Die Hölle ist leer - die Teufel sind alle hier (eBook)
368 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490172-5 (ISBN)
Gerhard Roth, geboren 1942 in Graz und gestorben im Februar 2022, war einer der wichtigsten österreichischen Autoren. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays und Theaterstücke, darunter den 1991 abgeschlossenen siebenbändigen Zyklus »Die Archive des Schweigens« und den nachfolgenden Zyklus »Orkus«. Zuletzt erschienen die drei Venedig-Romane »Die Irrfahrt des Michael Aldrian«, »Die Hölle ist leer - die Teufel sind alle hier« und »Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe«. Sein nun letzter Roman »Die Imker« ist im Mai 2022 erschienen. Literaturpreise (Auswahl): Preis der »SWF-Bestenliste« Alfred-Döblin-Preis Marie-Luise-Kaschnitz-Preis Preis des Österreichischen Buchhandels Bruno-Kreisky-Preis 2003 Großes Goldenes Ehrenzeichen der Stadt Wien 2003 Jakob-Wassermann-Preis 2012 Jeanette-Schocken-Preis 2015 Jean-Paul-Preis 2015 Großer Österreichischer Staatspreis 2016 Hoffmann-von-Fallersleben-Preis 2016
Gerhard Roth, geboren 1942 in Graz und gestorben im Februar 2022, war einer der wichtigsten österreichischen Autoren. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays und Theaterstücke, darunter den 1991 abgeschlossenen siebenbändigen Zyklus »Die Archive des Schweigens« und den nachfolgenden Zyklus »Orkus«. Zuletzt erschienen die drei Venedig-Romane »Die Irrfahrt des Michael Aldrian«, »Die Hölle ist leer – die Teufel sind alle hier« und »Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe«. Sein nun letzter Roman »Die Imker« ist im Mai 2022 erschienen. Literaturpreise (Auswahl): Preis der »SWF-Bestenliste« Alfred-Döblin-Preis Marie-Luise-Kaschnitz-Preis Preis des Österreichischen Buchhandels Bruno-Kreisky-Preis 2003 Großes Goldenes Ehrenzeichen der Stadt Wien 2003 Jakob-Wassermann-Preis 2012 Jeanette-Schocken-Preis 2015 Jean-Paul-Preis 2015 Großer Österreichischer Staatspreis 2016 Hoffmann-von-Fallersleben-Preis 2016
I Die Einsamkeit des Strandläufers
Jeden Morgen ging Lanz zum Strand und spazierte vom aufgelassenen Marine-Hospital, in dessen Nähe er wohnte, bis zum Hotel Excelsior und wieder zurück. »Ich versäume mein Leben«, dachte er, während er ging, »ich lebe nicht. Ich verhalte mich wie ein Fisch in einem Aquarium, der still im Wasser steht und darauf wartet, was geschieht.« Doch es geschah nie etwas, weil er der einzige überlebende Fisch im Wasserbehälter war. Alle anderen waren erschlagen und verspeist worden. Der Anblick und der Lärm der unbekannten Wesen, die er durch die Glasscheiben des Aquariums sah, verbanden ihn als Einziges mit der Außenwelt. Und da eine Woche der anderen glich, lebte er jeden Tag, als ob es sein letzter wäre.
Fast immer hielt er Ausschau nach Strandgut, er fand verschiedene Muscheln und Schneckenhäuser, ein vom Meerwasser glatt poliertes Stück Glas, ein abgeschliffener Stein oder kleine, wie von Ebbe, Flut und Salz gedrechselte Reste von Zweigen und Ästen. Manchmal stieß er auf noch lebende oder bereits tote Tiere: Krabben, aber auch Fische und mitunter sogar eine tote Möwe. Unübersehbar waren jedoch die Reste von Nylonsäcken, Plastikflaschen, zerdrückten Trinkbechern und Zigarettenstummeln. Es war zumeist so früh am Morgen, dass er kaum jemandem begegnete, bis auf Männer und Frauen mit Hunden. Nur selten ergab sich ein Gespräch. Im Winter war er einem mageren, seltsamen Trompetenspieler begegnet, der sich vor das offene Meer gestellt und kläglich auf seinem Instrument geübt hatte.
Doch vor einigen Wochen hatte er ein totes Flüchtlingskind, das am Strand angeschwemmt worden war, gefunden. Zuerst hatte er gedacht, es handle sich um ein Gepäckstück, als er dann näher kam, glaubte er, es sei ein totes Tier, aber zuletzt sah er, dass es ein kleines afrikanisches Mädchen war. Das Kind lag seitlich, leicht gekrümmt vor ihm, das Gesicht war aufgeschwemmt, der Mund halb geöffnet, eine Hand deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger zum Meer hin. Dort entdeckte Lanz jedoch nichts, er sah nur das Entstehen und Vergehen der Wellen, die weiter draußen ein leises, dumpfes Brausen erzeugten und schmatzend am Strand ausliefen. Das Mädchen war barfuß, trug ein rotes T-Shirt sowie einen kleinen Ohrring aus Silber und an den Beinen die Reste einer Jeanshose. Neben dem Kopf und einem seiner Knie befand sich ein Bündel Algen. Während er dastand und das Kind anstarrte, dachte er an nichts. Er hörte nicht mehr die Wellen rauschen oder das Schreien der Möwen, seine ganze Aufmerksamkeit richtete sich jetzt auf den Anblick des toten Mädchens. Plötzlich stand ein bellender Hund neben ihm und beschnupperte – heftig mit dem Schwanz wedelnd – den Leichnam, dann fing er zu bellen an und hörte auch nicht auf, als die Besitzerin, wie er hörte, ihm von weitem befahl zurückzukommen. Lanz drehte sich um, da der Hund – ein schwarz-weiß gefleckter Border Collie – inzwischen ein paar Sprünge in ihre Richtung gemacht hatte. Doch sogleich beeilte sich das Tier, noch immer bellend, zu dem Mädchen zurückzukehren, vor dem es außer sich weiter Laut gab, bevor es aufgeregt zu der älteren Frau in einer Windjacke zurücksprang, abermals kehrtmachte und wieder zum toten Mädchen lief. Lanz stellte fest, dass die Frau ebenso außer sich war wie ihr Border Collie. Sie schrie den Hund an, doch er ließ sich nicht beruhigen.
Gerade als Lanz etwas sagen wollte, erschien ein Polizist, der, nachdem er sich zum Mädchen hinuntergebeugt hatte, die Frau aufforderte, sich mit ihrem Hund zu entfernen und vor den Duschen zu warten. Lanz hatte vergessen, dass er selbst die Polizei über sein Handy angerufen hatte, jetzt fiel es ihm plötzlich wieder ein. Während der Beamte Lanz befragte, eilten weitere Polizisten und Männer in Zivil herbei, begannen die Umgebung nach Spuren abzusuchen und die Tote zu fotografieren. Nach einer halben Stunde durfte er gehen, behielt aber das Geschehen die ganze Zeit über im Kopf.
Am nächsten Tag hatte Lanz keinen Bericht in den Zeitungen entdeckt und auch nicht am folgenden. Erst eine Woche später las er, dass ein totes Mädchen »vor einigen Tagen in der Lagune« aufgefunden worden sei und man annehme, es gehöre zu den illegalen Afrikanern, die am Strand Hand- und Badetücher verkauften oder gefälschte Rolex- und IWC-Uhren anboten. Auch später fand er keine weiteren Meldungen mehr darüber. Offenbar befürchtete man einen Schaden im Tourismusgeschäft, überlegte Lanz.
Einige Male war er bei Einbruch der Nacht am Strand spazieren gegangen. Es war schon warm, und er sah einen Mann und eine Frau, die sich im Halbdunkel auf einer Luftmatratze umarmten. Die Frau gab leise klagende Laute von sich, der Mann keuchte heftig. Lanz konnte nur ein weißes, sich bewegendes Hemd und die aufgestellten Beine der Frau erkennen. Als er weiter ging, bildete er sich ein, auch blonde, lange Haare gesehen zu haben und die heruntergezogenen Jeans des Mannes auf dessen Unterschenkeln. Rasch war er zum Wasser hin abgebogen.
Einige Abende später fiel ihm ein Paar auf, das sich stehend an einer der weißen Strandkabinen vereinigt hatte und stumm miteinander zu ringen schien. Daraufhin spazierte er erst wieder am frühen Morgen den Strand entlang. Einmal bemerkte er bei seiner Rückkehr, dass nicht wie gewohnt der serbische Briefträger seine Post zustellte, sondern ein Afrikaner. Auf Lanz’ fragenden Blick gab er ihm zu verstehen, dass von nun an er die Briefe und Pakete bringen würde. Lanz bot dem Briefträger eine Dose Coca-Cola an, die er schweigend und hastig leerte. Sein Name war, erfuhr Lanz, Samuel Goodluck Oboabona. Er sprach Englisch und Italienisch, doch wollte er nicht über seine Heimat Nigeria sprechen, auch nicht über seine Flucht – nur über seine Angehörigen zu Hause. Lanz hatte den Eindruck, ihn schon einmal gesehen zu haben, bis ihm einfiel, dass es am Strand gewesen war, wo der Briefträger damals als Verkäufer gefälschte Marken-Damenhandtaschen angeboten hatte. Jetzt hatte er sein Haar blond gefärbt, es war auch anders geschnitten als früher, vor allem aber waren die Schläfen glatt rasiert.
Bevor der Afrikaner ihn wieder verließ, fiel Lanz das tote Mädchen am Strand ein, und er fragte ihn, ob er etwas von dem Vorfall wisse. Oboabona schluckte, seine Augen suchten Halt, und er stammelte, dass es die Tochter eines Freundes sei, der mit ihr am Abend in der Dunkelheit den Strand aufgesucht hatte. Tränen traten in seine Augen, und er drehte sich abrupt um. Lanz verabschiedete ihn flüchtig, blickte zum Fenster hinaus und sah ihn gleich darauf mit seinem Moped und dem Postkarren am Gartentor der gegenüberliegenden Villa läuten.
Bis zum Abend übersetzte Lanz dann weiter »Gullivers Reisen« aus dem Englischen ins Italienische und las anschließend seine Übersetzung von Anfang an durch: wie das Schiff mit Namen »Antilope« am 5. November 1699 auf der Fahrt nach Ostindien an einem Felsenriff zerschellte, das Rettungsboot kenterte und der überlebende Gulliver schließlich als Einziger schwimmend an einen Strand gelangte, wo er erschöpft einschlief. Da der Vorname des jungen Mannes Lemuel war, dachte Lanz immer wieder an den Briefträger, der mit Vornamen Samuel hieß, und das ertrunkene Mädchen. Lanz hatte »Gullivers Reisen« schon als Kind in einer gekürzten und illustrierten Ausgabe gelesen. Beim Übersetzen sah er die bunten Zeichnungen immer wieder vor sich, abwechselnd mit den Illustrationen von Grandville aus dem Exemplar, das er beim Studium der englischen Sprache verwendet hatte. Es war wunderbar, fand Lanz, dass Gulliver aus dem Meer an eine fremde Küste gespült wurde und – erschöpft vom heißen Wetter und einer Pinte Branntwein, die er getrunken hatte, bevor er das sinkende Schiff verließ – eingeschlafen war. Von da an hatte der Autor Jonathan Swift nämlich alle Möglichkeiten einer phantastischen Reise in der Hand gehabt. War sie nur ein Traum gewesen? War Gulliver aufgrund seiner seltsamen Erlebnisse verrückt geworden? War alles nur eine aus Seemannsgarn gesponnene Lügengeschichte? Oder beruhte sie tatsächlich auf Wahrheit, wenn auch nur in einem übertragenen Sinn?
Lanz klappte seinen Laptop zu und verließ das Haus. Er ging die Uferpromenade, den Lungomare Gabriele D’Annunzio, mit den Bänken zwischen den Bäumen hinunter bis zur Hauptstraße, der Gran Viale Santa Maria Elisabetta, setzte sich vor einem Imbissladen auf einen der am Gehsteig bereitgestellten Stühle und erhielt das gewünschte Glas Merlot, eine Pizza Margherita und ein freundliches Wort des Lokalbesitzers. Sie sprachen nie miteinander, weil Lanz immer in Gedanken war, wenn er dort eine Pause machte. Nur am Anfang, als er bereits eine ganze Woche lang Pizza, Spaghetti, Lasagne oder Brötchen mit Stockfischmus gegessen und dazu Merlot getrunken hatte, hatte der Lokalbesitzer sich ihm namentlich und mit der Bitte vorgestellt, ihn Giuseppe zu nennen, und als Lanz nach seinem Vornamen Emilio, wie er in Italien hieß, den Familiennamen »Lanz« hinzugefügt hatte, hatte Giuseppe scherzhaft ausgerufen: »Ah! Mario Lanza!« Daraufhin hatte Lanz die Pizzeria vierzehn Tage nicht mehr betreten, und beim nächsten Mal hatte Giuseppe ihn laut als »Signor Lanz« begrüßt, um ihm zu zeigen, dass er ihn respektierte. Das blieb auch bei allen weiteren Besuchen so, manchmal nickten sie einander überhaupt nur kurz zu.
Diesmal hatte Giuseppe ihm rasch ein zweites Glas Merlot serviert, »auf Kosten des Hauses«, wie er bemerkte. Nach der Mahlzeit ging er müde nach Hause. Den ganzen Weg stellte er sich vor, Gulliver zu sein, der auf der Insel...
Erscheint lt. Verlag | 24.4.2019 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Anspruchsvolle Literatur • Burano • Die Imker • Die Irrfahrt des Michael Aldrian • Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe • Gerhard Roth • Kriminalroman • Lido • Migration • Mord • Murano • Selbstmord • Spannung • Torcello • Venedig |
ISBN-10 | 3-10-490172-4 / 3104901724 |
ISBN-13 | 978-3-10-490172-5 / 9783104901725 |
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