder zurück war, gab es nichts, was er nicht tat, um meiner Mutter zu helfen. In meinem Zuhause wurde niemals etwas als Frauenarbeit bezeichnet; wenn wir alle hungerten, dann darbte mein Vater am meisten, und verstohlen schob er Essen von seinem Teller auf unsere. Wenn er abends am Feuer saß, dann waren seine Hände immer in Bewegung und schnitzten ein neues kleines Spielzeug für mich oder irgendetwas für meine Mutter, wie eine Verzierung an einem Stuhl oder einen Holzlöffel.
Aber die Winter waren immer lang und bitter, und seitdem ich alt genug war, um mich daran zu erinnern, war jedes Jahr noch schlimmer als das Jahr davor. Unser Dorf war unbefestigt und praktisch namenlos; einige Leute behaupteten, es hieße Pakel, weil es nahe an der Straße lag. Aber jene, denen das nicht gefiel, weil es sie daran erinnerte, in der Nähe der Straße der Staryk zu wohnen, schrien sie nieder und behaupteten, das Dorf hieße Pavys, weil der Fluss nicht weit war. Niemand jedoch machte sich die Mühe, es auf einer Karte einzutragen, sodass niemals eine Entscheidung getroffen wurde. Wenn wir uns unterhielten, sprachen wir einfach nur von dem Dorf. Bei Reisenden war sie beliebt, denn man erreichte sie nach einem Drittel des Weges zwischen Wisnja und Minask, und ein kleiner Fluss kreuzte die Straße von Ost nach West. Viele Bauern brachten ihre Ware mit dem Boot, und so war immer eine Menge los an unserem Markttag. Mehr Bedeutung hatten wir allerdings nicht. Kein Lehnsherr kümmerte sich sonderlich um uns und dem Zaren in Koron waren wir völlig gleichgültig. Ich hätte nicht zu sagen vermocht, für wen der Steuereintreiber eigentlich arbeitete, bis ich einmal zu Besuch im Hause meines Großvaters war. Dort bekam ich zufällig mit, dass der Herzog von Wisnja zornig war, weil die Einkünfte aus unserem Dorf von Jahr zu Jahr geringer ausfielen. Die Kälte stahl sich immer früher aus den Wäldern und zehrte an unserer Ernte.
Und in dem Jahr, in dem ich sechzehn wurde, kamen auch die Staryk in der Woche, die die letzte des Herbstes sein sollte, noch ehe die ganze Gerste eingebracht war. Schon immer hatte die Suche nach Gold sie hin und wieder zu uns geführt, um uns auszuplündern; die Leute erzählten sich Geschichten von kurzen Blicken, die sie auf sie hatten werfen können und an die sie sich nur vage erinnerten, und an die Toten, die die Staryk zurückließen. Doch im Laufe der letzten sieben Jahre, während die Winter bitterer wurden, waren sie habgieriger geworden. Nun klammerten sich sogar noch ein paar Blätter an die Zweige der Bäume, als sie von ihrer Straße abbogen und ihren Weg auf der unsrigen fortsetzten. Sie ritten zu dem reichen Kloster am Ende der Straße, nur zehn Meilen von unserem Dorf entfernt, und dort töteten sie ein Dutzend Mönche und raubten die goldenen Kerzenleuchter und den goldenen Kelch und alle vergoldeten Ikonen. Diesen Goldschatz schleppten sie fort in das Königreich – wie auch immer es heißen mochte – am Ende ihrer eigenen Straße.
Der Boden gefror tief in jener Nacht, als sie...
Erscheint lt. Verlag | 4.3.2019 |
---|---|
Übersetzer | Marianne Schmidt |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Spinning Silver |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | ab 14 • Booktok • Coming of Age • Das dunkle Herz des Waldes • Der Prinz der Elfen • eBooks • Elfenfantasy • Fantasy • Fantasy Elfen • Feuerreiter • Feuerreiter seiner Majestät • High Fantasy • Holly Black • Jugendbuch • Jugendbücher • Liebe • Locus Award • Mädchen • Märchenmotive • mythopoeic award • New-York-Times-Bestseller • nominiert hugo award • nominiert nebula award • Phantastik-Bestenliste • spinning silver deutsch • Starke Frauen • starke Heldin • TikTok • tiktok made me buy it • Väterchen Frost • Young Adult |
ISBN-10 | 3-641-23560-X / 364123560X |
ISBN-13 | 978-3-641-23560-4 / 9783641235604 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |

Größe: 5,1 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich